„Na endlich kommt hier mal jemand in dieses verdammte Drecksloch“, murrte Carter Thompson ungehalten, als Inspektor Andrews in Begleitung von Constable Williams Carters Zelle betraten. „Außer dem Wärter, der Tagein Tagaus denselben ungenießbaren Fraß bringt, bekommt man hier niemanden zu Gesicht, geschweige denn, hat man jemanden, mit dem man sich die Zeit vertreiben kann.“ Der Unmut über die Inhaftierung stand dem Mann wahrlich ins Gesicht geschrieben.
„Sie sitzen hier nicht umsonst, Mr. Thompson“, entgegnete Andrews unbeeindruckt über den Ausbruch des Gefangenen.
„Was wird mir vorgeworfen?“, fragte Thompson, das Unschuldslamm spielend.
„Tun sie nicht so, als wäre ihnen das nicht bekannt“, erwiderte der Inspektor. „Ihnen wird vorgeworfen, gemeinsam mit Hunter Jones, Freddy Taylor und Henry Allister ermordet zu haben. Außerdem werden sie verdächtigt, am Mord an Rowan Clark beteiligt zu sein. Zwei Delikte, die sie an den Galgen bringen können.“
„Wer sagt das?“
„Es gibt Zeugen, die die Tat an Taylor und Allister beobachtet haben. Den Mord an Clark können wir ihnen noch nicht nachweisen, aber schon das erstgenannte Delikt reicht für eine Anklage und Verurteilung“, erklärte Andrews. Er gab aber nicht zu, dass es nur einen einzigen Augenzeugen gab, der dies bestätigen konnte. Wenn es hart auf hart kam, könnte dies zugunsten Thompsons gewertet werden. Aber dieses Risiko wollte der Inspektor eingehen. Die Morde an Clark, Taylor und Allister mussten baldigst aufgeklärt werden. Der Chief saß ihm bereits im Nacken und wollte Ergebnisse sehen.
„Was sie nicht sagen!“ Carter Thompson zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, sagte aber vorerst nichts, das gegen ihn verwendet werden könnte.
„Es wäre wahrscheinlich nicht ihr Schaden, mit uns zu kooperieren“, lockte Andrews den Mann zu einem Geständnis.
„Ah ja“, ging Thompson darauf ein. „Welche Vergünstigungen habe ich, wenn ich ausplaudere, was ich weiß?“
„Nun ja, das kommt auf den Richter an. Ist der gut gelaunt, könnte eine langjährige Haftstrafe, allerhöchstens eine Deportierung für sie herauskommen. Ansonsten…“, Andrews machte mit der Hand eine Bewegung in Höhe des Halses, die wohl Kopf ab bedeuten sollte.
„Wer wird der Richter in diesem Fall sein?“, wollte Thompson wissen.
„Finnigan“, kam von Andrews als Antwort. Richter Finnigan war als hart urteilender Mann bekannt, der schnell und ohne zu zögern, auch Todesurteile aussprach, wenn die Angeklagten nicht kooperierten.
Thompson schluckte vernehmlich. Vor Jahren war er schon einmal einem harten Urteil des Richters entgangen. Ob es ihm diesmal gelingen würde? Er wusste, er saß tief in der Patsche, genau wie Stanley Brown und sein Busenfreund Hunter Jones. Brown war in einer der anderen Zellen untergebracht, war er doch gleichzeitig mit ihm verhaftet worden. Er konnte ihn manchmal mit dem Wärter sprechen hören, wenn dieser das Essen brachte oder die Aborteimer leerte. Was mit Jones war, entzog sich seiner Kenntnis. Wahrscheinlich war er noch auf freiem Fuß. Sonst hätte er die Aufseher bereits über ihn reden hören.
Andrews klickte ungeduldig mit dem Schuh auf den Boden. Das Geräusch, das er dabei verursachte, war unangenehm und machte den Gefangenen unsicher. „Gut“, sagte Andrews dann, „wenn sie nicht wollen.“ Er wandte sich an Williams, der an der Tür stand. „Constable, wir gehen. Der Gefangene ist nicht gewillt, mit uns zu kooperieren. Das letzte Wort wird nun Richter Finnigan haben.“ Er drehte sich um und verließ die Zelle, Williams folgte ihm. „Wärter, sie können abschließen“, befahl er einen der in der Nähe befindlichen Aufseher. Der kam sofort mit einem Schlüssel und schloss die Zelle ab.
In der Zelle sprang Carter Thompson erschrocken auf. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sein Mund war trocken, die Zunge pelzig. Schon meinte er zu spüren, wie sich die Schlinge um seinen Hals schloss und ihm die Luft zum Atmen nahm. „Inspektor, warten sie doch“, schrie er verzweifelt. „Ich sage alles, was sie hören wollen.“ Mit seinen Fäusten hämmerte er gegen die Tür, dass es im Gefängnistrakt nur so schallte.
Brown, der einige Zellen weiter eingekerkert war, hörte Carters Gezeter. „Halts Mal, du Hundsfott, Verräter elendiger“, schrie er aufgebracht. „Das kann doch nicht wahr sein“, murmelte er entsetzt. „Dieser Depp will singen.“
Inspektor Andrews gab dem Aufseher ein Zeichen, sich von der Tür zu entfernen. „Sie wollen also reden“, sagte er durch die Tür hindurch zu Thompson.
„Ja, Sir…“, vernahm er Carters weinerlich klingende Stimme. „Aber nur, wenn sie einen Deal mit Richter Finnigan ausmachen. Ansonsten schweige ich wie ein Grab.“
„Ich kann nicht versprechen, dass der Richter auf diese Bedingung eingeht“, erwiderte Andrews. „Aber ich kann ein gutes Wort für sie einlegen.“
Thompson überlegte. „Würden sie das tun?“
„Nur, wenn sie aussagen“, antwortete Andrews. „Ohne Aussage, kein gutes Wort bei Finnigan.“
„Deal“, vernahm er hinter der Tür.
Erneut nickte der Inspektor. Ob Thompson zu seinem Wort stehen würde, das würde sich bei der Vernehmung zeigen. „Wärter, öffnen sie die Tür. Der Gefangene möchte aussagen“, forderte er den Aufseher laut auf, dass es auch Brown in seiner Zelle hören konnte.
Der begann erneut, zu randalieren. „Hundsfott, elendiger. Verräter! Wenn ich dich erwische, dann…“
„Halts Maul, Brown, deine Zeit ist gekommen und die deiner Komplizen“, schimpfte Andrews. Er ließ Stanley Brown wüten und betrat mit Constable Williams im Schlepptau erneut Thompsons Zelle.
„Williams, protokollieren sie“, forderte Andrews den Constable auf, der sogleich seinen Notizblock und einen Bleistift zückte und sich bereit machte.
„Nun, Thompson, was haben sie uns zu sagen“, wandte er sich dann an den Gefangenen.
Carter Thompson wusste, es ging nun kein Weg daran vorbei, auszusagen, wenn er seinen Hals retten wollte. Also begann er:
„Zwischen Stanley Brown und Rowan Clark gab es ständig irgendwelche Streitereien, sei es um Reviere, gemeine Dirnen oder sonst was. Clark beschützte die Leute in seiner Gegend, was Brown ein Dorn im Auge war. Der wollte Geld aus den Leuten herausschlagen, Schutzgeld, was wiederrum Clark mächtig auf die Nerven ging. Brown tauchte oft mit seiner Bande in Clarks Revier auf und machte Zoff. Es gab Schlägereien zwischen den beiden, nicht nur den beiden, sondern auch zwischen den verfeindeten Banden. Clarks Leute standen hinter ihm und gaben alles für ihren Bandenchef.“
Andrews wusste davon. Das Gleiche hatte Clarks Bruder Edward ausgesagt. „Brown soll Morddrohungen ausgesprochen haben“, warf er ein.
„Das stimmt. Nicht nur einmal. Auch vor Zeugen“, erwiderte Carter wahrheitsgemäß.
„Wer waren diese Zeugen?“
„Bandenmitglieder, von Clarks Bande, aber auch von Browns Gang“, antwortete Carter. „Es kann sein, dass das auch Passanten gehört haben, aber da bin ich mir nicht sicher. Der Trubel war jedes Mal zu groß, um auf solche Kleinigkeiten zu achten.“
„Haben sie es mit eigenen Ohren gehört, wie Brown die Drohungen aussprach?“
„Ja, das habe ich. Meist kämpfte ich Seite an Seite mit meinem Boss. Da konnte ich trotz Gerangel jedes Wort hören“, bekannte Thompson. „Brown hat es oft laut genug hinausgebrüllt.“
„Wie kam es dazu, dass Brown Clark ins Jenseits beförderte?“
„Eines Tages hatte Stanley genug und beschloss, Clark endgültig zu beseitigen. Er wusste aber noch nicht, wie er das tun sollte. Daher ließ er ihn beschatten, um genaueres über seinen Tagesablauf und so weiter herauszubekommen. Wenn er sich sicher war, wollte er zuschlagen.“ Carter plauderte drauf los. Ehe Andrews weiter fragen konnte, setzte er seine Rede schon fort. „Brown wusste von mir, Hunter Jones war für Geld zu haben. Also beauftragte er ihn, sich an Clarks Fersen zu heften und alles über ihn herauszufinden. Nur eines verbot er ihm…“ Carter machte eine kurze Pause. „Er verbot ihm, Clark zu beseitigen. Das wäre sein eigener Job, sagte er immer.
„Woher kannte er Hunter Jones?“, fragte Andrews.
„Durch mich“, gab Carter zu. „Hunter ist ein Busenfreund aus Kindertagen.“
„Ah deshalb. Den Zusammenhang verstand ich noch nicht ganz“, erwiderte der Inspektor, dann forderte er Carter auf, weiterzusprechen, was dieser auch tat.
„Eines Tages sah Stanley die Zeit für gekommen, Rowan zu beseitigen. Er zettelte einen Streit an, wobei es sehr haarig zuging. Nach der Rauferei verzog sich Clark in den Hyde Park, was Brown wusste. Wenn Rowan allein sein wollte, ging er oft in versteckte Ecken im Hyde Park. Dort lauerte Stanley ihm auf und erschoss ihn hinterrücks.“
„Das haben wir nun mal. Wie ging es weiter?“
„Brown hatte also Rowan erschossen. Die Leiche musste aber, wie er es immer sagte, entsorgt werden. Stanley hatte die Angewohnheit, dies von Neulingen in unserer Bande erledigen zu lassen. Die mussten sich damit beweisen, dass sie es wert waren, in der Gang dabei zu sein.“
Andrews verstand die Zusammenhänge sofort. „Und nun kamen Freddy Taylor und Henry Allister ins Spiel“, spann er den Faden weiter.
Thompson nickte daraufhin zustimmend. „Freddy und Henry machten sich an die Arbeit und versenkten Clarks Leichnam in der Themse. Leider waren die zwei so dumm, dass sie nicht bedachten, dass eine Wasserleiche nach einer Weile wieder auftaucht. Was auch geschah. Als wir hörten, dass Clarks Leichnam gefunden wurde, mussten wir etwas tun. Vor allem, als wir durch einen Strohmann erfuhren, dass sie den Fall übernommen hatten. In der Szene sind sie als harter Hund bekannt, der einfach alles herausfindet.“
Andrews grinste. Diese Worte hatte er schon einmal gehört. „Wie weiter?“, fragte er.
„Wir befürchteten, dass, falls sie herausfänden, dass Allister und Taylor die Leiche hatten verschwinden lassen, sie die beiden in die Mangel nehmen. Wir waren uns nicht sicher, ob sie dem Druck standhalten, um ihre Haut zu retten und beschlossen, sie zu beseitigen.“
„Ah ja, so einfach ist das“, meinte der Constable aus dem Hintergrund. „Ich lasse einfach jemanden verschwinden, wenn ich Schiss in der Hose habe, derjenige könne etwas sagen, was mir nicht genehm ist. Das muss ich mir merken.“ Andrews warf dem Constable einen bösen Blick zu, worauf dieser sofort verstummte und sich wieder seinem Notizblock widmete.
„Brown beschloss also, auch Taylor und Allister zu beseitigen. Von mir wusste er, Hunter Jones macht für Geld alles. Da der des Öfteren in Lolas Bordell war, war es kein großes Prozedere, mit ihm in Geschäft zu kommen. Hunter machte seine Arbeit, ich passte dabei auf und die Sache war erledigt. Er bekam daraufhin sein Geld.“
„Das klärt so einiges“, sagte Andrews nachdenklich. „Aber dass dabei viele Fehler gemacht wurden, fiel niemanden auf.“
Carter schaute den Inspektor fragend an.
„Die Leichen von Taylor und Allister wurden an der gleichen Stelle gefunden, wie Clarks Leichnam“, sagte er.
„Das wusste ich nicht, dass es die Fundstelle von Clark war, wo die beiden ermordet wurden“, entfuhr es Thompson.
„Da sehen sie mal, was sich alles zusammenfügt“, erwiderte Andrews. „Nun aber zu Hunter Jones. Wo ist er, wo ist sein Versteck?“
Thompson zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte er glaubhaft. „Ich habe ihn das letzte Mal gesehen, als er das Geld für die Morde bekam. Seitdem war er noch nicht wieder in Lolas Bordell. Fragen sie doch Lola, vielleicht weiß die etwas.“
„Haben wir schon. Sie weiß auch nichts, Bridget hat ebenfalls keine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte.“
„Ich leider auch nicht“, erwiderte Thompson.
„Sind sie sich sicher?“, hakte Andrews nach, der dem Verdächtigen nicht recht glauben wollte.
„So wahr wie mir Gott helfe“, schwor der.
Andrews blieb nichts weiter übrig, als Carter Thompsons Worten Glauben zu schenken.