Adelia starb acht Monate später und sie schlief in Frieden ein.
Wir hatten vorher alles regeln können, wie sie es sich gewünscht hatte und sie ging ohne Angst, auch wenn sie tieftraurig war, dass sie ihren Sohn nun nicht aufwachsen sehen konnte.
Sophia und Gio gaben Alessio sein "behördliches Sein", nur dass er bei Giacomo und mir bleiben würde. Francesco hatte versprochen, dass er sich ebenfalls wie ein Vater um Alessio kümmern wollte.
Ich war froh, dass ich Adelia noch den Vorschlag gemacht hatte, Alessio etwas von seiner wahren Herkunft zu hinterlassen, was wir ihm bei seiner Altersfestsetzung überreichen würden.
Sie hatte Kopien von den ursprünglichen Dokumenten gemacht, Bilder von sich und seinem Vater beigefügt und ihm einen langen Brief geschrieben. All das hatte sie mir übergeben, verpackt in einem wunderschönen Kästchen, was nun sicher in Sandros Bunker im Wald lag. Niemand würde es anrühren, bis es soweit war, dafür würde ich schon sorgen.
Offiziell war Alessio nun der Sohn von Sophia und Gio. Es wurde ebenso gehandhabt, wie damals mit mir, als ich von Sandro in die Toskana gebracht wurde. Ich fungierte nun als Patentante und Francesco als Patenonkel, für die normalen Menschen galt das als Recht, sich um das Kind zu kümmern.
Die Umstellung, für zwei Babys zu sorgen, war enorm. Die Nächte noch kurz und je älter die Jungen wurden, desto agiler entwickelten sie sich. Manchmal wusste ich nicht, wie ich sie im Zaum halten sollte, da sie ihre Welt mit Macht erkunden wollten, aber die Freude über die fröhlichen Kinder wog alles auf.
Sie entwickelten sich prächtig.
Francesco kam fast täglich vorbei. Die Kleinen strahlten ihn bei seinem Eintreffen so an, als wenn er ihr Vater wäre und er spielte mit ihnen ausgelassen, was mir manches Lächeln auf das Gesicht zauberte. Im ersten Jahr nahm mir Francesco alle Einkäufe ab, was eine große Erleichterung war. Unser gemeinschaftliches Erziehungsprogramm gelang uns in jeder Hinsicht. Oft ergänzten wir uns ohne viele Worte, wir waren bald ein eingespieltes Team.
Ich hatte Alessio schon früh gesagt, dass ich nicht seine Mama war, ihn aber dennoch genauso lieb hatte. Er bekam ein Foto von Adelia auf seinen Nachttisch - sie mit ihm auf dem Arm. Er sollte sie nicht vergessen, wobei mir schon klar war, dass er sich nicht an sie erinnern konnte, jedenfalls nicht bewusst.
Er nannte mich stets Lina, so sprach er meinen Namen am Anfang aus.
Das erste Jahr war so schnell vorüber, ich konnte nicht glauben, als wir schon bald den ersten Geburtstag gefeiert hatten. Sophia und Gio in ihrer herzlichen Art, machten keinen Unterschied zwischen den Beiden. Ich erinnerte mich noch gut daran, dass ich mich auch nie als Außenseiter gefühlt hatte, sondern immer als Mitglied der ganzen Familie. Savantoj war der Zusammenhalt sehr wichtig.
Seitdem sie ein Jahr alt waren, hatte ich ein Fernstudium in Archäologie begonnen, was mir zusätzliche Energie abzog, aber es machte mir großen Spaß und so nahm ich es in Kauf, dass ich abends noch lange über Aufgaben brütete. Der Kampf der Savantoj gegen den Verfall der Erde war noch nicht so weit fortgeschritten, wie wir alle gehofft hatten. Ich versprach mir von meinem Studium in gewisser Weise, neue Erkenntnisse, die uns eventuell irgendwann weiterhelfen konnten. Aber im Moment standen natürlich erstmal die Kinder im Vordergrund, die wir alle auf den Weg bringen wollten, damit sie eine Unterstützung werden würden bei unserer Mission.
Sophia und Gio erwarteten im Jahr darauf ihr nächstes Baby. Wir freuten uns alle darauf, ich ganz besonderns, da ich für meine beiden Racker weitere Gesellschaft sehr begrüßte. Die kleine Ambra war für uns eine große Bereicherung und wir liebten sie alle. Nun würde uns Gianluca bald verlassen müssen, denn die nächste Generation wuchs heran. Was aber noch schwerer wog, es stand im Raum, dass Sophia und Gio diese Gegend verlassen sollten und sich irgendwo ein neues Plätzchen suchen, denn sonst würden die Menschen um uns herum eventuell stutzig werden bezüglich der Kinder, deren Eltern irgendwie nicht älter wurden.
Diese Entwicklung hatten wir nicht so bedacht, als es um Alessios Schicksal ging. Es war nichts, was wir sofort entscheiden mussten, aber wir sollten uns eine Lösung für uns alle ausdenken.
Ich wollte mich so gar nicht mit dem Gedanken anfreunden, die schöne Toskana zu verlassen. Hier war ich aufgewachsen und ich liebte jeden Grashalm und alle Plätze, an denen ich als Kind gespielt hatte. Einzig der Gedanke, dass wir vielleicht irgendwann zurückkehren konnten, ließ mich das Ganze in einem erträglichen Blickwinkel betrachten. Außerdem überlegten wir gemeinsam, ob wir eine Zeitlang in Portugal leben wollten. Eine andere, schöne Art von Natur, in der die Kinder groß werden konnten, wenn sie alle drei aus dem Gröbsten heraus waren. Wir wollten noch warten, vielleicht bis Ambra zehn Jahre alt war und dann eine Entscheidung treffen. Da Sophia und Gio offiziell Alessios Eltern waren, musste ich mich notgedrungen dazu durchringen, mit Giaci mitzugehen. Ich schob diesen Gedanken noch von mir, aber er hatte sich nun in meinem Kopf etabliert und schwebte ständig über mir.
Fasziniert konnte ich beobachten, wie gut sich die beiden Jungen verstanden und voneinander profitierten in ihren Lernprozessen. Jeder schaute sich vom anderen ab und probierte selbst aus, bis alles beherrscht und neue Gebiete erforscht wurden.
Manchmal beschlich mich ein seltsames Gefühl, wenn ich die Beiden beobachtete. Giaci war ein süßer Blondschopf, der mich oft anstrahlte mit seinen blauen Augen, dass ich nur zurücklächeln konnte. Oft genug schoss mir durch den Kopf, dass es Sandro mit mir auch so gegangen sein musste. Ich war immer froh, wenn mich die Kinder dann wieder ablenkten von diesen melancholischen Gedanken.
Alessio wirkte oft verträumt, war aber genauso aufgeweckt, wenn er sich für bestimmte Dinge interessierte. Mit seinen dunklen Locken und den langen dichten Wimpern erinnerte er mich an die italienischen Kinder, die wir in den Straßen spielend antrafen, sie hatten eine Lebensfreude, die einem das Herz öffneten.
Beide waren ausgesprochen schmusige Kinder, wobei Alessio selten auf mich zukam, aber meine Zuwendungen genauso genoss wie Giaci, der sie oft genug einforderte. Sie spielten mehr miteinander, als dass es Streit gab, was mich sehr froh machte.
Mich beschlich oft die Angst, dass ich Giaci vorziehen würde, wenn auch nicht bewusst, aber Francesco vertand es mehr als einmal, mir das auszureden. Vermutlich lag es daran, dass Alessio noch so klein war, als ich ihn mit übernahm. Dadurch kam er mir wirklich irgendwann so vor, als wenn er mein eigenes Kind wäre.
Die ersten Jahre vergingen so rasend schnell, bald stand die Einschulung bevor und die Jungs waren sehr aufgeregt, weil sie nun endlich "lernen gehen" durften, wie sie es nannten.
Seitdem die Kinder zur Schule gingen, hatte ich mehr Zeit für mein Studium, sodass ich gute Fortschritte machte.
Die Jungs kamen sehr gut in der Schule klar und unterstützten sich gegenseitig. Jeder Wettstreit zwischen ihnen schmiedete sie mehr zusammen. Ich konnte mich nicht sattsehen, wenn ihre Köpfe zusammen über den Büchern steckten und sie gemeinsam versuchten, Probleme zu lösen. Hilfe brauchten sie kaum, manchmal einen Ansatz, damit sie weiterkamen in ihren Überlegungen, ansonsten verstanden sie es ausgezeichnet, selbstständig zu arbeiten, was mich in den ersten Jahren doch ein wenig erstaunte.
Vieles, was Sandro mit mir gemacht hatte, versuchte ich den beiden Jungs mitzugeben. Die Liebe zur Natur, unsere alten Wanderwege, all die schönen Dinge, wie wir unsere Zeit damals miteinander verbracht hatten, wollte ich seinem Sohn und auch Allessio ebenso nahe bringen.
Francesco war mir eine große Hilfe, auch wenn ich mit der Zeit sehr gut allein zurecht kam mit den Jungs, so war es besser, dass die Zwei neben Gio auch noch eine andere männliche Bezugsperson hatten. Wir verbrachten viel Zeit bei uns und bei Gios Familie. An dem Zusammenhalt von damals hatte sich bis heute nicht viel geändert.
Mein Studium ging gut voran, ich machte schnell Fortschritte. Manchmal dachte ich daran, wie sehr sich Sandro darüber gefreut hätte, er war immer so stolz auf meine Erfolge gewesen. Auch wenn er mir gesagt hatte, er wäre immer bei uns, so fehlte er mir überall in meinem Leben, aber ich lenkte mich mit den Kindern ab so gut es ging.
Wenn die Jungen unter sich waren, führten sie oft Gespräche, die ich am Rande mitbekam und über die ich oft sehr schmunzeln musste, weil sie einfach süß, kindlich ernsthaft geführt wurden und ihre Beziehung zueinander deutlich machten. Ich war mehr als froh, dass es so war.
Sie benahmen sich nicht nur wie beste Freunde oder liebevolle Brüder, es war eine sehr innige Beziehung, die darüber hinausging. So war es jedenfalls mein Gefühl, aber ich freute mich nur darüber und machte mir keine weiteren Gedanken.
Sie waren vielleicht sieben, als ich zufällig hörte, wie sie sich über die Zukunft unterhielten.
»Alessio«, begann Giaci sehr wichtigtuerisch. »Wenn wir groß sind, müssen wir vielleicht von hier weg, um der Erde zu helfen. Alle wollen doch, dass wir dafür sorgen, dass hier alles so schön bleibt.«
Alessio hob seinen Kopf und schaute Giacomo erschrocken an.
»Aber wir können wieder zurückkommen, oder?«, fragte er ängstlich. Ich erkannte seine Gefühlslage, weil das Stimmchen etwas zitterte dabei.
»Klar! Ohne dich gehe ich sowieso nirgendwo hin«
Alessio nickte ernsthaft und gleichzeitig beruhigt, ich musste insgeheim schmunzeln, wenn ich sie so reden hörte.
Ich sah, wie Giaci den Arm um Alessio legte. Es war ein zu süßes Bild.
Bis ihr groß seid ... vielleicht ist das gar nicht mehr so lange hin, wie ihr denkt, dachte ich bei mir wehmütig.
Ich schickte sie nach draußen spielen und sah ihnen nachdenklich hinterher.