Angelina
Engelchen?
Ich schreckte hoch und setzte mich kerzengerade im Bett auf.
»Sandro? Du ... lebst?«
Nein, leider nicht mehr. Deine Hilfe kam zu spät. Es hat nicht mehr für uns beide gereicht. Ich konnte nur noch dein Schattenherz heilen - und unser Band ist noch da ...
»Wie meinst du das? Ich höre dich doch? Wo bist du?«
Ich bin bei dir. Nur nicht mehr körperlich, aber ich kann dir immer noch beistehen und immer mit dir reden wenn du deine Tür aufmachst.
»Aber ...«
Pssst, sprich nicht laut, sonst halten dich alle für verrückt. Erinnere dich ...
Ich ließ mich zurück in die Kissen sinken und schloss die Augen. Das bildete ich mir nur ein!
Die Trauer, der Schmerz, diese Hoffnungslosigkeit. War doch klar, dass ich langsam Halluzinationen bekam.
Ich verstehe, dass du es nicht glauben willst, aber du wirst dich hoffentlich daran gewöhn...
Ich schloss rasch die Tür.
Dann drehte ich mich um und versuchte, wieder einzuschlafen.
Sandro war tot.
Ich wurde verrückt.
Egal, dachte ich - und schlief wieder ein.
Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Sandro war mir in meinen Träumen erschienen und hatte mich im Arm gehalten - jetzt wollte ich die grausame Wahrheit nicht wahrhaben und hätte mich am liebsten einfach umgedreht. Die Tränen liefen mir ungefragt schon wieder aus den Augen, ich schluchzte leise vor mich hin, weinte in das Kissen und wollte nicht mehr. Ich wollte gar nichts mehr! Sandro war tot. Nichts konnte das ändern.
Als ich den Nachttisch ansah, stellte ich fest, dass mir Sophia irgendwann wieder ein Frühstück hochgebrachte haben musste. Ich hatte keinen Hunger.
Aber mir war klar, dass sie bald zu anderen Mitteln greifen würde, wenn ich nicht freiwillig etwas zu mir nehmen würde. Seit Tagen drückte ich mich drum herum. Lediglich den Tee hatte ich getrunken, aber das Essen hatte Sophia immer wieder unberührt mit runter genommen. Ab und zu hörte ich sie seufzen, wenn sie dachte, dass ich schlief und das Essen wieder unberührt geblieben war.
Ich hätte längst hinunter gehen sollen, aber ich hatte solche Angst.
Sie mussten mir doch die Schuld an Sandros Tod geben - ich wollte mich nicht ihren vorwurfsvollen Blicken stellen, weil ich an meinen eigenen Vorwürfen schon zerbrach. Dass ich sie und mich so enttäuscht hatte war unverzeihlich.
DAS KONNTE MIR NIEMAND VERZEIHEN!
Am allerwenigstens ich.
Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, Engelchen! Und mach ja nicht wieder die Tür zu - ich habe keine andere Möglichkeit als diese und du musst mir noch etwas versprechen! Selbst wenn du dich noch nicht mit mir unterhalten willst. Bitte hör mir zu, Angelina.
Schon wieder diese Stimme, die mir vorgaukelte, dass ich Sandro noch bei mir hätte. Ich wollte im ersten Moment schon die Tür zuschlagen, da stockte ich wegen des nächsten Satzes - und der sanften Stimme dazu. Sandros Stimme, die mich bat:
Kümmere dich immer um deine Kinder! Bitte, ich helfe dir, aber du musst für sie leben und ihnen helfen, ihren Weg zu finden. Versprich es mir!
Ich war so geschockt, dass ich automatisch nur dachte - meine Kinder?
Dann schlug ich die Tür zu. Furchtbar, dass ich immer mit offener Tür aufwachte, ich hatte noch keine Lösung dafür gefunden.
Jetzt war ich aber hellwach und starrte das Tablett an. Es half nichts, ich musste etwas essen - und mich dann meinen Zieheltern stellen. Wie konnte ich sonst weiter unter ihrem Dach leben? Vermutlich würden sie mich sowieso bald rausschmeißen, wenn ich wieder auf den Beinen war. Ich sollte mich vielleicht zusammennehmen, damit ich ihnen nicht länger zur Last fiel. Sie konnten meinen Anblick sicher kaum noch ertragen.
Ich quälte mich aus dem Bett und ging hinüber ins Bad. Als ich in den Spiegel sah, erschrak ich doch.
Solche dunklen Augenringe, dicke, rote verquollene Augen vom vielen Weinen und mein Gesicht völlig eingefallen! Meine Haare zerzaust und glanzlos. Ich sah so aus, wie ich mich fühlte.
Kraftlos stieg ich unter die Dusche und fühlte mich danach tatsächlich ein wenig besser. Ich schlich zurück in mein Zimmer, zog mir etwas an, was ich im Schrank fand. Es waren Sachen von Marcella, die sie bei ihrem Auszug hier gelassen hatte.
Ich musste schlucken.
Was würde ich dafür geben, wenn wenigstens sie hier wäre. Oder Marie. Irgendjemand, der mit mir diesen Weg nach unten antreten würde. Es kam mir vor, als wenn ich zu meiner eigenen Hinrichtung gehen musste.
Ich schob es nochmal weg, weil ich diesmal wenigstens etwas essen wollte. Ängstlich kaute ich auf den Bissen herum, bis ich nach ewigen Zeiten endlich etwas herunterwürgte. Der Tee war schon alle und das Brot nach diesen Stunden schon vertrocknet, aber ich schmeckte sowieso nichts. Die Angst schnürte mir den Hals zu und ich war erstaunt, dass ich überhaupt einen Bissen herunterschlucken konnte. Irgendwann gab ich auf und ließ den Rest auf dem Teller.
Ich atmete tief ein und nahm mit zitternden Händen das Tablett auf. Ob das gutgehen würde?
Schritt für Schritt ging ich zur Tür. War der Weg schon immer so lang gewesen. Meine Herzen klopften stark und flatternd in meiner Brust, sie schlugen bis zu meinem Hals und mir wurde einen Moment schlecht, sodass ich kurz stoppte. Dann griff ich zur Türklinke, öffnete die Tür und machte mich schweren Herzens auf, ihnen unter die Augen zu treten.
Auf wackeligen Beinen ging ich die Treppe herunter, Stufe für Stufe und wagte nicht hochzusehen, sondern steuert sofort die Küche an, um das Tablett abzustellen, bevor es mir noch herunterfallen würde. Das leise Gespräch zwischen Sophia und Gio war verstummt, ehe ich es wagte, mich umzudrehen. Ich hielt den Blick gesenkt, die Stille brüllte mich an.
Als ich es endlich nicht mehr aushielt hob ich den Blick und schaute geradewegs in Gios traurige Augen, ein Blick, der mir durch Mark und Bein ging. Ich konnte ihn aber auch nicht abwenden und es war furchtbar, welch graue Gesichtsfarbe er hatte. Sophia stand neben ihm, sie klammerte sich an Gios Arm fest und er sah mich nur an.
Beide waren aufgestanden, ließen mich nicht aus den Augen.
Ich merkte, wie meine Knie anfingen zu zittern und drohte einfach zusammenzusacken, da kam Gio schon auf mich zugestürzt und fing mich auf.
Meine Hände klammerten sich verzweifelt an ihm fest. Ungläubig hörte ich seine beruhigende Stimme.
»Endlich bist DU wenigstens wieder bei uns.«
Ich tat das, was ich seit Sandros Tod die ganze Zeit getan hatte.
Weinen.