George Smith, seines Zeichens Pathologe und Leichenbeschauer, stand am Tisch in seinem Raum im Keller des Polizeireviers in der Baker Street. Auf dem Tisch lag der Leichnam des Mannes, der am Themseufer gefunden wurde. Inzwischen waren wieder einige Tage vergangen und der Zustand des Toten wurde natürlich nicht besser. Smith hatte ihn ausgekleidet und genauestens untersucht. Außer einem Einschussloch in Höhe des Herzens hatte er nichts gefunden. Damit war Inspektor Andrews Vermutung, der Mann wäre erschossen worden, bestätigt.
Noch immer war die Identität des Leichnams unbekannt. Eine Vermisstenanzeige gab es nicht. Die Polizei, besser gesagt, Smith und Andrews, tappten im Dunkeln.
Gerade betrat Inspektor Andrews die heiligen Hallen des Pathologen. „Nun, Smith, wie sieht es aus?“, fragte er.
Der Pathologe raufte sich die Haare. „Ach, Andrews. Ich komme einfach nicht weiter. Der Tote sagt mir nichts. Außer, dass er erschossen und danach in die Themse geworfen wurde, konnte ich nichts finden, was für uns von Belang wäre.“
„Es ist wie verhext. Es muss doch einen Hinweis geben, wer der Kerl ist und wer ihn um die Ecke gebracht hat.“ Auch Andrews war verzweifelt. Chief Inspektor Harrison hing ihm bereits am Hacken und verlangte Ergebnisse. Nur woher nehmen? Andrews sah die Akte schon in der Abteilung „ungeklärte Fälle“ verschwinden.
„Schauen wir uns die Leiche nochmal gemeinsam an. Vier Augen sehen mehr als zwei. Vielleicht habe ich auch nur etwas übersehen“, bat der Pathologe den Polizisten.
So machten sich die zwei Männer daran, den Toten nochmals gemeinsam zu untersuchen. Sie drehten und wendeten ihn, schauten jede noch so kleine Hautfalte an, in jede Körperöffnung. Aber nichts. Kein einziger Hinweis.
„Sagen sie mal“, sprach Andrews den Doktor an. „Kommt ihnen das Gesicht nicht irgendwie bekannt vor. Mich dünkt, ich hätte den Typen schon mal gesehen. Ich weiß nur nicht wo und in welchem Zusammenhang. Ich habe schon meinen Constable gefragt. Ihm fällt es auch nicht ein.“
„Ja, stimmt!“, fuhr der Pathologe hoch. Er schaute dem Toten zum wiederholten Male ins Gesicht, das war inzwischen noch mehr verquollen und verzerrt als am Fundtag. Nur der Ausdruck des Erschreckens über den plötzlichen Tod war geblieben. „Ich kann mich leider Gottes auch nicht erinnern. Vielleicht bei irgendeiner Gerichtsverhandlung, derer ich, wie sie wissen, oft als Gutachter beiwohnen muss.“
„Gerichtsverhandlung ist ein guter Ansatzpunkt!“ Andrews sah hoch. „Ich schaue mal in alten Akten. Vielleicht finde ich irgendwas. Unser Polizeizeichner macht doch meist Porträts von Angeklagten, Zeugen und so weiter.“ Er wollte eben gehen, als Constable Williams den Raum betrat.
„Sir, sie sollen zum Chief Inspektor kommen“, sagte er zu Andrews.
Der verdrehte genervt die Augen. „Was will der denn schon wieder von mir. Ich war doch erst heute Morgen bei ihm.“
„Es wurden zwei Männer gefunden. Wieder an der Themse und genau dort, wo der Leichnam hier gefunden wurde. Sie sind beide tot.“
„Was?!“
„Ja, Sir… sehr eigenartig“, erwiderte Williams und schaute auf den Toten, der immer noch unbedeckt auf dem Tisch lag. „Ich glaube, ich weiß jetzt, woher ich den Mann kenne“, sagte er dann.
Der Pathologe und Andrews blickten ihn an. „Sagen sie schon!“, stießen beide gleichzeitig aus.
„Sie erinnern sich doch bestimmt an die Gerichtsverhandlung gegen Stanley Brown wegen räuberischer Erpressung und Mord an einem Zuhälter“, begann er. Williams erntete ein Nicken. „Der Typ hat gegen Brown ausgesagt. Nur konnten nicht genügend Beweise gegen Angeklagten vorgelegt werden. Deshalb musste der Mann wieder freigelassen werden.“
Andrews überlegte und versuchte, sich an die Verhandlung zu erinnern. „Wenn der Tote hier…“, er zeigte auf die Leiche, „Rowan Clark ist, dann könnte das ein Zusammenhang mit Brown sein. Wie ich weiß, ist Clark der Bandenboss der Black Ravens und Brown der der Wild Wolves. Beides verfeindete Banden, die die Straßen Londons seit Jahren unsicher machen.“
„Sind die Kleider des Verstorbenen noch da?“, fragte der Constable.
„Natürlich“, erwiderte Smith und zeigte auf einen Haufen, den er einfach in die Ecke geworfen und seitdem noch nicht wieder beachtet hatte.
„Darf ich?“, wollte Williams wissen und begann, ohne auf Zustimmung zu warten, die Kleider zu untersuchen. „Hier“, rief er plötzlich aus und zeigte auf ein Monogramm, das am Kragen des Hemdes gefunden hatte. Es war beinahe unsichtbar und hob sich nur sehr wenig vom Kragen ab. Er sah genauer hin und erkannte zwei Buchstaben. „R.C.“, las er laut vor.
Andrews und Smith rissen die Augen auf. „ R.C.“, riefen sie wie aus einem Mund.
„Ja, R.C.“, bestätigte der Constable. „Das könnte Rowan Clark heißen. Wenn es so sein sollte, dann könnte das auch der Tote sein.“
„Dem müssen wir unbedingt nachgehen“, bestimmte Andrews. „Gut gemacht, Constable“, brachte er ein Lob hervor. „Warum bin ich nicht selbst auf die Idee gekommen“, schalt er sich. „Gehen wir erst einmal zum Chief Inspektor. Den können wir nicht länger warten lassen.“
„Wir sehen uns dann später“, verabschiedete er sich vom Pathologen. „Vielleicht heute Abend im Club?“
„Tut mir leid. Mein Weib hat heute Geburtstag und gibt eine kleine Party im Familienkreis“, erwiderte Smith und zuckte mit den Schultern.
„Dann ein anderes Mal“, sagte Andrews und verließ mit dem Constable im Schlepptau den Raum.