Ich rannte fast an den Strand, aber als ich dort angekommen war, verlangsamte ich meine Schritte, versuchte zu Atem zu kommen und meine Gedanken zu ordnen.
Was hatte sich Alessio nur dabei gedacht?
Warum hatte Giaci ihm das nicht ausgeredet? Gerade ER musste wissen, dass ich lieber für mich allein war, außer meinen Freunden und Kindern niemanden um mich haben mochte.
In meinem Kopf herrschte Chaos. Meine Schuhe nahm ich in die Hand, damit ich mit den Füßen im Wasser laufen konnte. Es beruhigte mich, dass mich die Wellenausläufer trafen und ihre schaumigen Mitbringsel über meine Zehen warfen.
Noch klopfte mein Herz bis zu meinem Hals und dieses Gefühl der Enge verschwand nur sehr zögernd.
Nach und nach zwang ich meine Gedanken in geordnete Bahnen. Nur so konnte ich einen Weg finden, der mir hinaushalf aus diesem Dilemma.
Das größte Problem war, dass ich es nicht ablehnen konnte. Einmal ausgesprochen, konnte nur Alessio diesen Wunsch zurückziehen. Mir war sonnenklar, dass er das nicht tun würde, unter keinen Umständen, denn sonst hätte er diese Bombe nicht platzen lassen. Er musste genau wissen, was er damit in mir angerichtet hatte. Gerade darum war mir dieses Ansinnen so rätselhaft. Ich konnte seine Beweggründe nicht nachvollziehen. Selbst wenn er sich wegen Giaci Gedanken gemacht hatte, wir hätten darüber reden können. Oft genug hatten wir die Gelegenheit dazu, aber er hatte sich so verbohrt zurückgezogen und nie den Mund aufgemacht, dass ich jetzt nur noch wütend war und ihn so gar nicht mehr verstand.
Langsam beruhigte ich mich. Es wurmte mich, dass ich aus der Nummer nicht herauskam. Aber genau das war ja wohl auch seine Absicht gewesen. Da ich bei seinen Beweggründen nicht weiterkam, begann ich meine eigenen Gefühle zu analysieren. Was genau machte mich so wütend?
Der Sex allein konnte es nicht sein, denn an sich gab es daran nichts, was man ablehnen sollte. Gut, ich wollte es nicht, seitdem Sandro nicht mehr bei mir war, denn irgendwie gehörte das noch immer zu dem UNS, dass es nicht mehr gab.
Nein, es musste etwas anderes sein, was mich so wütend machte. Vielleicht, weil er mich zwang, ihn nicht mehr als Kind zu sehen, wie die ganzen Jahre vorher. Selbst bei Giacomo fiel mir das leichter, er war nun wirklich mein Kind, aber ich akzeptierte, dass er bald erwachsen wurde und seine eigenen Wege gehen wollte.
Bei Alessio hatte ich diese Gedanken noch nicht in Erwägung gezogen.
Es musste mit dieser besonderen Verantwortung zu tun haben, die ich mit ihm übernommen hatte. Die ich niemals vergessen wollte und die allgegenwärtig in meinen Gedanken und Gefühlen mitschwang.
Ansonsten konnte ich es mir nicht erklären.
Wenn ich so darüber nachdachte - und das tat ich jetzt mal in Ruhe und Ausführlichkeit - dann musste ich zugeben, dass auch Alessio sich zu einem wirklich hübschen jungen Mann entwickelt hatte. Ich war deswegen auch nicht verwundert gewesen, dass Giaci sich in ihn verguckt hatte. Wir hatten ja alle kein Problem damit, aber dennoch hatten sich beide Jungs nie geäußert zu ihrer Verbindung, die sie offensichtlich hatten.
Mein Marsch am Strand dauerte sehr lange. Ich merkte erst wie lange, als es anfing zu dämmern. Da machte ich mich auf den Rückweg.
Einige Dinge hatte ich innerlich so weit abgeklärt, dass ich wusste, wie ich zunächst damit umgehen wollte. Bei anderen musste ich mir noch etwas einfallen lassen. Wichtig war erstmal, dass ich wieder ruhig war. So aufgewühlt hätte ich keine richtigen Entscheidungen treffen können.
Natürlich hatte sich unser Treffen längst aufgelöst. Daher ging ich gleich in meine Wohnung, war aber froh, dort lediglich Francesco anzutreffen. Er sah mir ziemlich besorgt entgegen, aber ich bemühte mich um ein beruhigendes Lächeln. Was blieb mir auch anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen?
»Wie geht es dir?«, begrüßte er mich zaghaft.
»Ich habe mich gefangen. Aber diese Pause hatte ich nötig. Das war schon ... eine Überraschung.«
Francesco nickte zustimmend und sah mich prüfend an, was wohl als nächstes kommen würde.
»Was willst du jetzt machen?«
Ich seufzte.
»Was kann ich machen? Nicht viel. Ich habe keinen Schimmer, was er damit bezwecken will, aber ob er daran tatsächlich Freude haben wird - wir werden sehen. Ich habe jedenfalls nicht die Absicht, ihn hier in der Wohnung aufzunehmen, damit er möglichst viel mit mir zusammen ist. Das werde ich mir schenken. Soll er am Ende ins kalte Wasser springen. Es war nicht meine Entscheidung, damit muss er dann klarkommen. Schade, dass es soweit kommen musste.«
Ehe er mir antworten konnte, klingelte es an der Wohnungstür. Ich fuhr zusammen. Von uns hatte jeder einen Schlüssel - wer sollte das sein?
Zögernd ging ich zur Tür und zog sie auf.
Alessio.
Meine Miene musste wohl ziemlich abweisend gewesen sein, denn er senkte sofort den Blick zu Boden.
»Darf ich reinkommen?«
Wortlos trat ich zur Seite. Er stolperte fast an der Tür, kam dann aber doch an mir vorbei und betrat gleich darauf das Wohnzimmer. Über Francescos Anwesenheit schien er nicht sonderlich glücklich. Trotzdem nickte er ihm zu, blieb aber mitten im Raum stehen, als ob er nicht wüsste, wo er hin sollte.
»Setz dich, Alessio. Es fällt dir wohl schwer, dich jetzt hier noch wie zu Hause zu fühlen, oder?«
Das konnte ich mir irgendwie nicht verkneifen, ihn damit verlegen zu machen. Es gelang mir wohl ganz gut, denn er wurde bis unter die Haarspitzen rot, aber er hielt meinem Blick stand und murmelte nur leise:
»Danke. Ja, das habe ich nur mir selbst zu verdanken, ich weiß.«
Er setzte sich uns gegenüber, Francesco saß im Sessel, ich stand daneben und war viel zu nervös, um mich hinzusetzen. Lieber schaute ich auf Alessio und wartete ab, was er loswerden wollte.
Der kam dann auch zögernd auf den Grund seines Besuches.
»Lina, ich weiß, ich habe dich mit meinem Anliegen schockiert, aber glaub mir bitte, ich wollte dich nicht verletzen. Bitte sei nicht sauer auf mich. Ich verspreche dir, ich werde mich bis dahin deinen Regeln unterwerfen, ich mache, was du willst, solange du mich nicht ganz aus deinem Leben streichst. Ich ... du bist wirklich meine Notlösung!«
Boaaah - er sah mit Tränen in den Augen zu mir hoch und ich wusste, dass ich das nicht ertragen konnte, obwohl ich sowas von wütend auf ihn war. Aber ich konnte ihn nicht so leiden sehen - ohne dass er mir trotzdem leidtat. Das machte mich fast noch wütender.
Einige wenige Schritte und ich strich ihm über seine Haare, wie ich es so oft getan hatte. Gleichzeitig hätte ich ihn am liebsten geschüttelt.
»Ach Alessio, wir hätten bestimmt eine bessere Lösung gefunden, wenn du mit mir vorher geredet hättest.«
Es verblüffte mich, als er nun die Hände vors Gesicht schlug, um seine Tränen zu verbergen und sich wieder zu fangen, aber ich ließ ihm die Zeit.
Endlich nahm er sie wieder fort und sah zu mir hoch. Sein Gesicht war wie eine Maske erstarrt.
»Leider nicht. Für mich gibt es keine gute Lösung, diese ist noch die beste, die ich greifen konnte, glaub mir.«
Das wollte ich nicht so stehen lassen.
»Aber wenn es wegen Giaci ist, dann -«
Hier unterbrach er mich derart impulsiv, dass ich verstummte.
»Giaci gehört genauso zu dir wie zu mir! Aber lass ihn da bitte raus. Ich habe die Entscheidung alleine getroffen, damit hat er nichts zu tun.«
Nun reichte es mir aber doch.
»Dann musst du jetzt auch ganz allein mit den Konsequenzen leben, Alessio.«
Meine Stimme hatte ich etwas erhoben, er sollte ruhig merken, dass er jetzt zu weit gegangen war.
»Wenn du denkst, du könntest mir die Pistole auf die Brust setzen, dann mag dir das vielleicht gelungen sein. Doch ich habe auch die Möglichkeit, dir diesen Weg nicht so einfach zu machen, wie du vielleicht erwartest. Ich werde dich hier in meiner Wohnung nur dulden, wenn du dich wie mein Patenkind benimmst und verhältst. Keinerlei Intimitäten. Ich werde es nicht zulassen, hast du mich verstanden? Mit deiner Entscheidung muss ich leben, mit meinen Regeln musst du nun leben. Bis auf das, was du eingefordert hast, werde ich dir nicht zur Verfügung stehen. Ist das klar zwischen uns?«
Meine Stimme klang so hart, ich spürte, wie er zusammensank, aber diesmal tat es mir nicht leid.
Eine Weile herrschte Stille. Dann stand Alessio auf.
»Ich werde mich daran halten, versprochen. Das bin ich dir wohl schuldig. Bitte lasse es mich wissen, wenn ich hier willkommen bin, ansonsten bleibe ich bei Sophia und Gio. Verzeih mir und versuche wenigstens, mich nicht zu hassen.«
Ich presste die Lippen fest zusammen.
Es war alles gesagt und Alessio hatte sich bereits umgewandt und das Wohnzimmer und Sekunden später die Wohnung verlassen.
Francesco nahm mich wortlos in die Arme, als meine Tränen nun doch liefen.
»Als wenn ich ihn hassen könnte. Dummer Bengel«, schniefte ich an seiner Brust.