Nachdem ich mich entschieden hatte, versuchte ich so viel Normalität wie es ging in mein Leben zu bringen.
Alessio hielt sich, wie versprochen, meistens bei seinen Eltern auf, Giaci verzog sich am Wochenende oft zu seiner Studpartnero. In der Woche hatten die Jungs genug mit der Schule zu tun und ich versuchte, mich mit meiner eigenen Arbeit abzulenken.
Die Prüfungen dauerten Wochen, aber beide Jungen meisterten sie sehr gut. Nach der letzten mündlichen Prüfung fiel endlich die Anspannung ab und in beiden Familien kehrte wieder ein wenig Ruhe und Gelassenheit ein.
Es war geschafft, sie hatten die erste Hürde genommen und sich nun eine Pause verdient.
Giaci war nun öfter zu Hause bei Francesco und mir, saß aber die meiste Zeit in seinem Zimmer und brütete über seinen Nachforschungen die Savantoj betreffend nach. Irgendetwas beschäftigte ihn ungemein, aber nach seinen ersten Erfahrungen mit Gio und Sophia hielt er sich bedeckt und seine Ideen mehr für sich. Einzig Alessio schien er einzuweihen, allerdings berieten sie sich dann außerhalb der Wohnungen. Sie unternahmen viele Ausflüge, jedenfalls würde ich sie als solche bezeichnen. Sie waren dann über Stunden weg und kamen mit ihren Notizbüchern zurück, die sie aber niemandem zeigten, sondern sorgsam verbargen.
Was auch immer sie ausheckten, für sie schien es sehr wichtig zu sein. Da sie, speziell Giaci, sich aber nicht dazu äußern wollten, hatte ich aufgegeben, ihre Geheimnisse zu entschlüsseln und wartete ab, bis sie es von allein erzählen wollten.
Alessio war mir gegenüber zurückhaltend. Trotzdem hatte ich das untrügliche Gefühl, dass er mich heimlich beobachtete. Nicht auf unangenehme Art. Eher so, als wenn er meine Laune und die Einstellung zu ihm erkennen wollte. Es würde nicht mehr lange dauern, ehe die Altersfestsetzung im Raum stand, und wie immer, verging die Zeit schneller, als man denkt.
Mir war immer noch nicht wohl dabei, aber ich gewöhnte mich an den Gedanken, dass wir diesen Tag irgendwann auch durchstehen würden und sich dann alles wieder normalisieren konnte. Zumindest hoffte ich das.
Dann bemerkte ich Francescos kleines Geheimnis, welches er bis dahin ebenfalls sorgsam vor uns allen versteckt gehalten hatte. Es kristallisierte sich heraus, wohin seine häufigen Ausflüge "zu Freunden" am Wochenende hingingen.
Eines Tages verplapperte er sich, als ich ihn nach seinen Wochenendplänen fragte und seiner tomatenreifen Gesichtsfarbe nach zu urteilen, war es ihm äußerst unangenehm. Wobei ich es wiederum ausgesprochen niedlich fand.
Er gab nämlich zu, dass er sich immer zu derselben Person begeben hatte.
»Weißt du, Angelina, als sie alle zu Besuch hier waren damals, da habe ich gemerkt, wie gut ich mich mit Ricarda verstehe. Da ergab eines das andere. Ich fragte sie, ob ich sie mal besuchen könne und dann spielte es sich fast von allein ein. Wir ... naja, wir sind jetzt irgendwie zusammen und planen eine gemeinsame Zukunft. Ich bin natürlich trotzdem immer für dich da, das weißt du hoffentlich?«
Ich musste schmunzeln, als er das sagte.
»Francesco, ich finde nicht, dass du dir Sorgen um mich machen musst. Ich bin dir sehr dankbar, dass du mich so viele Jahre unterstützt hast, aber wenn du jetzt eigene Pläne hast, werden wir dir nicht im Wege stehen. Giaci, Alessio und ich haben immer noch Gio und Sophia und die Jungen sind fast erwachsen, da sollte es - bis auf eines - keine Probleme mehr geben. Und dieses eine ... an dem können wir beide nichts ändern und es wird auch in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören. Giaci geht seinen Weg, egal, was wir anderen dazu sagen. Er hat einige Nachforschungen getätigt und wenn er meint, dass es spruchreif ist, wird er uns einweihen. Ich lasse ihn alles erkunden, was er will, es ist schließlich seine Zukunft, da darf er auch mitreden. Ich freue mich sehr, dass Ricarada und du euch gefunden habt. Was hältsts du davon, wenn du sie hierher einlädtst? Ich würde mich freuen, sie mal wiederzusehen.«
»Meinst du wirklich? Ist das nicht etwas unpassend, wenn ...?« Er schaute mich tatsächlich unsicher an und seine Gesichtsfarbe änderte sich in ein leicht anghauchtes Rosa.
»Was genau soll daran unpassend sein? Lade sie ein, das Zimmer musst du dann eben mit ihr teilen, aber ansonsten sehe ich kein Problem.«
Es war niedlich, wie sehr er sich über meinen Vorschlag freute.
Von da ab kam uns Ricarda regelmäßig besuchen. Wir freuten uns alle über Francescos Glück, hatten wir doch nicht mehr damit gerechnet, dass er sich jemals von dem Verlust seiner großen Liebe Giulia erholen würde.
Allmählich fand sich jeder in der Familie in seinem Leben zurecht und richtete sich danach ein, aber je näher Alessios und Giacis Altersfestsetzung rückte, desto mehr packte mich die Sehnsucht nach der Toskana. Mein Herz hing an unserem Haus und der Landschaft, die mich jeden Morgen begrüßt hatte. Ich wollte unbedingt wieder zurück, selbst wenn ich all meine Freunde hierlassen müsste. Mit der Zeit verfolgte ich Giacis Pläne mit mehr Aufmerksamkeit.
»Ich glaube, wir können die Menschen nicht dazu bewegen, sich zu ändern, sonst hätten wir das doch im Laufe dieser vielen Jahrzehnte schon ansatzweise schaffen müssen. Wir müssen einen Weg finden, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Ihnen eine neue Chance verschaffen, es besser zu machen. Sie sehen in der Zwischenzeit ja schon, dass sie vieles verkehrt gemacht haben, aber sie wissen nicht, wie sie es ändern können. Ich finde noch heraus, was es mit diesem Auftrag auf sich hat und dann finde ich auch einen Weg, wie wir uns allen helfen können.«
Auch wenn mir diese Gedankengänge noch etwas fremd waren, so verstand ich doch, was ihn zu dieser Annahme brachte. Zusammen mit Alessio hatte sich Giaci intensiv mit der Entstehung der Savantoj befasst und er hatte bei den sogenannten Alten einiges herausgefunden, was die Thesen der Savantoj gehörig durcheinander brachten. Noch wollte er nicht über alles reden, aber er ließ einges fallen, was mir zeigte, dass er sich nicht mit allgemeingültigen Vorgaben abspeisen lassen würde. Ich hatte nach meiner anfänglichen Skepsis ein ganz gutes Gefühl dabei. Vielleicht war es längst überfällig, dass junges Blut frischen Wind in unsere Mission brachte. Er schien sich jedenfalls sehr sicher zu sein, auf dem richtigen Weg zu sein und da er alles sorgsam dokumentierte würden wir irgendwann auch über all seine Gedanken reden können. Den Zeitpunkt sollte er bestimmen, er hatte sich vorläufig dazu entschieden, seine Altersfestsetzung abzuwarten. Vermutlich versprach er sich davon, dass seinen Aussagen mehr Gehör geschenkt würde, wenn er als erwachsen galt. Mit dieser Einschätzung lag er sicher nicht ganz verkehrt.
Die Zeit raste, mit jedem Jahr kam es mir schneller vor.
Dann kam er, der Tag, den ich am liebsten vergessen wollte. Sophia und Gio holten mich zu sich herüber, Giaci und Alessio nahmen an unserem Treffen ebenso teil und ich ahnte bereits, was das Thema sein würde.
Mit gemischten Gefühlen setzte ich mich in den Sessel.
»Wir haben unsere Altersfestsetzung jetzt geplant und wollten euer Einverständnis dafür einholen«, begann Giaci das Gespräch.
Ich versank ein wenig tiefer im Sessel und nickte zögernd. Irgendwann musste es ja soweit sein.
»Alessio würde gern am nächsten Sonntag und ich dann eine Woche später. Gibt es Einwände von euerer Seite?«
Mein Blick schoss zu Alessio. Diesmal wich er mir nicht aus, er schaute mich an und sein fragender Blick brannte sich in meinen, er traf mich bis in mein Herz, das unwillkürlich einen Satz machte.
»Dann bringen wir es hinter uns.«
Beinahe tonlos perlten die Worte von meinen Lippen.
»Ich bin einverstanden.«
Ich erhob mich und wollte die Runde ohne ein weiteres Wort verlassen. Ich spürte Alessios Blick in meinem Rücken. An der Tür wandte ich mich doch noch einmal um.
»Ich erwarte dich dann Sonntag früh, Alessio.«
Danach ging ich zurück in meine Wohnung.