„Das ist wahrlich nicht sehr weit“, meinte Constable Williams, während er neben seinem Vorgesetzten die Straße entlang ging. Dabei kniff er verzweifelt die Nase zu, denn der Gestank, der hier vorherrschte, war beinahe nicht mehr auszuhalten. Trotz Mittagszeit war die Straße recht belebt, allerdings nicht mit Menschen, sondern mit Tieren. An allen Ecken quiekte, grunzte, gackerte, bellte, miaute oder mähte es. Ratten rannten scheinbar ziellos von einem Unrathaufen zum nächsten. Vor einem Hauseingang scharrten ein paar Hühner im Dreck. Eine Katze sprintete über die Straße, eine sich heftig wehrende Maus im Maul. Zwei struppige Hunde kläfften sich an und fletschten die Zähne. Das schmutzige Fell stand ab. Einer der beiden Hunde griff an und biss den anderen in die Rute. Der jaulte auf, zog den Schwanz ein und suchte schnellstens das Weite.
„Wie die Menschen hier nur leben können, so viel Dreck und Gestank“, Williams war entsetzt.
„Die kennen es nicht anders“, erwiderte Andrews und blickte sich um. „Hier muss es sein“, meinte er. Sie hatten das vorletzte Haus rechts der Straße erreicht, vor dem ein schmaler Gang in einen Hinterhof abzweigte. Der Gang war gerade mal so breit, dass ein erwachsener Mann hindurch gehen konnte.
Der Inspektor ging mit vorgehaltener Waffe voran, Williams folgte ihm auf dem Fuße. Am Ende des Durchgangs erreichten sie einen winzigen Hof, der von drei weiteren Gebäuden begrenzt war. Niemand war zu sehen. Auch kein Laut deutete auf die Anwesenheit eines oder mehrerer Menschen hin. Andrews steckte seine Pistole weg und sah sich um. Die Katen rechts und links wiesen zum Hof keine Fenster auf. Wahrscheinlich gehörten sie bereits zu den Nachbargrundstücken. Nur das Haus zur Straße besaß noch einen Hintereingang, der allerdings verschlossen war. Andrews versuchte durch eines der Fenster zu sehen. Doch bei diesem war ein Vorhang davor. Auch das zweite Fenster ließ keinen Blick ins Innere zu.
„Was schnüffeln sie hier rum?“, hörten die beiden Polizisten plötzlich eine mürrisch klingende männliche Stimme hinter sich. Sie fuhren herum und schauten geradewegs in die Mündung einer Pistole. Blitzartig hoben sie ihre Hände.
„Wir sind von der Polizei“, sagte Andrews, dem der Schreck noch ins Gesicht geschrieben stand. „Ich bin Inspektor Andrews und das ist mein Kollege Constable Williams“, stellte er sich und den Constable vor.
„Das kann jeder behaupten“, blaffte der Mann ungehalten.
Andrews nestelte an seinem Gürtel, an dem seine Polizeimarke angebracht war.
„Na na“, drohte der Mann und entsicherte die Pistole. Ein verdächtiges Klicken war zu vernehmen, was die beiden Polizisten erneut augenblicklich erstarren ließ.
„Ich will ihnen nur meine Marke zeigen“, wehrte Andrews an, während seine Hände in der Höhe streckte.
„Zeigen sie her“, knurrte der Mann.
Endlich gelang es Andrews seine Marke vom Gürtel zu lösen. Er reichte sie dem Mann, der sie gleich in Augenschein nahm. „Nun sie“, befahl er dem Constable, nachdem er dem Inspektor seine Marke zurückgegeben hatte. Auch Williams gehorchte ohne Gegenwehr.
„Was wollen sie hier?“, fragte der Mann, nachdem er auch Constable Williams Marke angeschaut hatte.
„Wir suchen Rowan Clark“, antwortete Andrews. Mit dem wahren Grund seines Hierseins hielt er jedoch noch hinter dem Berg.
„Da werden sie ewig suchen müssen“, erwiderte der Pistolenmann, der seine Waffe inzwischen wieder verstaut hatte. Neugier stand in seinem Gesicht geschrieben, die sich nun nicht mehr verbergen ließ.
„Ah ja“, machte Andrews nur. Er war gespannt, was nun folgen würde.
„Unser Boss ist seit über drei Wochen spurlos verschwunden“, vernahmen sie eine Stimme aus dem Hintergrund. Ein weiterer Mann war aus dem Hintergebäude getreten und schaute die Polizisten nun interessiert an. „Laut Alfred Miller, dem Wirt der Spelunke in dieser Straße soll Rowan tot sein. Ich nehme an, dass dies wahr ist. Warum sonst ist er spurlos verschwunden? Es ist nicht Rowans Art, einfach ohne ein einziges Wort zu verschwinden.“ Dann erzählte er vom Auftauchen der zwei Männer bei Alfred, Clarks Siegelring, den sie bei sich hatten und von deren Erzählung, in der sie über alle Maßen über ihre Tat geprahlt hatten. Sie wären nur dazu beauftragt worden, die Leiche verschwinden zu lassen, mit der Ermordung hätten sie nichts zu tun. Die Worte des Mannes glichen denen von Alfred und dessen Frau. Nur, dass sie Rowan umgebracht hätten, davon ließen sie nichts verlauten. Das wäre ein anderer gewesen, dessen Namen sie nicht nennen wollten.
Andrews nickte nur dazu. „Können wir nicht hineingehen? Da redet es sich bestimmt besser als in diesem windigen Hinterhof“, fragte er wie nebenbei, nachdem der Mann geendet hatte. Er fröstelte etwas.
„Meinetwegen“, sagte der Pistolenmann und gab die Tür frei.
Andrews sah sich um. Das Gebäude entpuppte sich als eine Art Scheune, wo einige Geräte, die zur Feldbestellung benötigt wurden, untergestellt waren. In einem Kabuff in einer Ecke meckerten zwei Ziegen. Ein paar Hühner saßen auf einer Stange und starrten die Männer an. In der Nähe der Tür stand ein Tisch mit ein paar Stühlen. Auf dem Tisch standen zwei Gläser und eine Flasche Schnaps.
„Wem gehört das hier?“, fragte der Inspektor.
„Mir“, erwiderte der zweite Mann, der sich jetzt als Edward Clark vorstellte. Den Pistolenmann nannte er Adam Davies.
„Edward Clark? Sind sie verwandt mit Rowan Clark?“
„Er war mein Bruder“, bekam der Inspektor als Antwort.
„Sie leben hier allein?“, wollte er wissen, was Edward bejahte.
„Adam wohnt zeitweise hier, wenn seine Alte ihn wieder einmal rausgeschmissen hat“, sagte Edward noch. Adam bestätigte dies.
„Hat ihre Frau nichts dagegen, wenn sie ihre Kumpane hier beherbergen?“, fragte Andrews.
„Habe keine“, erwiderte Edward.
„Was war mit ihrem Bruder? Lebte er auch unter ihrem Dach?“, führte der Inspektor die Vernehmung fort.
„Ja, natürlich“, antwortete Edward. „Das hier ist unser Elternhaus. Wir lebten seit Mutters und Vaters Tod allein in diesem Haus.“ Er blickte den Inspektor an. „Ohne Frauen“, meinte er noch, „mal abgesehen von ein paar Huren, die wir ab und an holen ließen.“
„Dass Rowan Clark ihr Bruder war, wusste ich nicht? Ich wusste auch nicht, dass er überhaupt Geschwister hatte“, meinte Andrews und sprach sein Beileid aus. „Wissen sie Genaueres über angebliche Streitereien zwischen ihrem Bruder und Stanley Brown?“
Edward spuckte angewidert aus. „Diese Ratte schikanierte uns schon einige Zeit und wollte uns das Gebiet hier streitig machen“, erklärte er. „Ständig tauchte er mit seinem Handlanger, diesen Carter, auf. Manchmal kamen auch einige seiner Bandenmitglieder mit. Dann gab es meist eine Schlägerei. Brown drohte jedes Mal, Rowan aus dem Weg zu räumen, was ich ihm auch glaubte und zutraue. Solchen Typen wie Brown scheuen vor nichts zurück. Außerdem meinte Brown mal, er hätte noch ein Hühnchen mit Rowan zu rupfen, weil der mal vor Gericht gegen ihn ausgesagt hatte.“
„Um was ging es da?“
„So wie ich mich erinnere, um räuberische Erpressung gegen einen Zuhälter“, erklärte Edward. Das war Andrews ein Begriff. An diesen Fall konnte er sich erinnern. Auch hatte er erst vor Kurzem mit Smith darüber gesprochen.
Constable Williams hörte genau zu und machte sie, wie stets, Notizen zu dem Gespräch, während sein Vorgesetzter die Vernehmung leitete.
„Sie meinen, Brown hatte ihren Bruder bereits mehrmals mit dem Tod bedroht?“, mischte sich Williams ein.
„Aber natürlich“, erwiderte Edward. „Dies war das Thema Nummer eins, wenn die beiden aufeinandertrafen. Rowan ließ sich das nicht gefallen und wehrte sich vehement dagegen. Er ließ sich äußerst ungern die Butter vom Brot nehmen. Die Leute in der Gegend bezahlten ihn gut für seine Dienste.“
„Was waren das für Dienste?“, fragte Andrews.
Edward druckste herum.
„Raus mit der Sprache!“, forderte der Inspektor ihn auf.
„Na ja“, begann Edward nun. „Es gab häufiger Überfälle auf Schenken, kleine Läden und so. Rowan bot den Leuten Schutz an.“
„Gaben die freiwillig ihr Geld für den Schutz?“
„Anfangs sträubten sie sich dagegen. Aber nachdem sie sahen, dass es Rowan ehrlich mit ihnen meinte, ja. Es gab da einen Überfall, zu dem Rowan durch Zufall dazukam. Der Ladeninhaber hatte zwar nicht für den Schutz bezahlt, Rowan aber griff trotzdem ein. Er vertrieb die Angreifer und holte sogar das Diebesgut zurück. Seitdem vertrauten die Leute in der Gegend auf ihn.“
„Was haben sie getan, als sie von Rowans Tod erfuhren?“, lenkte Andrews das Gespräch wieder in seine gewünschte Richtung.
„Liz Miller erzählte vom Siegelring, den einer der beiden Typen bei sich trug. Den wollten wir zurück“, antwortete Edward.
„Sie kannte den Ring?“
„Natürlich“, sagte Edward. „Daher glaubten wir auch, dass mit Rowan etwas nicht stimmen konnte, nachdem er so plötzlich verschwunden war.“
„Was dann?“
„Wir machten uns auf die Suche. Die Zwei waren aber wie vom Erdboden verschluckt und damit leider auch der Siegelring“, meinte Edward Clark schulterzuckend. „Sehr bedauerlich. Es war der Ring meines Ururgroßvaters, der immer an den ältesten der Söhne weitergegeben wurde. Nachdem Rowan nun nicht mehr unter uns weilt, wollte ich den Ring haben. Ich bin nun der Letzte unserer Sippe.“
„Wenn die Ermittlungen beendet sind, können sie ihren Ring zurückbekommen“, versprach Andrews, worauf Edward dankend nickte.
„Sind sie sich sicher, dass Rowan der Tote ist, den sie an der Themse gefunden haben?“, fragte Edward Clark. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass sein Bruder tot sein sollte.
„Beinahe einhundert Prozent“, erwiderte Andrews. „Es wäre aber freundlich von ihnen, wenn sie aufs Revier in die Baker Street kommen würden und sich den Toten anschauen. Dabei können sie sich auch gleich die anderen beiden Toten anschauen, die an gleicher Stelle gefunden wurden.“
„Es gab zwei weitere Leichen?“ Edward war erstaunt. Auch Adam stieß erschrocken die Luft aus. Er erinnerte sich an etwas, über das er noch nie mit jemanden gesprochen hatte. „Das ist wirklich sehr eigenartig“, sagte Edward. „Und just am gleichen Fundort.“
Andrews nickte darauf nur.
„Gut, ich komme noch heute ins Revier“, erklärte Clarks Bruder. „Adam, du kommst mit“, bestimmte er kurzerhand.
„Aber…“
„Nichts aber! Du kommst mit. Du kennst Rowan auch.“ Er wandte sich erneut an den Inspektor. „Liz und Alfred haben die anderen beiden gesehen. Die könnten sie auch identifizieren.“
„Die Ehefrauen haben die Männer bereits erkannt. Aber wenn die Wirtsleute sie gesehen haben, mit dem Siegelring ihres Bruders, kann es nicht schaden, wenn die zwei mit ihnen zum Revier kommen.“
„Dann ist es abgemacht“, sagte Edward. „Ich gehe dann gleich in die Schenke und sage den Millers Bescheid.“
„Das lassen sie mal schön bleiben“, wehrte der Inspektor ab. „Das ist unsere Sache. Der Constable und ich werden sie vorladen.“
„Wie sie möchten. Ich wollte ihnen nur einen Weg abnehmen“, sagte Edward.
„Das ist gut gemeint von ihnen. Aber unsere Arbeit bleibt nun unsere Arbeit“, erwiderte Andrews. „Constable, wir gehen nun“, sagte er zu Williams gewandt. „Danke für ihre Auskünfte, meine Herren“, bedankte er sich bei Edward Clark und Adam. Dann verließen die beiden Polizisten die Örtlichkeit.