Während Inspektor Andrews und Constable Williams die Verladung und den Abtransport der Gefangenen bewachten, näherte sich vom unteren Ende der Straße ein Mann. Als dieser das Polizeiaufgebot sah, duckte er sich sofort in eine Nische. „Was ist da los?“, murmelte er und spähte vorsichtig in Richtung Bordell. Eben wurde Stanley Brown in Handschellen aus dem Haus gebracht und dazu genötigt, die Polizeidroschke zu besteigen. Ihm folgte der ebenfalls gefesselte Carter Thompson, der sich wie wild aufführte und die fürchterlichsten Flüche ausstieß. Die Constable hatten ihn aber fest im Griff. Gegenwehr half nichts. Er wurde grob in die Kutsche gestoßen. Zwei Polizisten stiegen mit ein, ein weiterer setzte sich vorn neben den Fahrer und zwei andere platzierten sich am Heck. Ihre Schlagstöcke hielten alle für den Fall der Fälle parat.
„Auch das noch“, knurrte der Mann in seinem Versteck und machte sich noch kleiner als er schon war. Beinahe unsichtbar war er mit der Nische verschmolzen und es könnte nur ein Zufall sein, sollte er entdeckt werden. „Was mache ich jetzt?“, überlegte er. „Weshalb wurden Stanley und Carter festgenommen“, überlegte er weiter. Erst vor kurzem war er mit Carter unterwegs und hatte zwei von Stanleys Handlangern entsorgt, wie er es immer sagte. Er hatte Carter unten an der Brücke erwartet und kurzen Prozess mit den beiden Typen gemacht. Der eine hatte sich zwar vehement gewehrt. Doch gegen ihn hatte er keine Chance. Er war zu geübt im Töten. Nach einem heftigen Stoß fiel der Mann mit dem Kopf auf einen Stein. Der Angreifer nahm an, er war noch nicht hin. Um auf Nummer sicher zu gehen, hatte er noch das dünne Seil, das er stets bei sich trug, genommen und dem Kerl den letzten Rest gegeben. Kopfüber landete der dann in der Themse.
Mit dem zweiten Kerl hatte er ein leichtes Spiel. Carter hatte den zwar während des Kampfes mit seinem Kumpan festgehalten, doch er konnte trotzdem entkommen. Stanleys Handlanger war viel zu langsam, um ihn einzuholen. Er aber hatte sehr flinke Füße und so schnell konnte der andere gar nicht schauen, wie er sein Stilett in den Nieren stecken hatte. Der Tod folgte schneller auf dem Fuße, als er Amen sagen konnte.
Das Stilett allerdings vermisste er. Er konnte es auch nirgends finden. Wahrscheinlich hatte er es verloren, als Carter und er das zweite Opfer, genau wie das erste, mit dem Gesicht nach unten in der Themse deponierten. Erst viel später fiel ihm ein, am Tatort zu suchen. Aber als er dort ankam, war die Polizei schon vor Ort. Danach machte es keinen Sinn mehr, zu suchen. Also ließ er es sein, in der Hoffnung, dass niemand das Stilett als seines erkannte oder ihn sogar verriet.
Und nun hockte er in der engen Nische und musste mit anschauen, wie sein Auftraggeber und dessen Kompagnon abgeführt wurden. Nachdenklich schüttelte der Mann den Kopf. Sollte er schnellstens das Weite suchen, oder doch lieber in London bleiben?
„Erst einmal die Lage sondieren“, dachte er laut, „verschwinden kann ich immer noch. Arbeit werde ich auch immer finden. Egal, was, Hauptsache Geld.“
Er hatte sich schon oft die Finger schmutzig gemacht. Skrupel kannte er keine. Leben und überleben, war seine Devise. Es gab oft sehr heikle Situationen, wo er beinahe nicht entkommen konnte, ihm dann aber doch im letzten Moment die Flucht gelang.
Endlich saßen die Gefangenen in der Polizeidroschke. Andrews gab dem Kutscher noch die Anweisung, unbedingt auf direktem Wege zum Revier zu fahren und die Männer dort abzuliefern. Der Kutscher nickte nur und fuhr los. Laut ratternd kam er am Heimlichtuer in seinem Versteck vorbei. Der schaute gerade aus seiner Nische hervor, als die Kutsche vorbeifuhr. Aus dem Augenwinkel sah er Carters Profil am Fenster, wie er grimmig gerade aus starrte. Dann verschwand Gefährt schon um die Kurve am Ende der Straße.
„So ein Mist“, murmelte der Mann und spähte erneut in Richtung Bordell. Er wartete noch einige Zeit, dann hüpfte er aus seinem Versteck und ging als wäre nichts gewesen zu Lolas Spelunke. Anstatt den Vordereingang zu nehmen, schlüpfte er durch eine Lücke im Bretterzaun in den Hinterhof. Dort versteckte er sich und wartete.
Lange musste er nicht in seinem Versteck warten. Katie kam mit einem Korb Wäsche aus dem Hinterausgang. Sie ging zu einem Verschlag in der Ecke des Hofes. Dort hatte sie bereits einen Kessel Wasser angeheizt und wollte dort die Wäsche zum Waschen einweichen.
„Katie, warte mal“, rief der Mann leise und trat aus seinem Versteck.
Die Frau erschrak und ließ den Korb fallen. „Hunter! Du Hundsfott! Was schleichst du hier herum wie ein gemeiner Dieb?“, schimpfte sie. „Du hast hier hinten nichts zu suchen. Wenn Lola dich entdeckt, gibt es Ärger!“
„Den Ärger gab es wohl schon“, erwiderte Hunter verlegen grinsend.
„Wie meinst du das?“, fragte Katie, die nicht wusste, worauf ihr Gegenüber hinauswollte.
„Die Polizei war doch da und hat Stanley und Carter mitgenommen“, erwiderte Hunter. „In Handschellen!“, setzte er noch hinten an.
„Woher weißt du das?“, stieß Katie erschrocken aus. „Du warst doch gar nicht hier.“
„Ich sehe alles“, meinte Hunter grinsend. „Warum waren die hier?“, fragte er noch.
„Es gab drei Morde“, plauderte Katie jetzt munter drauf los. „Die verdächtigen Stanley und Carter.“
„Ach ja“, machte Hunter nur. „Wer wurde denn ermordet?“
„Einer, der heißt Rowan Clark und zwei weitere Männer, Henry Allister und Freddy Taylor.“
Hunter tat so, als würde er überlegen. Natürlich kannte er Rowan Clark. Wer kannte den nicht. Er hatte für ihn bereits diverse Aufträge ausgeführt. Dass der nun das Zeitliche gesegnet hatte, war Pech, für Clark und Hunter ebenfalls. Da musste er sich halt andere Auftraggeber suchen, die sich nicht die Hände schmutzig machen wollten.
„Ach ja“, sagte Hunter erneut. „Warum wurden die denn ermordet?“, wollte er wissen.
„Was weiß ich“, erwiderte Katie. „Frag doch die Polizei.“
„Den Teufel werde ich“, meinte Hunter lachend.
„Katie, du Faulpelz! Was machst du so lange da draußen. Du solltest nur die Wäsche in den Verschlag bringen und dann gleich zurückkommen!“ Lola trat aus der Tür auf den Hof und schimpfte wie ein Rohrspatz auf die abtrünnige Bedienstete.
Katie zog erschrocken den Kopf ein. „Ich wollte eben reinkommen“, versuchte sie sich zu verteidigen.
„Wolltest du nicht. Du hast den vollen Wäschekorb noch im Arm“, zeterte Lola und sah Katie erbost an. „Mit Hunter hast du geplaudert wie bei einem Kaffeekränzchen.“ Sie blickte zu Hunter, der genauso wie Katie über das plötzliche Erscheinen der Bordellbesitzerin erschrocken war. „Hunter, du Kanalratte, was hältst du hier meine Leute von der Arbeit ab!“, schimpfte Lola weiter. „Außerdem hast du hier hinten nichts zu suchen!“
„Ich habe mich nur versteckt“, gab Hunter zu.
Lola machte große Augen. „Vor wem denn? Womöglich vor den Bullen?“ Hunter nickte nur. „Scher dich bloß hier weg! Sollte ich dich noch einmal hier erwischen, verpfeife ich dich an die Bullen!“, schrie die Bordellbesitzerin auf aufgebracht, die ganz plötzlich einen Zusammenhang sah. Hunter steckte wahrscheinlich mit Stanley und Carter unter einer Decke und versteckte sich daher vor der Polizei. „Verschwinde!“, schrie Lola erneut und ging drohend auf Hunter zu.
Der gab lieber Hackengas, denn mit der Furie von Frau war nicht zu spaßen, wenn sie in Rage war.