Paula schrieb weiter:
Meine Grundschulzeit verlief erstaunlich problemlos. Meine Lehrerinnen und Lehrer wussten Bescheid, dass ich schwerhörig war und Hörgeräte trug. Sie bemühten sich um deutliche Aussprache. Ich durfte ihnen ein Zeichen geben, wenn ich etwas nicht verstand.
Auch wurde ich in der Grundschule von meinen Mitschülern selten wegen der Hörgeräte gehänselt. Das lag vor allem auch daran, dass ich meine langen roten Haare offen trug. Dadurch fielen die damals noch klobigen Hörgeräte hinter meinen Ohren nicht so sehr auf.
Nach der Grundschule wechselte ich auf das Messkircher Gymnasium. Meine Schwerhörigkeit blieb in der Klasse nicht verborgen. Vor allem hatte ich inzwischen meine Haare meist zum Pferdeschwanz gebunden, weil sie beim Lesen und Schreiben sonst zu sehr störten. Dadurch waren die Hörgeräte in ihrer ganzen „Pracht“ zu sehen.
Ein Mitschüler hatte es von Anfang an darauf abgesehen, mich mit kleinen Gemeinheiten zu überziehen. Er fragte mich, für alle hörbar: „Paula, bist Du eine Taube?“ Oder er rief, wenn ich ins Klassenzimmer kam: „Oh, da kommt unsere Taube wieder angeflogen.“ Ich tat immer, als ob ich nichts gehört hätte. Aber ich bekam jedes Mal einen Stich ins Herz.
Eine Mitschülerin nannte mich gegenüber anderen in der Klasse „die taube Hexe“ und „der taube Rotfuchs“. Einmal kam es auf den Schulhof zum Eklat. Eine andere Mitschülerin, sie war einen Kopf größer und viel kräftiger gebaut als ich zu dieser Zeit, nahm mich in den Schwitzkasten und riss mir die beiden Hörgeräte aus meinen Ohren. Dann schrie sie über den Hof: „Schaut mal, ich habe Paulas Hörrohre geklaut.“ Sie kam sich dabei offenbar bärenstark und mutig vor. Ich rannte hinter ihr her, konnte sie aber nicht einholen. Nach der Pause gab sie mir gönnerhaft die Hörgeräte zurück. Ich setzte sie wieder ein – und hörte nichts. Ich musste feststellen, dass sie mir die Batterien aus den Geräten entfernt hatte. Den Rest des Tages saß ich taub und stumm im Unterricht. Ich hoffte nur, möglichst bald wieder nach Hause zu kommen, um neue Batterien einsetzen zu können.
Meine Eltern nahmen Kontakt mit der Klassenlehrerin auf, die wiederum die Eltern der Mitschülerin ansprach. Die Mitschülerin bekam von ihren Eltern zwei Wochen Hausarrest. Doch seitdem hatte ich den Spitznamen „taube Petze“, wenn sie mich sah.
Wenn ich morgens aufwachte, hatte ich meistens keine Lust auf Schule. Nicht weil ich den Unterricht nicht mochte. Im Gegenteil: Lernen machte mir Spaß und ich kam auch gut voran. Aber ich hatte keine Lust auf meine Klasse. Schlimm waren nicht nur die, die mich verhöhnten. Schlimm war auch, dass nicht ein einziges Kind zu mir hielt. Ich fühlte mich verlassen in der Schule.
Inzwischen war ich in die sechste Klasse versetzt worden. Nach den Sommerferien, die ich mit meiner Schwester Carla und meinen Eltern genossen hatte, hatte ich wenig Lust, ans Gymnasium zurückzukehren.
In den ersten Wochen nach Ferienende spürte ich, dass ich immer müder und antriebsloser wurde. Auch war mir immer öfter schwindlig und übel. Ich schob es auf meine Unlust, in die Schule zu gehen. Meine Eltern waren zunehmend besorgt, was mit mir los sein könnte.
An einem Sonntag beim Mittagessen der Familie fiel meiner Mutter auf, dass ich in kurzer Zeit schon die zweite Literflasche Fanta ausgetrunken hatte. „Ich habe halt starken Durst“, rechtfertigte ich mich bei meiner Mutter. „Ich habe diese Woche schon zum zweiten Mal eine Kiste Fanta für Dich gekauft“, stellte meine Mutter mit ernster Miene fest. „Dein Verbrauch ist ganz schön in die Höhe gegangen. Da ist es auch kein Wunder, dass Du ständig aufs Klo rennst.“
Mein Vater stellte lapidar fest: „Das ist nicht normal. Das muss untersucht werden.“ Er schickte mich daraufhin zum Hausarzt, weil er sich ernsthafte Sorgen um meinen aktuellen Zustand machte.
Dann folgte die Schockdiagnose: Ich hatte horrend hohe Blutzuckerwerte. Bei mir war Diabetes Typ 1 ausgebrochen. Der Hausarzt wies mich umgehend in das Sigmaringer Kreiskrankenhaus ein, damit ich dort „eingestellt“ würde, wie er formulierte. Man müsse jetzt schnell handeln, bevor ich größere Komplikationen erleiden könnte.
Für meine Eltern und für mich brach erneut eine Welt zusammen. In unserer Familie hatte niemand Diabetes. Mein Vater hat erst einmal gegoogelt: Bei Diabetes Typ 1 hat die Bauchspeicheldrüse dauerhaft aufgehört, Insulin zu produzieren. Der Körper braucht dieses Hormon aber, um die Körperzellen mit Nährstoffen zu versorgen. An Diabetes leidende Menschen müssen daher dem Körper stets die benötigte, richtige Menge an Insulin von außen zuführen. Dann kam das bittere Fazit: Diabetes Typ 1 ist eine chronische Krankheit, die einen Menschen bis zu seinem Ende begleitet. Ich würde diesen Diabetes nie wieder loswerden.
Ein Krankenhausaufenthalt war etwas Neues für mich. Ich lag mit einer Auszubildenden auf dem Zimmer, bei der man auch gerade Diabetes Typ 1 diagnostiziert hatte. Wir konnten uns also gegenseitig moralisch aufbauen.
Die Stationsschwester wies mich in die Handhabung des Insulin-Pens ein. Mit dem Pen spritzt man die benötigte Menge über eine Nadel unter die Haut. Ich lernte, dass ich mir im Verlauf des Tages mindestens fünf Spritzen setzen muss. Zwei Spritzen morgens und abends mit einem sog. Langzeitbasisinsulin, und jeweils eine Spritze vor den drei Hauptmahlzeiten mit einem sog. Essensinsulin, das kurzfristig wirkt.
Zusätzlich wurde ich in den Vorgang der Blutzuckermessung eingewiesen. Mehrfach täglich musste ich mir mit einer Lanzette in einen Finger stechen und den entstehenden Blutstropfen auf einen Teststreifen auftragen. Ein dazugehöriges Gerät gab dann den Zuckergehalt im Blut auf dem Display aus. Anhand der Werte konnte ich auch feststellen, ob ich evtl. einer Unter- oder Überzuckerung entgegensehe. Beides, so lernte ich, gilt es unbedingt zu vermeiden. Denn im Extremfall kann eine zu große Abweichung nach unten oder oben zu Bewusstlosigkeit und sogar zum Tod führen.
Am Anfang hatte ich große Probleme mit meiner Angst vor den Nadeln und der Lanzette. Es kostete mich erhebliche Überwindung, mich selbst in einen Finger zu stechen, um den notwendigen Blutstropfen zu gewinnen. Genauso schwierig empfand ich es, mir eine vier Millimeter lange Nadel in die Bauchdecke oder den Oberschenkel zu stechen. An den ersten Tagen zählte ich von zehn herunter bis null, um dann bei null zuzustechen. Oft kam bei mir nach der eins wieder die zehn statt der null. Ich musste mich überwinden lernen.
Doch schnell gingen die Vorgänge in Fleisch und Blut über. Pro Monat mindestens einhundertfünfzigmal in den Finger und mindestens ebenso oft die Spritzennadel in Bauch oder Schenkel stechen, das ging mir schnell gut von der Hand. Meine Eltern waren stolz auf mich, dass ich es meist ohne ihre Hilfe meistern konnte. Und mit der Einstellung „was muss, das muss“ lernte ich Disziplin im Umgang mit meiner Krankheit.
Auch meine Ernährung musste ich dem Diabetes anpassen. Mit Kohlehydraten musste ich bewusst vorsichtig umgehen. Ich musste lernen, die Insulindosis an die Menge der gegessenen Kohlehydrate anzupassen. Meine Eltern und meine ältere Schwester halfen mir tatkräftig dabei, wenn es zum Beispiel darum ging, die Kartoffeln auf meinem Teller vorher zu wiegen. Auf Zuckerhaltiges sollte ich möglichst verzichten, also Schokolade, Eis und Nachtische gab es allenfalls nur in kleinsten Mengen und unter Anrechnung auf die Insulindosis.
Mein Alltag war mit einem Schlag um ein Vielfaches beschwerlicher geworden. Aus mir war ein nicht nur schwerhöriges, sondern jetzt auch zuckerkrankes Mädchen geworden. Beide Gebrechen würden mich lebenslang begleiten. Auch eine Elfjährige musste das psychisch erst einmal verkraften.
Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus dauerte es noch zwei Wochen, bis ich von meinen Eltern wieder in die Schule geschickt wurde. Denn ich musste erst einmal meine neuen Tagesabläufe üben, mit den Blutzuckermessungen, Spritzen und genau geplanten Mahlzeiten.
Zurück in der Klasse erläuterte die Klassenlehrerin meinen Mitschülerinnen und Mitschülern, dass ich nun Diabetikerin sei. Sie erklärte das Krankheitsbild und verdeutlichte der Klasse, dass ich aus Therapiegründen etlichen Einschränkungen unterworfen sei. Sie bat die Klasse auch, besondere Rücksicht auf mich zu nehmen und bei Anzeichen, dass es mir schlecht geht, sofort eine Lehrkraft zu informieren, die dann alles Weitere veranlassen würde.