Giacomo war immer hungrig, sobald er die kleinen Äuglein öffnete.
Das Stillen funktionierte ganz gut, die Milch schoss innerhalb des ersten Tages schon ein und wir kamen prima miteinander zurecht.
Meine Bettnachbarin war eine stille freundliche Frau, die sich sehr liebevoll um ihren kleinen Sohn kümmerte. Zwar immer sehr bedächtig, aber immerhin schaffte sie es ohne Hilfe.
Ganz anders als mein Giacomino hatte Alessio sehr viel mehr Flaum auf dem Köpfchen und dieser war nicht blond, sondern erschien mir pechschwarz, schimmerte im Sonnenlicht sogar ein wenig blau.
Adelia war die Liebe zu dem Säugling ins Gesicht geschrieben - ich mochte ähnlich auf sie wirken.
Ich fühlte mich am Nachmittag schon wieder soweit gut, dass ich mit dem Kind in die Besucherzone wechseln konnte, so hatte Adelia das Zimmer für sich. Besuch sah ich keinen bei ihr, aber ich fragte auch nicht nach. Wenn sie nicht von sich aus darüber reden wollte, ging es mich nichts an, auch wenn sie mir leidtat.
Gegen zehn Uhr abends wurden die Kleinen das das letzte mal gestillt, dann kehrte die wohlverdiente Nachtruhe für uns ein, bis zum nächsten Morgen. Die Schwestern kümmerten sich um die Kinder, die Mütter durften sich erholen.
Es war elf, ehe das Füttern und Wickeln und Wiegen vorüber war und wir uns entspannt in die Betten legten und das Licht löschten.
Doch meine Nachtruhe hielt nicht lange vor, denn ich hörte leise unterdrückte Weingeräusche aus dem Nachbarbett. Ich überlegte noch einen Moment, dann fragte ich doch vorsichtig nach.
»Adelia? Hast du Schmerzen?«
Sie verstummte augenblicklich. Kurz danach weinte sie wieder.
»Nein, entschuldige, dass ich dich geweckt habe. Ich bin nur ... ich bin total verzweifelt und weiß nicht, was ich tun soll.«
Ich mühte mich trotz meiner Erschöpfung aus meinem Bett und schaltete mein Nachtlicht an, ehe ich hinüberging und mich auf ihre Bettkante setzte.
Ich ergriff ihre Hand und sie blinzelte mich tränenverschleiert an, das grüne Licht blitzte für einen Moment auf.
»Was bedrückt dich denn so, Adelia? Ist was mit deinem Kleinen nicht in Ordnung?«
Ich merkte, wie sich mein Herz zusammenzog bei diesem Gedanken. Das wäre wahrlich ein Grund, um verzeifelt zu sein.
Aber sie schüttelte kraftlos den Kopf, brauchte aber einen Moment, um mir zu antworten.
»Nein, wenigstens das ist mir erspart geblieben«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. Ich fühlte mich so hilflos, wie seit Sandros Tod nicht mehr und ich drückte sanft ihre Hand, während ich geduldig wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Dann begann sie zu erzählen, und mir wurde bei jedem Wort ein wenig kälter.
»Es sollte die Krönung unserer Liebe sein und nun ist alles so traurig. Und so hoffnungslos ...«, begann sie stockend.
Mehr als mit der anderen Hand über ihren Arm zu streicheln blieb mir nicht.
»Alessios Vater ist tot. Er starb vor acht Wochen, er hat unseren Sohn nicht einmal mehr sehen können.« Wieder flossen die Tränen ungehemmt.
»Das ... das tut mir unendlich leid. Ich kenne diesen Schmerz. Mein Sandro ist auch tot und ich weiß immer noch nicht, wie ich ohne ihn das alles leisten kann.« Jetzt stiegen auch mir die Tränen in die Augen und ich musste heftig blinzeln als sie sprach, aber ich schluckte es wieder herunter, weil Adelia scheinbar noch mehr auf dem Herzen hatte.
»Wie furchtbar, Angelina. Ich kann das nachempfinden. Aber ich hoffe, dass du wenigstens gesund bist und euer Kind aufziehen kannst?«
»Ja, bin ich«, gab ich erstaunt zurück. Was sollte diese Frage?
»Ich habe nicht mehr lange zu leben ... höchstens noch sechs Monate. Dann muss ich mein Kind allein zurücklassen und das bricht mir das Herz.«
Ich saß wie gelähmt da und wollte es nicht glauben. Das konnte doch nicht wahr sein?
»Adelia! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Gibt es gar keine Hoffnung für dich?«
Ich strich sanft über den Arm, aber Adelia schüttelte den Kopf.
»Ich konnte mich nicht behandeln lassen wegen der Schwangerschaft und nun ist es zu spät. Es geht mir noch gut, aber das kann sich schnell ändern. Verwandte habe ich keine mehr, leider auch noch keine Freunde gefunden. Mein Mann hatte mich hierhergeschickt, um uns zu schützen. Er starb auf einer Mission weit weg von hier. Ich habe nichts mehr - außer meinem Sohn. Was hat er dann noch, wenn ich nicht mehr da bin?«
Sie drehte sich zur Seite und weinte still in ihr Kissen. Ich blieb bei ihr sitzen, bis sie sich beruhigt hatte. Irgendwann stand ich auf und ging hinüber zu meinem Bett, setzte mich auf die Kante.
»Das kann ich mir nicht mal vorstellen, Adelia. Aber ich verspreche, wir werden eine Lösung finden. Alessio soll in kein Waisenhaus kommen. Wir finden eine andere Möglichkeit. Versuche ein wenig zu schlafen. Der kleine Mann wird nachher noch genug Kraft kosten. Wir überlegen uns etwas.«
Ich löschte nach einem letzten Blick ins Nachbarbett das Licht und kuschelte mich unter meine Decke.
Am Vormittag setzte Adelia tapfer ein Lächeln aufs Gesicht und kümmerte sich liebevoll um ihren kleinen Sohn. Ich beobachtete sie sorgenvoll, verstand ich doch jetzt die Trauer, die zeitweise in den Blicken der jungen Frau aufblitzte und einen Schatten über ihre Miene huschen ließ.
Als überraschend Francesco aufkreuzte, holte ich mir einen Kinderwagen von den Schwestern, bugsierte Giaco hinein und ging mit Francesco hinaus in die Parkanlage.
Frische Luft, Sonnenschein und einen netten Begleiter, da konnte ich meinen Gedanken nachhängen. Francesco merkte, dass mich etwas beschäftigte und fragte vorsichtig nach.
Ich gab mir einen Ruck und erzählte ihm von dem Drama meiner Bettnachbarin.
»Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Nicht nur, dass sie ihren Mann verloren hat, jetzt sorgt sie sich um ihren kleinen Sohn, der bald allein auf der Welt sein wird, weil sie todkrank ist. Wie furchtbar kann ein Schicksal zuschlagen?«
Wie zu erwarten war, nahm auch Francesco diese Neuigkeit mit Betroffenheit auf.
»Wo wohnt sie denn jetzt? Kommt sie da allein zurecht, wenn es ihr schlechter gehen wird? Ich habe heute gar nicht mit schlechten Nachrichten gerechnet. Hast du eine Idee, wie man ihr helfen könnte?«
Das war genau die Frage, die mich seit der letzten Nacht auch unablässig beschäftigte. Es stand außer Frage, dass ich Adelia nicht ohne Unterstützung lassen konnte, jetzt wo mir ihre Lage bekannt war.
Aber wie?
»Ich habe überlegt, ob ich die Beiden nicht mit mir nehme - zu mir nach Hause. Sandros Haus ist nicht so groß, aber wir sollten alle darin Platz finden. Besser, als wenn sie ganz allein irgendwo hockt mit dem Kind. Was passiert, wenn sie zusammenbricht und niemand merkt es? So wäre immer jemand da, der sich um alles kümmern könnte. Was meinst du - wäre das für den Anfang eine akzeptable Lösung?«
Ich schaute ihn zweifelnd an, aber an Francescos aufgerissenen Augen erkannte ich sofort, dass er die Idee nicht so schlecht fand.
»Sophia und Gio helfen bestimmt auch aus, wenn es nötig ist. Eigentlich wolltest du ja bei ihnen bleiben für die ersten Wochen, oder?«
»Ja, wollte ich. Nun überlge ich, ob ich doch lieber mit Adelia und den Säuglingen in unser eigenes Haus zurückgehe. Gio und Sophia können uns nicht alle aufnehmen. Zusammen schaffen wir das schon.«
Francesco nickte verstehend.
»Ich helfe euch jederzeit gern. Ich bin froh, wenn ich auf andere Gedanken komme und eine helfende Hand könnt ihr sicher immer gebrauchen. Windeln wechseln werde ich auch noch lernen.«
Ich musste lachen und fiel ihm um den Hals.
»Das müssen wir ja alle erst lernen, da bist du in guter Gesellschaft. Du bist ein Schatz, dass du deine Hilfe anbietest. Es nimmt mir ein wenig die Sorge, dass ich mich jetzt gerade doch übernehme. Nur wenn ich Adelia das vorschlage, will ich auch keinen Rückzieher mehr machen. Sie hat wirklich schon genug Sorgen und da kommt mir dein Angebot sehr gelegen.«
»Du bist auf keinen Fall alleine, Angelina. Wir müssen nur in Ruhe über alles nachdenken und dann mit Adelia beraten, was machbar ist. Sie muss sich dabei wohlfühlen und sollte sich nicht gedrängt fühlen. Mal sehen, was sie zu deinem Vorschlag sagt. Mit Sophia und Gio müssen wir auch noch reden. Soll ich sie vielleicht schon vorwarnen? Sie werden bestimmt am Nachmittag wiederkommen, dann wäre es von Vorteil, wenn sie nicht gleich völlig überrascht sind. Falls du bis dahin schon mit Adelia sprechen konntest.«
Ich nickte nachdenklich.
»Das ist bestimmt keine schlechte Idee. Danke! Wollen wir jetzt wieder zurück? Mir wird langsam kalt und Giaci bekommt sicher bald wieder Hunger.«
»Der hat ein Leben! Überall Liebe um ihn herum und ansonsten nur essen und schlafen.« Francesco schmunzelte.
»Ab und zu braucht er auch noch eine frische Windel und ein Bad. Ansonsten gebe ich dir recht. Aber, so haben wir alle angefangen.«
Gut gelaunt machten wir uns auf den Rückweg.