Nach Ende der konstituierenden Sitzung unseres Tutorats nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Ich ging schnurstracks auf Yasemin zu und fragte sie, ob sie noch Lust habe, den ersten Studientag bei einer Tasse Kaffee ausklingen zu lassen. „Wir werden uns ja ab jetzt im Tutorat und im Studium oft über den Weg laufen. Da wäre es doch schön, wenn wir uns bei einem Kaffee etwas näher kennenlernen könnten.“, warb ich um ihr Interesse. Ich hätte mir nie verziehen, wenn ich bei Yasemin die Gelegenheit nicht beim Schopfe gepackt hätte. Bestimmt würden viele Jungs in nächster Zeit Yasemin anbaggern. Und denen wollte ich nicht kampflos das Feld überlassen.
Yasemin strahlte mich mit ihren dunklen Augen durch ihre Brillengläser an und sagte: „Das ist sehr freundlich von Dir, dass Du gerade mich fragst. Willst Du nicht mit Deinen Freunden zusammen sein?“
Nein, das wollte ich nicht, jedenfalls nicht, solange ich die Chance hatte, mit Yasemin Kaffee trinken zu gehen. „Die sehe ich andauernd“, erwiderte ich. „Du bist jetzt meine neue Kommilitonin in der Tutorengruppe, und ich möchte gerne mehr über Dich wissen. Komm, lass uns keine Zeit versäumen, solange in der Cafeteria noch Platz frei ist.“
„Na denn“, sagte Yasemin, „aber nur eine halbe Stunde, denn ich habe meinen Eltern versprochen, frühzeitig zurück zu sein.“
Mein Herz hüpfte. „Der erste Schritt ist getan!“, dachte ich und ging voran. Nach wenigen Minuten saßen wir an einem freien Tischchen in der Cafeteria und hatten jeder einen großen Milchkaffee vor uns stehen.
„Wo wurdest Du denn in der Türkei geboren?“, begann ich das Gespräch. Yasemin erklärte: „Also, meine Familie stammt aus der Osttürkei, aus einem Dörfchen in der Nähe von Van, an dem gleichnamigen See. Dort, wo alle paar Jahre die Erde bebt und ganz viel kaputt geht. Die Menschen sind da sehr arm. Mein Vater ist daher schon vor langer Zeit nach Deutschland gekommen. Er hat einen Job beim Daimler in Sindelfingen. Meine Mutter blieb in der Türkei wohnen, weil ihr von den deutschen Behörden der Familiennachzug lange verweigert wurde. Daher wurde ich in Van zur Welt gebracht. Aber vor 15 Jahren durften wir endlich nach Deutschland einreisen und leben seitdem in Böblingen.“
„Du wohnst noch zuhause?“, fragte ich Yasemin. Sie antwortete: „Ja, das ist auch gut so, denn meine Eltern haben nicht das Geld, meine fünf Brüder zu ernähren und auch noch mir eine eigene Wohnung zu spendieren. Ich habe nicht mal ein eigenes Zimmer, sondern wohne mit meinem kleinsten Bruder zusammen in einem Raum.“
„Ist ja krass“, sagte ich etwas verlegen. Ich konnte mir solche beengten Verhältnisse schwer ausmalen.
„Aber weißt Du, Marcus“, fuhr Yasemin fort, „das ist alles nicht schlimm. Meine Eltern machen mir das Studium möglich. Das rechne ich Ihnen hoch an. Sie haben mich in vielen Dingen liberal erzogen. Entgegen der Tradition haben sie mich auch nie gedrängt, das Kopftuch zu tragen. Das habe ich nur an, wenn wir in der Türkei zu Besuch sind. Ich bin ihnen so, so dankbar für alles, was sie für mich tun.“
Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke und sie schaute mir durch die Brillengläser intensiv in die Augen. Ich meinte, in ihrem Blick Neugier und Sympathie zu erkennen. Also wechselte ich das Thema und sprach Yasemin auf ihre Brille an. „Du hast einen megaguten Brillengeschmack! Ich muss Dir da ein großes Kompliment machen. Sie steht Dir fabelhaft.“
Ein Strahlen ging über Yasemins Gesicht. Sie griff zum rechten Brillenbügel und rückte ihr Brillengestell auf der Nase zurecht. „Schön, dass Du das sagst und Dir meine Brille gefällt. Ich mag sie auch sehr gerne. Mehr noch: Ich liebe meine Brille. Sie gehört zu mir und macht mich besonders. Mit ihr kann ich so wirken, wie es mir gefällt. Und Yasemin gibt es nur mit Brille!“
So klare Worte hatte ich nicht erwartet. Das war ja für mich wirklich das Sahnehäubchen auf dieser Schönheit Yasemin.
„Weißt Du“, fuhr Yasemin fort, „ich wollte schon in der Pubertät gerne eine Brille haben. Warum kann ich Dir gar nicht sagen, es war einfach so. Meine Eltern wollten mit mir aber nicht zum Optiker gehen, weil ihnen die Kosten Angst machten. Also habe ich gejobbt und gespart. Und vor einem Jahr war ich dann bei einer Optikerin. Sie hat einen Sehtest gemacht und eine sehr geringe Weitsichtigkeit von +0,5 Dioptrien gemessen. Sie meinte, das gehe in meinem Alter zwar auch noch ohne Korrektur. Aber ich solle mir doch eine Brille zulegen, die ich bei Bedarf aufziehen könnte. Ja, und den Bedarf fühlte ich ja schon lange. Ich wollte ja eine Brille. Und eine Woche später war sie da. Seitdem trage ich sie von morgens bis abends und bin glücklich damit. Und ich habe plötzlich keinerlei Kopfschmerzen mehr. Also brauche ich sie vielleicht sogar ein wenig mehr als gedacht.“
„Also, ich bin begeistert. Du bist eh superhübsch. Aber Deine Brille ist das Sahnehäubchen“, gestand ich. Yasemin grinste: „Sahne schlecken ist aber tabu!“
Yasemin sah auf die Uhr. „Oh, in fünf Minuten muss ich los. Wir haben zuhause viel zu besprechen und vorzubereiten. Denn in zwei Wochen heirate ich.“
Ich sackte in mich zusammen. „Die scharfe Sahneschnitte ist schon vergeben“, durchfuhr mich die Botschaft wie ein Stromschlag.
„Ich bin dann mal die nächsten drei Wochen weg“, setzte Yasemin fort, „denn die Hochzeit feiern wir in der Türkei. Mein künftiger Mann lebt zwar in Berlin, aber wegen unserer großen Verwandtschaft finden die Feierlichkeiten am Vansee statt. Arif arbeitet als Lokomotivführer im Rangierdienst bei der Deutschen Bahn in Brandenburg. Wir werden die erste Zeit noch nicht zusammenziehen können. Er ist übrigens ein entfernter Cousin von mir. Meine Eltern haben ihn mir empfohlen. Wenigstens eine Tradition solle ich doch fortführen, baten sie mich: Die Familien bestimmen in der Osttürkei traditionell über eine Eheschließung. Nachdem meine Eltern so viel für mich getan haben, wollte ich ihnen diesen Wunsch nicht abschlagen.“ Ich war sprachlos.
„So, ich muss dann mal los!“ Yasemin packte ihre Tasche. „Dir noch einen schönen Abend. War nett, mit Dir zu reden.“ „Dir auch! Und eine schöne Hochzeit wünsche ich Euch!“
Ich saß noch eine Weile in der Cafeteria und schaute in die Luft. Sollte ich denn nie Glück haben und meine Traumfrau finden?