Es klopfte an Inspektor Theodore Andrews Bürotür auf dem Polizeikommissariat in der Baker Street. Nach einem mürrischen „Herein“, trat Constable Williams ein und salutierte vor seinem direkten Vorgesetzten.
„Inspektor, Sir, es wurde schon wieder eine Leiche gefunden“, meldete der Constable seinem Vorgesetzten Andrews. Der saß an seinem Schreibtisch und las in der Akte eines alten Mordfalls. Dabei schlürfte er eine Tasse Kaffee. Er hatte es sich angewöhnt, in unregelmäßigen Abständen in den Akten ungelöster Mordfälle zu stöbern, in der Hoffnung, doch noch einen winzigen Hinweis auf den Täter zu finden und diesen damit überführen zu können. Dies tat er meist, wenn London wieder einmal so verregnet war, dass man keinen Hund vor die Tür jagte oder er in einem anderen Fall nicht weiterkam. So lenkte er sich ab. Oft kam er dabei der Lösung eines laufenden Falles näher.
Andrews schaute von dem Dokument hoch. „Schon wieder“, murrte er. „Wer ist es denn diesmal? Wieder ein Gangsterboss? Oder doch nur ein kleiner Halsabschneider? Eine Hure?“
„Das entzieht sich leider meiner Kenntnis. Sicher ist nur, es ist eine männliche Leiche“, erwiderte der Constable.
„Wie?“ Fragend sah der Inspektor den Constable an.
„Na ja, der Tote ist arg aufgedunsen. Er lag wohl schon längere Zeit im Wasser, ehe er ans Ufer der Themse gespült wurde.“
„Eine Wasserleiche. Na danke, auch das noch! Ist sie schon in der Pathologie?“
„Noch nicht. Sie liegt noch am Fundort“, antwortete Williams. „Sie sollen dorthin kommen und sich die Sache anschauen.“
„Kann das nicht warten? Ich habe noch zu tun“, Andrews zeigte auf die Akte vor sich. Er hatte gehofft, den heutigen verregneten Tag im Kommissariat in der Baker Street verbringen zu können. Das vorherrschende Wetter tat auch noch seins dazu, seine Laune nicht zu verbessern. Doch Chief Inspektor Harrison, der Revierleiter der Polizeistation, hatte wohl anderes mit ihm vor. Also musste er tun, was der von ihm verlangte.
„Tut mir leid. Befehl von ganz oben. Sie sollen den Fall übernehmen“, sagte der Constable und zeigte an die Decke. Über Andrews Büro befand sich das seines Vorgesetzten, Er verstand und beugte sich dem Willen des Bosses.
Schnaufend erhob sich der recht beleibte Inspektor von seinem Stuhl. „Was solls, gehen wir“, meinte er und nahm seinen Mantel und den Hut.
Vor dem Kommissariat stand bereits eine Droschke bereit, die Andrews und den Constable zum Tatort bringen sollte. Kaum saßen die beiden auf ihren Plätzen, ließ der Kutscher schon die Pferde antraben. Mit lautem Hufgeklapper ging es durch die engen Straßen in Richtung Fluss. Ohne Rücksicht auf Fußgänger und andere Droschken preschten sie durch die Stadt. Der ein oder andere Passant musste mit einem gewagten Sprung sein Leben retten, sonst wäre er unter die Räder der Kutsche oder die eisenbeschlagenen Hufe der Pferde geraten.
Die beiden Insassen der Karosse wurden mächtig durchgerüttelt. Nicht nur einmal stießen sie mit dem Kopf an die Kutschenwand oder fielen gleich vom Sitz. Schimpfend hämmerte Inspektor Andrews mit der Faust gegen das Holz. Doch der Kutscher hörte nicht. So ging es weiter in rasantem Tempo in Richtung Fluss. Mit viel Mühe gelang es Andrews und Williams, die Fahrt beinahe unbeschadet zu überstehen.
„Hundsfott, kannst du nicht ordentlich fahren“, schimpfte Andrews mit dem Kutscher, der seelenruhig auf dem Bock saß, als würde ihn alles nichts angehen.
„Ich bekam Order, sie so schnell wie möglich hierher zu bringen“, knurrte der Mann.
„Wer sagte das?“, knurrte Andrews zurück.
„Chief Harrison“, kam als Antwort. „Er meinte, es wäre wichtig. Also trieb ich die Pferde an.“
Dem hatte Andrews nichts zuzusetzen. Befehle des Chiefs waren Gesetz, egal ob für Kutscher, Constable oder Inspektor. Dem hatte sich jeder zu fügen. Anstatt sich weiter über die Fahrweise des Droschkenfahrers zu echauffieren, wandte er sich an Constable Williams. „Gehen wir“, wies er diesen an und ging voran zu der Gruppe Menschen, die sich um ein Bündel am Themseufer versammelt hatte.
Zum Glück hatte es inzwischen aufgehört mit regnen, sodass sie einigermaßen trockenen Fußes den Tatort betreten konnten. Das beschwichtigte Andrews aufgeregtes Gemüt ein wenig.
„Aus dem Weg, gehen sie aus dem Weg“, befahl Inspektor Andrews aufgeregt, als bei der Ansammlung ankam. Herrisch bahnte er sich eine Schneise durch die herumstehenden Menschen. Obwohl er bereits viele Jahre im Dienst der Polizei war, überkam ihn bei jeder Ermittlung erneut eine Aufregung, die er nicht bändigen konnte. So sehr er sich auch mühte, es gelang ihm nicht. Daher schnaufte er kurz durch, ehe er sich an die Ermittlungen machte.
„Was haben wir denn da?“, rief er aus, nachdem er den Leichnam erreicht hatte. Dabei zog er das nasse Tuch weg, in das der leblose Körper eingewickelt war. „Ach du liebe Scheiße“, entfuhr es ihm erschrocken. Der Tote war aufgedunsen, das Gesicht kaum noch als solches erkennbar. Die strähnigen Haare klebten am Kopf. Der Leib blähte sich immens. Es hätte nur eines winzig kleinen Stoßes bedurft und der Verstorbene wäre geplatzt. Auf der Brust in Höhe des Herzens war die Kleidung zerrissen. Es sah aus wie ein Einschussloch. Genau konnte das Andrews nicht sagen, dazu müsste er die Leiche genauer untersuchen lassen. „Lag wohl schon länger im Wasser“, stellte Andrews stirnrunzelnd fest.
„Das sagte ich bereits“, machte sich Constable Williams bemerkbar, der hinter dem Inspektor herangetreten war und nun die Leiche ebenfalls anstarrte.
„Habe ich sie nach ihrer Meinung gefragt?“, fuhr Andrews den Mann an.
„Sir, nein, Sir“, stammelte Williams errötend und stand stramm.
„Also Maul halten und nur was sagen, wenn sie gefragt werden“, forderte Andrews ihn auf und wandte sich wieder der Wasserleiche zu. Das „Jawohl, Sir“, überhörte er beflissentlich.
Der Tote wurde eingehend begutachtet, soweit es die Begebenheiten vor Ort zuließen. Andrews betrachtete das Gesicht. Doch es wollte ihm partout nicht einfallen, wer der Verstorbene sein könnte. Das Antlitz kam ihm bekannt vor. „Schauen sie sich den Mann an“, wandte er sich an den Constable. „Ich habe den schon gesehen. Aber wo?“
Williams trat erneut heran. Er schaute einige Zeit auf die Leiche und schüttelte dann den Kopf. „Sir, ich weiß es nicht“, sagte er dann. „Er kommt mir auch bekannt vor. Aber das Gesicht ist zu verquollen und entstellt, um es genau erkennen zu können.“
„So kommen wir nicht weiter“, erwiderte Andrews kopfschüttelnd.
Nun wandte er sich an die umherstehenden Männer, die die beiden Polizisten bei ihrer Arbeit beobachteten. „Wer hat den Toten gefunden?“, fragte er.
„Wir alle“, erwiderte einer der Männer.
„Wie kam es dazu?“
„Wir waren hier spazieren, wie jeden Tag am Nachmittag, ehe wir uns in den Salon begeben, um dort Karten zu spielen und zu rauchen“, sagte ein anderer. „Da entdeckten wir hier ein großes Bündel am Ufer. Dem gingen wir nach und entdeckten die Leiche. Sie war bereits tot. Wir konnten nichts mehr ausrichten.“
Der Inspektor grinste. „Das haben Leichen so an sich, dass sie tot sind“, erwiderte er. „Wie es aussieht, ist der Kerl schon länger tot“, sagte er dann. Er zückte seinen Notizblock und fragte nach den Namen und Wohnadressen der Zeugen. „Falls ihnen noch etwas einfallen sollte, kommen sie bitte in mein Büro in der Baker Street.“ Er reichte einem der Männer noch ein kleines Kärtchen, auf dem sein Name und sein Dienstrang stand. Dann entließ er die Gruppe.
Die Männer jedoch wollten nicht gehen, sondern die Polizisten bei der Arbeit beobachten. „Hier gibt es nicht mehr zu sehen“, fuhr der Inspektor die Neugierigen an. „Gehen sie bitte und lassen sie uns unsere Arbeit tun.“ Er wedelte mit den Händen, als wolle er lästige Fliegen verscheuchen. Erst jetzt verließen die Zeugen den Ort des Geschehens.
Währenddessen sah sich Constable Williams in der Umgebung des Fundorts um. Doch außer dem üblichen Müll, den die Londoner Bürger im Fluss entsorgten und der ans Ufer gespült wurde, fand er nichts, was zur Lösung des Falls relevant wäre.
„Haben sie etwas gefunden?“, fragte Inspektor Andrews, der den Constable aus dem Augenwinkel heraus beobachtet hatte.
„Nein, Sir, nichts“, rief Williams ihm zu und blickte sich weiter um. Aber er sah immer noch nichts, worauf er sein Unterfangen aufgab und sich wieder zu seinem Vorgesetzten gesellte.
„Ich habe auch nichts gefunden, was die Identität des Toten aufklären könnte“, sagte Andrews genervt. „Ich mag ihn auch nicht mehr bewegen oder anfassen. Nicht, dass er noch platzt. Dann haben wir den Mist an der Backe. Lassen wir ihn zur Pathologie abtransportieren. Vielleicht findet unser guter Doktor etwas.“ Er erhob sich ächzend. „Lauf zum Kutscher, er soll zurück ins Revier fahren und den Leichenwagen anfordern“, befahl er Williams.
„Sir, wo soll der Leichenwagen hin?“, hörte er plötzlich einen Mann rufen, der ab der Seite eines Karrens, der neben der Droschke des Inspektors geparkt war, stand.
„Da ist uns wohl jemand zuvorgekommen“, meinte Andrews lachend und winkte dem Mann zu. „Hierher“, rief er laut, woraufhin sich der zweirädrige Wagen mit dem klapprigen Pferd davor in Bewegung setzte. „Ach, Scott, du bist es. Ich habe dich auf die Entfernung gar nicht erkannt“, sagte Andrews zu dem Leichenwagenfahrer, als der den Tatort erreichte. „Dabei hätte ich dich schon an deiner alten Mähre erkennen können.“
Scott schaute den Inspektor empört an. „Sir, wenn sie den Toten eigenhändig ins Revier tragen wollen, dann bitte… tun sie sich keinen Zwang an. Ich habe genug anderes zu tun, als mich von ihnen beleidigen zu lassen.“ Er knurrte erbost und wollte sich abwenden.
„Entschuldigung, das war nicht so gemeint“, versuchte Andrews den Mann zu beschwichtigen. „Kommt nicht wieder vor.“ Er griff in seine Hosentasche und zog einen Penny heraus. „Hier, geh nach getaner Arbeit einen trinken.“ Er wusste, Scott war dem Alkohol nicht abgeneigt.
Der Mann grinste. „Danke Sir“, sagte er und machte sich an die Arbeit, wobei ihm die beiden Polizisten zusahen.
„Ja, und nun?“, sinnierte Inspektor Andrews und führte ein Selbstgespräch, so wie er es immer tat, wenn er nicht wusste, wie er zum Abschluss einer Ermittlung kommen sollte. „Mit derzeitigem Stand kommen wir hier nicht weiter. Fahren wir zurück ins Büro und lassen unseren Doktor seine Arbeit tun. Inzwischen können wir schauen, ob es Vermisstenanzeigen gibt. Vielleicht ist da jemand dabei, der unserem Toten ähnlich ist.“
Während er mit sich selbst sprach, war er schon zur Droschke gegangen, wo Constable Williams ihn bereits erwartete. „Sir, bitte…“, sagte Williams und hielt seinem Vorgesetzten die Tür auf. Er half ihm sogar dabei, in die Kutsche zu steigen. Andrews nahm die Hilfe gerne an. Seine Knie schmerzten vom Hocken am kalten Wasser. Außerdem waren seine Schuhe und Hosenbeine nass geworden. Zum Glück hatte er Wechselkleidung im Büroschrank und konnte somit Hosen, Socken und Schuhe tauschen.
„Ich überlege immer noch, woher ich den Toten kenne“, sagte Andrews zum Constable, als sie zurück ins Revier fuhren.
„Mir geht es genauso“, erwiderte Williams und überlegte. „So wie ich mich erinnere, ähnelt auch keine Personenbeschreibung unserer letzten Vermisstenanzeigen dem Toten.“
„Vielleicht wurde er noch gar nicht als vermisst gemeldet“, fachsimpelte der Inspektor.
„Das könnte auch möglich sein“, sagte Williams. „Oder…“, er dachte nach, „der Tote stammt nicht aus London.“