Das zweite Fachsemester hatte begonnen. Es war schon fast ein halbes Jahr her, dass ich Paula kennen- und schätzen gelernt hatte. Ich verbrachte viel Zeit mit Paula. Mit Tom und Alicia war ich zunehmend seltener zusammen.
Ich lernte mit Paula gemeinsam. Wir verbrachten die Samstage und manchmal auch die Sonntage meist in der freien Natur, bei Wind und Wetter. Nur Freitagabend hatte sie nie Zeit: Sie ging einem 450-Euro-Job nach, wie sie sagte. Ich fühlte mich wohl, wenn ich mit Paula etwas unternehmen oder auch nur mit ihr zusammen sein konnte. Ich war mit Paula einem Menschen begegnet, der mir, wie ich glaubte und fühlte, richtig guttat.
Am Ende der Osterferien schlenderten wir zum Einkaufen durch die Reutlinger Innenstadt. Paula brauchte Klamotten für das begonnene Frühjahr. Ich wollte endlich einmal richtige Wanderschuhe haben.
Da sah ich bei der in der Stadt ansässigen Filiale einer Optikerkette ein großes Plakat hängen: „Sehtestwochen – kostenloser Sehtest“. „Schau mal dort“, sagte ich zu Paula, „das ist eine gute Gelegenheit, dass wir einmal Deine Augen überprüfen lassen. Mir ist immer wieder aufgefallen, wie oft Du die Augen zusammenkneifst, wenn Du in die Ferne schaust. Und denke an unser Erlebnis im letzten Herbst, als Du den Storch oder Reiher auf dem Strommast nicht gesehen hast.“
„Marcu-tss, ich mag nicht. Ich will keine Brille. Und dann i-tss-t e-tss auch nicht wichtig, da-tss ich einen Tss-ehte-tss-t mache“, protestierte Paula gegen meinen Vorschlag.
„Paulchen“, so nannte ich Paula inzwischen gerne, „ob Du eine Brille brauchst, werden wir ja sehen. Aber nur mit dem Test wissen wir sicher, ob Du gesunde Augen hast oder nicht. Blicke doch einfach der Wahrheit ins Gesicht und lass Dich testen!“
„Als-tss-o, ich finde, ich tss-ehe gut. Und daher brauche ich keinen Te-tss-t.“ Paula hatte inzwischen einen ängstlichen Gesichtsausdruck angenommen. „Marcu-tss, ich habe Ang-tss-t vor einer Brille!“
„Jetzt stell Dich nicht so an, Paulchen“, blieb ich hartnäckig. „Schlecht sehen ist ein Risiko im Alltag. Wir wollen doch nicht, dass Dir etwas passiert. Und eine Brille, wenn Du sie brauchen solltest, ist nichts Schlimmes. Mit ihr siehst Du wieder scharf. Und ich bin sicher, Du siehst mit einer Brille auch scharf aus!“
„Nein, Marcu-ts, da-tss tss-ind alle-tss nur leere Worte.“ Paula war unwillig. „Eine Brille i-tss-t ein Makel. Da bei-tss-t die Mau-tss keinen Faden ab. Und Mäkel habe ich schon genug an mir!“
„Lass uns einen Deal machen, Paulchen!“, schlug ich vor. „Ich komme mit und lasse mich auch testen. Geteiltes Leid ist halbes Leid! Ich hätte nämlich kein Problem, wenn herauskäme, dass ich eine Brille brauche.“ Das war eine Lüge. Denn ich war mir ziemlich sicher, dass der Test bei mir keine nennenswerte Fehlsichtigkeit ergeben würde.
„Na, gut“, lenkte Paula ein. „Dein Vorschlag ist gerecht. Aber Du fängst an!“
Wir gingen in den Optikerladen und sagten der jungen bebrillten Frau am Empfang, wir wollten beide den kostenlosen Sehtest machen. Sie bat uns zu einem Gerät in einer Ecke des Ladens. Ich sagte zu Paula: „Ich gehe voran. Mein Beitrag zu unserem Deal ist dann erledigt“. Ich setzte mich auf den Hocker vor das Gerät und schaute in zwei Okulare, durch die ich ein Bild wahrnehmen konnte.
„Wir machen jetzt einen sogenannten objektiven Sehtest.“ Die Optikerin erklärte mir, was jetzt ablief. „Das Gerät misst Ihre Augen und stellt fest, ob und in welcher Stärke eine Fehlsichtigkeit vorliegt. Für die Anpassung einer Brille müsste dann ergänzend noch ein subjektiver Sehtest gemacht werden, der dann die endgültigen Werte einer Brille bestimmt. Dafür bräuchten wir aber einen Extratermin.“
Es dauerte vielleicht eine Minute und dann spuckte das Gerät das Ergebnis der Messung auf einem kleinen Papierzettel aus. „Das Ergebnis ist positiv für Sie“, fasste die Optikerin zusammen. „Sie haben so gut wie keinen Sehfehler. Nur auf dem linken Auge haben Sie -0,25 Dioptrien, aber das wird sie nicht stören. Jedenfalls kann ich Ihnen keine Brille empfehlen.“
Insgeheim war ich erleichtert. So sehr ich Brillen an Mädchen liebte, selbst eine zu brauchen, war nicht mein sehnlichster Wunsch.
Dann wurde Paula auf den Stuhl gebeten. Auch für sie spuckte das Gerät nach einer knappen Minute das Zettelchen mit dem Ergebnis aus. „Bei Ihnen ist das Ergebnis nicht so positiv wie bei ihrem Freund. Sie sind kurzsichtig!“ sagte die Optikerin zu Paula.
Ich sah, wie Paulas Gesichtszüge erstarrten. Sie schaute ängstlich und traurig zu mir hinüber und dann wieder zur Optikerin, die fortfuhr: “Auf dem linken Auge haben Sie -1,0 Dioptrien und auf dem rechten -1,25 Dioptrien. Das ist so viel, dass bei Ihnen in jedem Fall eine Brille angezeigt ist. Sie müssten im Alltag gemerkt haben, dass Sie in der Ferne unscharf sehen. Sie werden erstaunt sein, wie viel mehr und besser Sie mit einer Brille in der für Sie richtigen Stärke sehen werden. Wollen Sie gleich einen Termin für eine Brillenberatung bei uns machen?“
Paula schüttelte den Kopf und blieb wortlos. Die Optikerin sagte darauf: „Jetzt besprechen Sie sich erst mal mit Ihrem Freund. Ich weiß, dass es für manche ein Schock ist, wenn Sie ihre erste Brille bekommen sollen. Aber wir haben so tolle Brillen-Modelle. Und die meisten Kundinnen sagen hinterher, dass sie ihre Brille lieben. Sie können den Termin bei uns natürlich auch später jederzeit noch machen. Ich gebe Ihnen den Zettel mit dem Messergebnis einfach einmal mit.“
Paula nahm den Zettel, faltete ihn vier Mal säuberlich zusammen und steckte ihn in die Hosentasche. „Danke schön“, sagte Paula zur Optikerin. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“
Vor der Tür des Ladens fuhr mich Paula an: „Das habe ich nun von Deinem Deal. Du, der Du völlig makellos bist, brauchst keine Brille, und ich, die ich eh schon Fehler über Fehler habe, kriege noch einen Makel mehr. Ich will und werde jedenfalls weiter ohne Brille zurechtkommen.“
Ich entschied für mich, Paula jetzt erst einmal in Ruhe zu lassen und das Thema nicht fortzusetzen. Stattdessen sprach ich mit ihr über die laufende Anfängerhausarbeit im Strafrecht.