Nachdem ich meine Tränen getrocknet hatte, saßen wir alle immer noch bedrückt am Küchentisch. Sophia hielt eine Hand von mir, Gio die andere.
Ich hatte so einen riesigen Kloß im Hals, dass ich kein Wort herausbringen konnte. Das übernahmen sie nun auch noch für mich.
»Wir werden dir beistehen, Angelina. Es ist ganz klar, dass du jetzt völlig fertig bist und vor Trauer nicht weißt, wo du hin sollst. Darum ist es gut, dass du bei uns bist. Du kannst so lange bleiben, wie du willst - auch für immer, wenn du das möchtest.« Sophia streichelte meine Hand.
Dann schaltete sich auch Gio ein.
»Es war nicht deine Schuld. Du darfst dir das nicht einreden, es bringt nichts mehr. Du hast alles versucht und es ist misslungen. Wir Savantoj haben jeden Tag Verluste - Angehörige, Kinder, die wir verlieren. Sandro ist einfach auch solch ein Opfer geworden. Es war seine Mission und sie ist am Ende gescheitert. Damit müssen wir nun alle leben. Es war das Letzte, was du gewollt hättest. Das wissen wir alle. Und er hatte am Ende die Gewissheit, dass du ihn liebst. Das wird ihm alles erleichtert haben. Er wäre der erste, der dir verzeihen würde.«
Jatzt brach es doch aus mir heraus.
»Aber es WAR meine Schuld! ICH habe ihn so verletzt. ICH bin nicht rechtzeitig zurückgekehrt, um ihn wieder zu heilen. ICH war das alles - und warum? Ich habe meinem toten Kind seinen Vater hinterhergeschickt. Ich habe kein Recht mehr, weiterzuleben. WARUM muss ich nun weiterleben? Ich will das alles nicht mehr!«
Sie ließen geduldig den nächsten Tränenstrom über sich ergehen. Dann nahm mich Gio in den Arm - so wie Sandro früher immer.
»Vorwürfe helfen nicht weiter, Angelina. Sandro würde nicht wollen, dass du dich so quälst. Er wollte immer nur dein Glück. Deshalb musst du dafür sorgen, dass du wieder glücklich wirst. Auch wenn du dir noch nicht vorstellen kannst, dass das geht. Aber du wirst wieder einen Partner finden, Kinder haben und glücklich sein. Nicht heute und nicht morgen, aber die Zeit wird dir dabei helfen - und wir.« Er küsste mich auf die Stirn.
Unendlich langsam sickerten seine Worte zu mir durch.
»Das hat er auch gesagt ... «, flüsterte ich entgeistert in die entstandene Stille.
Sophia und Gio wechselten überrascht einen Blick.
»Wie meinst du das?«, fragte Gio heiser.
»Ich werde verrückt vor Schmerz, Gio. Ich höre immer noch seine Stimme in mir. Das vergeht bestimmt irgendwann wieder. Wenn nicht, drehe ich sowieso bald durch. Macht euch keine Gedanken. Ich verstehe es selbst nicht. Vergiss es einfach. Es hat nichts zu bedeuten.«
Ich verbarg mein Gesicht an seiner Brust und versuchte zu vergessen, dass es nicht Sandro war, der mich gerade im Arm hielt.
Er würde mich nie wieder im Arm halten.
Sie schickten mich auf einen Spaziergang mit Gianluca. Ich wollte erst nicht, aber Gianluca nahm mich einfach an die Hand und zog mich mit sich. Er war nicht viel jünger als ich, sein Studpartnero-Fest stand noch aus, er fühlte sich noch nicht so weit. Ich hatte mich auch mit ihm immer gut verstanden, aber er war stets sehr schüchtern gewesen und hatte mit seinen Schwestern und mir nicht immer einen leichten Stand gehabt. Aber er war nett und einfühlsam.
Darum redete er nur, wenn ich ihn ansprach und eigentlich sprachen wir nur über belangloses Zeug, ich vergaß es sofort wieder. Die frische Luft tat mir aber gut. Als wir nach einer Stunde heimkehrten, verschwand Gianluca nach oben in sein Zimmer.
Ich blieb noch einen Augenblick draußen und genoss die Natur und die Stille, ehe ich zurück ins Haus ging.
Ich hörte Gio und Sophia im Wohnzimmer leise reden, als ich durch den Flur ging und wollte eigentlich gleich weitergehen, als Sandros Name fiel.
Da blieb ich automatisch stehen und hörte zu.
»Meinst du wirklich, es sind die Nerven, die sie Sandros Stimme hören lässt?«, hörte ich Gio fragen.
»Ich weiß es nicht - was soll es denn sonst sein? Er ist tot, das wissen wir beide, oder?«
»Aber das Band? Es könnte noch bestehen?«
»Ja, aber was hat es mit seiner Stimme zu tun? Das Band lässt sie seine Liebe noch spüren, seine Verbundenheit. Seine Stimme? Das bildet sie sich nur ein, meine ich.« Sophia glaubte es nicht.
Gios Stimme hörte sich zweifelnd an.
»Ich bin nicht sicher, Phia, du weißt, es gibt da Gerüchte, dass sowas möglich ist.«
»Ja, aber nur unter Lebenden, Gio. Das ist glaube ich Wunschdenken. Lass uns mal abwarten, ob sie davon nochmal erzählen wird. Noch ist sie so verwirrt, wir müssen ihr unbedingt noch Zeit geben, das Ganze zu verkraften. Die Beerdigung wird sie nochmal zurückwerfen. Ich hoffe, dann können wir sie allmählich wieder aufbauen.«
»Das hoffe ich sehr. Die beiden hatten nicht viel Zeit für ihr Glück. Es tut mir so leid für sie.« Gio seufzte bei seinen Worten und ich machte, dass ich nach oben kam, weil ich nicht wollte, dass sie mich noch auf der Treppe entdeckten.
Im Zimmer angekommen, schloss ich die Tür hinter mir und setzte mich auf mein Bett.
Wurde ich verrückt? Bildete ich mir die Stimme wirklich nur ein? Verständlich wäre es ja, wenn ich durchdrehen würde - aber war das die Erklärung?
Ich legte mich hin und schloss die Augen, um nachzudenken.
Engelchen ...?
Ich riss die Augen auf. Natürlich war da Niemand. Aber es gab auch Niemanden, außer Sandro, der mich Engelchen nannte.
»Was willst du?«, flüsterte ich gedenk dessen, dass ich nicht laut reden sollte.
Ich habe mich vorhin rausgehalten, weil ich dich nicht noch mehr verwirren wollte, als du mit Gio und Sophia gesprochen hast. Ich weiß nicht, ob es klug ist, wenn du ihnen das erzählst, das mit unseren Gedanken meine ich.
»Warum nicht?«
Weil ich vielleicht nicht für immer da sein kann. Ich muss mich irgendwann für eine lange Zeit von dir verabschieden. Aber mach dir keine Sorgen, vorläufig bin ich noch für dich da - bis du deinen Lebensmut wiedergefunden hast. Ich muss danach für längere Zeit woanders sein, aber ich komme ganz bestimmt wieder zurück. Versprochen.
Ich hörte ein leises Seufzen und fuhr mir über die Augen, weil ich es nicht glauben wollte. Oder doch, ich wollte es glauben, aber ich konnte es immer noch nicht wirklich.
Hörst du denn meine Gedanken noch, Sandro? Warum willst du mir auch noch das hier wegnehmen, wenn es doch das einzige ist, was mir von dir geblieben ist?
Würde er mir antworten? Konnte er mich auch hören? Ich horchte angespannt in mich hinein.
Ich werde dich auch hören, wenn du mich eine Weile nicht mehr hören kannst, keine Angst. Es wird auch nicht das einzige bleiben, was dir von mir geblieben ist. Auch das ist ein Versprechen, mein Schatz.
Versuche jetzt zu schlafen, du musst dich erholen. Sei tapfer. Ich bin bei dir. Immer.
Ich beruhigte mich. Dann schlief ich ein.
Ich träumte natürlich von Sandro.