Giaci saß wie auf heißen Kohlen. Dieses Wochenende war er daheim geblieben, denn heute sollte es geschehen. Er konnte es kaum abwarten, aber er musste sich sehr lange in Geduld üben. Da er von Minute zu Minute nervöser wurde, beschloss er, eine Runde am Strand zu joggen, damit ihm nicht die Decke auf den Kopf fiel. Er hatte am frühen Morgen die Wohnung verlassen und hatte sich in Alessios Zimmer bei Sophia und Gio eingenistet, aber jetzt hielt ihn nichts mehr. Nachdem er sich mit Alessios Sachen ausgeholfen hatte, verschwand er mit einer Flasche Wasser hinaus in die Sonne an den Strand.
In einer Woche wäre er selbst dran, aber es erschien ihm längst nicht so aufregend, wie heute, wenn Alessio und Angelina ...
Trotzdem hatte er auch ein schlechtes Gewissen. Seine Mutter hatte es als Zumutung aufgefasst, was Alessio von ihr verlangt hatte. Sie nahm es ihm übel, dass er ihr nicht beigestanden hatte. Aus ihrer Sicht verständlich. Er hoffte inständig, dass sie es verstehen würde.
Er wusste, was es bedeuten würde, wenn seine Mutter mit Alessio zusammen bei ihnen auftauchte. Er konnte sich lebhaft vorstellen, welch ein Aufsehen das erregen würde. Für sich selbst empfand er es als unendliche Erleichterung, denn es war ein großes Geheimnis gewesen und nur er hatte davon gewusst. Auch wenn es ihn mächtig stolz gemacht hatte - ab heute sollte alles normal ablaufen, wie in jeder anderen Savantoj-Familie auch. Wenigstens noch für diese eine Woche. Danach würde sich zeigen, was es für ihn selbst bedeuten würde, erwachsen zu sein.
Aber jetzt stand ganz etwas anderes im Vordergrund - seine Eltern sollten wieder zueinander finden.
Er versuchte, vor den Gedanken wegzurennen, aber so richtig wollte ihm das nicht gelingen. Immer wieder kehrten sie dahn zurück, wo er sie nicht haben wollte, die Nervosität stieg. Ausgepowert drehte er nach einem Sprint um und machte sich langsam auf den Rückweg. Daheim angekommen, hatte sich noch nichts getan, es war still in der Wohnung, also verzog er sich ins Bad.
Als er unter der Dusche stand, hörte er, dass jemand in die Wohnung kam und nun konnte es gar nicht schnell genug gehen. Sein Herz klopfte ihm bis in den Hals und er musste mehrmals schlucken, um es zu besänftigen. Obwohl er frisch geduscht war, brach ihm bereits wieder der Schweiß aus, als er den murmelnden Stimmen aus dem Wohnzimmer folgte.
Bevor er die Tür öffnete atmete er tief ein. Jetzt kam die Entscheidung!
Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und öffnete die Tür, blieb aber auf der Schwelle stehen und erfasste zunächst nur mit den Augen, was ihn dort erwartete.
Sophia, Gio, Angelina und da war er - Alessio. Falsch. Sandro.
Sein Vater.
Der lächelte ihn verhalten an, Giacis Blick huschte zu Angelina. Er erkannte einen Ausdruck in ihrem Gesicht, den er noch nie zuvor so deutlich gesehen hatte: Grenzenlose Liebe und Glück.
Sein Herz stolperte kurz, dann ging er zögernd ins Zimmer hinein, ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht.
»Komm her, mein Sohn«, sagte Sandro schon im Aufstehen und öffnete seine Arme. Giaci stürzte vor in seine Umarmung und verbarg ergriffen sein Gesicht an Sandros Brust. »Das Geheimnis ist endlich gelüftet. Schluss mit dem Versteckspiel. Jetzt wissen es alle, Giaci.«
Aus der sicheren Umarmung heraus blinzelte Giaci zu seiner Mutter, die ihm in diesem Augenblick sanft durch die Haare strich.
Spontan wandte er sich ihr zu und schlang seine Arme nun um sie.
»Verzeih mir, Mama«, raunte er ihr zu. »Ich weiß, es war furchtbar für dich zu denken, dass ...«
Angelina drückte ihren Sohn liebevoll an sich, strich ihm beruhigend über den Rücken.
»Vergeben und vergessen, Giaci. Ja, es war furchtbar für mich, aber ich verstehe euch auch. Das ist Vergangenheit, der Weg muss manchmal steinig sein, bis man am Ziel angekommen ist. Das habe ich schon sehr früh begreifen müssen. Ich bin froh, dass du deinen Vater kennen und lieben lernen kannst. Vergiss nur nicht, dass ich auch etwas nachzuholen habe.«
Sie zwinkerte ihm zu, als er hochsah und er gab ihr erleichtert einen Kuss auf die Wange.
»Versprochen. Ich teile ihn mit dir.« Treuherzig blickte er erst Sandro dann Angelina an, ehe er sich Sophia und Gio zuwandte, diese nun auch endlich begrüßte.
»Die Überraschung ist wohl gelungen?«, fragte er grinsend. Er setzte sich aufs Sofa und schaute zufrieden in die Runde. Die Rührseligkeiten sollten jetzt aber aufhören, sonst würde er noch anfangen zu heulen - das Letzte was er jetzt wollte.
Gio räusperte sich.
»Ähm, ja, kann man so sagen. Ich für meinen Teil bin zwar wirklich perplex, aber ich bin auch sowas von froh, den alten Sandro wiederzuhaben, dass mir der Schreck darüber, wie er nun aufgetaucht ist, schon wieder egal ist. Ich glaube auch Sophia ist zufrieden, dass Angelina nun endlich ihre fehlende Hälfte zurück hat. Ich muss das erstmal verdauen. Ich habe mit vielem gerechnet heute - aber damit nicht.«
Er sah zu Sophia hinüber, die lächelnd nickte.
»Es ist nun wieder wie in alten Zeiten - wir Vier wie Pech und Schwefel. Nur Giaci ist dazu gekommen. Er hat immer wieder Überraschungen auf Lager, das ist schon auffällig.«
Plötzlich richtete sich die Aufmerksamkeit Aller wieder auf Giaci, dem das sichtlich unangenehm wurde, je länger ihn alle musterten.
Schließlich verhalf ausgerechnet Sandro seinem Sohn aus der Klemme.
»Ich denke, Giaci wird uns alle noch oft überraschen. Im Gegensatz zu euch Allen, weiß ich vielleicht am Besten, womit er sich schon sehr lange beschäftigt und ich muss gestehen, er hat mich durch seine Ernsthaftigkeit und akribischen Analysen überzeugt, dass seine Gedanken durchaus sehr überlegenswert sind. Ich würde mir wünschen, dass ihr ihm eine Chance gebt, damit er euch das irgendwann auch erklären - und auch euch überzeugen kann. Ich habe tatsächlich schon länger den Verdacht, dass in meinem Sohn sehr viel mehr steckt, als wir alle bisher vermutet haben. Ich bin jedenfalls sehr gespannt darauf, was er uns noch alles bringen wird. Vermutlich hat nichtmal er selbst eine Ahnung davon, wie weitreichend seine Forschungen sein könnten. Darum - lasst uns abwarten. Nächste Woche werden wir vielleicht schon mehr wissen.«
Der Blick, den er Giaci zuwarf, getränkt von Stolz und Zuversicht, hüllten Giaci in einen warmen Kokon voller Liebe und Dankbarkeit. Es war genau das, was der Junge seit Monaten schmerzlich vermisst hatte, ihn gebremst und verzagen lassen.
Giaci saß da, schluckte heftig und presste dann ein leises »Danke« heraus, wozu Sandro lediglich nickte.
Gio und Sophia sahen sich kurz an, dann sprach Gio erneut in die aufkommende Stille.
»Ich merke gerade, wie sehr ich es vermisst habe, dass wir uns immer gegenseitig auf den richtigen Weg gezogen haben. Die Zeit ohne dich hat uns irgendwo in ein Vakuum geschubst, in dem wir nur noch existiert haben. Unsere ganzen Träume und Wünsche haben wir irgendwo vergraben und hatten kein Interesse daran, sie wieder auszugraben. Es war nicht nur Angelina, die da in ihrem Schmerz versunken ist. Wir haben uns selbst belogen, das wird mir gerade kristallklar. Vielleicht haben wir Giaci deswegen nicht anhören wollen. Er war - nein, er ist dir so ähnlich, so voller Pläne und Enthusiasmus und zielgerichtet, aber ich wollte davon nichts wissen, weil es eben nicht von dir kam. Giaci, es tut mir leid, dass wir dich so behandelt haben, als wenn du deinem Vater nicht das Wasser reichen könntest. Es war mehr als unfair. Wir haben ihn so vermisst, dass wir nicht erkannt haben, dass du ein Teil von ihm bist. Neben Angelina der wichtigste Teil überhaupt. Ich verspreche, ich werde es von nun an nicht mehr vergessen.«
Was Giaci die ganze Zeit vermeiden wollte trat nun ein.
Er brach in Tränen aus.