Nachdem Andrews und der Constable zurück ins Büro des Inspektors gegangen waren, setzten sie sich nochmals zusammen und besprachen die bisherigen Erkenntnisse. Viel hatten sie bislang nicht zusammentragen können, was sie zu einer endgültigen Klärung des Falls führen könnte. Doch das Wenige brachte sie bereits einen Schritt weiter. Die Lösung stand zwar noch in weiter Ferne, aber die beiden Polizisten verloren die Hoffnung nicht. Sie arbeiteten hart und zerbrachen sich die Köpfe.
Plötzlich klopfte es an die Tür. Nach einem „Herein“ wurde diese geöffnet und zwei Frauen mittleren Alters traten ein. Ein wenig scheu blieben sie an der Tür stehen und wagten nicht zu sprechen.
„Sie wünschen?“, fragte Inspektor Andrews.
„Wir haben ein Problem“, begann die eine auf den Inspektor einzureden.
„Sagen sie mir bitte erst einmal ihren Namen, damit ich weiß, wie ich sie ansprechen soll“, sagte Andrews freundlich. Dann stellte er sich mit Namen und Dienstrang vor und den Constable ebenfalls.
„Mein Name ist Annie Taylor“, nannte die Sprecherin ihren Namen, „und das ist meine Freundin Suzie Allister.“
„Madame, was führt sie zu mir?“, fragte Andrews noch einmal, bot den Frauen aber erst einen Sitzplatz an.
„Der Mann an der Pforte sagte uns, wir sollen uns an sie wenden“, sagte Annie Taylor, nachdem die Frauen sich gesetzt hatten. „Er meinte, es wurden Männer gefunden, die bisher noch nicht identifiziert werden konnten. Just vermissen wir unsere beiden Ehemänner“, erklärte sie.
„Interessant“, erwiderte Andrews. „Seit wann sind ihre Gatten abgängig?“
Die Frauen überlegten. „Vorgestern Abend wollten sie in den Pub in der Watergate Street zum Karten spielen. Seitdem haben wir sie nicht mehr gesehen“, erklärte nun Mrs. Allister.
„Constable, schreiben sie bitte mit“, sagte Andrews zum Williams, der sich im Hintergrund hielt. Dienstbeflissen zückte der seinen Notizblock.
„Der Pub in der Watergate Street ist doch ein Bordell“, warf Williams ein, worauf Andrews nickte.
„Das wussten wir nicht“, erwiderte Mrs. Allister. „Was machen unsere Männer in einem Bordell? Das ist ja eigenartig.“ Sie sah den Inspektor an. „Und gestern wurden zwei Kerle gefunden?“
„Ja, das stimmt. Am gestrigen Tage wurden unter der Brücke zwei Männer gefunden, deren Identität uns unbekannt ist. Ich muss ihnen aber sagen, beide waren tot“, erklärte der Inspektor den Frauen.
„Oh mein Gott“, schluchzten die beiden auf.
„Wir wissen doch noch gar nicht, ob es ihre Ehemänner sind“, versuchte Andrews sie zu beruhigen. „Erst brauchen wir ein paar Hinweise über ihre Gatten. Dann sehen wir weiter. Erzählen sie uns ein wenig über sie. Wie sehen sie aus, Haarfarbe, Augenfarbe, Größe, was trugen sie für Kleidung, eventuell Schmuck, an dem wir sie erkennen könnten.“
Die Frauen überlegten. Als erstes begann Mrs. Allister. „Mein Gatte Henry ist etwa sechs Fuß groß und ein wenig mollig. Seine Haarfarbe ist braun mit schon ein paar grauen Strähnen. Er ist 50 Jahre alt.“
„Sehr schön, Mrs. Allister. Was trug er, als sie ihn zuletzt gesehen haben?“
Die Frau überlegte einige Zeit. „Eine graubraune Jacke, braune Hosen, schwarze Socken, ein graues Hemd und eine flache Mütze.“
„Hat er irgendwelche besonderen Merkmale? Warzen? Muttermale?“, wollte Andrews wissen.
„Mein Gatte hat ein kleines Muttermal hinter dem linken Ohr“, berichtete sie.
Andrews wurde bleich, sagte aber noch nichts. Der Constable, der hinter den Frauen stand, warf ihm einen wissenden Blick zu, wie „das müsste einer der Toten sein.“ „Fällt ihnen sonst noch etwas ein?“, fragte Andrews. Darauf schüttelte Mrs. Allister nur den Kopf.
Daraufhin stellte der Inspektor Mrs. Taylor die gleichen Fragen, die sie mit Bedacht beantwortete.
Nachdem Andrews noch weitere Fragen gestellt hatte, öffnete er die Schreibtischschublade. Er war sich sicher, dass die beiden Leichname die Ehemänner der vor ihm sitzenden Frauen waren. Daher war nun Fingerspitzengefühl angebracht. „Meine Damen, ich habe hier ein paar Gegenstände, die ich ihnen zeigen möchte.“ Er nahm zuerst den Zettel heraus und legte ihn auf den Tisch. „Wissen sie etwas damit anzufangen?“, fragte er.
Die Frauen begutachteten das Blatt Papier genau und schüttelten dann beide den Kopf. Mit dem Namen Rowan Clark konnten sie nichts anfangen. Sie kannten auch niemanden, der so hieß.
Als nächstes zeigte Andrews das Stilett.
Die Frauen bekamen große Augen, als sie dies sahen. „Das ist ja gruslig“, presste Mrs. Allister hervor. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Was ist das? Ein Küchenmesser garantiert nicht.“
„Nein, kein Küchenmesser“, erwiderte der Inspektor. „Das ist ein Stilett. Damit wurde einer unserer unbekannten Toten erstochen.“
„Mein Gott, wie grausam!“, keuchte nun Mrs. Taylor. „Wer macht denn so was?“
„Genau das versuchen wir herauszufinden“, meldete sich der Constable aus dem Hintergrund zu Wort. „Haben sie das Messer schon einmal gesehen, wenn ja, wo?“ Auch diese Frage wurde verneint. Dann legte er einen Siegelring, der bei einem der Toten gefunden wurde, vor. Aber auch den kannte keine der beiden Frauen.
„Gut, dann weiter. Etwas habe ich noch, was sie sich ansehen sollten“, sprach nun der Inspektor und legte den Knopf auf den Tisch.
Kaum lag dieser vor den Frauen, begann Mrs. Taylor zu kreischen. „Das ist ein Jackenknopf meines Mannes! Wo haben sie den her?“ Entsetzt starrte sie auf das Korpus Delicti.
„Wir fanden ihn am Tatort“, sagte Andrews. „Und, Mrs. Taylor, wenn dies der Knopf vom Jackett ihres Gatten ist, dann wissen wir, wo er sich befindet.“
„Ja“, hauchte Mrs. Taylor fast nicht hörbar. „Wo denn?“
„Es tut mir leid“, Andrews schluckte, „ihr Gatte liegt bei uns in der Pathologie. Er wurde erstochen.“
„Nein!“, schrie Mrs. Taylor auf. „Nein! Das kann nicht wahr sein! Es kann nicht mein Freddy sein! Sagen sie mir, dass er es nicht ist!“ Tränen liefen in Strömen über ihr Gesicht.
Andrews griff über den Tisch hinweg nach Mrs. Taylors Hand. „Es tut mir leid, dass ich ihnen nichts anderes mitteilen kann“, sagte er leise. „Es entspricht der Wahrheit.“
„Oh nein, oh nein, mein Freddy“, schluchzte Mrs. Taylor heftig. Sie sah ihre Freundin weinend an. „Hoffentlich ist der zweite Tote nicht dein Henry. Wenn die zwei vorgestern Abend zusammen waren, dann…“, sie beendete den Satz nicht. Stattdessen nahm sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich die Augen trocken.
„Liebes, male nicht den Teufel an die Wand. Das wäre eine ungeheuerliche Katastrophe“, heulte nun auch Mrs. Allister.
„Meine Damen, so leid wie es mir tut. Ich hätte ihnen das gerne erspart. Doch würden sie mit in die Pathologie kommen und sich die Toten ansehen? Es wäre uns damit sehr geholfen“, sagte Inspektor Andrews, nachdem sich die Frauen einigermaßen wieder beruhigt und in ihre Taschentücher geschnäuzt hatten.
„Muss das sein?“, wollte Mrs. Taylor wissen, die mit ihren verheulten Augen und dem blassen Gesicht aussah wie das Leiden Christi. „Ich traue mich nicht.“
„Ich auch nicht“, sagte Mrs. Allister ebenfalls.
„Ich bitte sie. Es ist sehr wichtig“, erklärte Andrews. „Es könnte uns helfen, den Fall zu lösen. Es wäre auch in ihrem Interesse, zu erfahren, ob es ihre Gatten sind, die gefunden wurden. Wer der Mörder ihrer Gatten ist, werden sie ganz bestimmt ebenfalls gerne erfahren wollen.“ Andrews schmierte den Frauen Honig ums Maul, redete mit Engelszungen auf sie ein.
„Gut“, stimmten die Frauen nach einer Weile zu. „Am besten gleich. Dann haben wir es hinter uns.“
„Ich danke ihnen“, erwiderte Inspektor Andrews. „Dann gehen wir gleich. Unser Pathologe ist noch vor Ort.“ Er blickte zum Constable. „Williams, gehen sie bitte voraus und melden uns an.“
„Jawohl, Sir“, antwortete Williams und ging los.
„Ich danke ihnen nochmals“, sagte Andrews erneut zu den beiden Witwen. Er war sich sicher, dass die zwei Toten in der Pathologie die Gatten der Frauen waren. „Sie helfen uns damit wahrlich weiter. Aber bitte…“, er holte tief Luft. „Beruhigen sie sich erst einmal. Bleiben sie gelassen. Falls es ihre Männer sein sollten, tut es mir sehr leid für sie. Aber Kreischen und Geschrei hilft dann auch nicht mehr. Es wird schwer, ich weiß.“
„Ja, Sir, wir geben uns Mühe“, begann Mrs. Taylor erneut zu schluchzen.
„Dann gehen wir“, sagte Andrews und hielt den Damen die Tür auf.
Der Weg bis in die Pathologie schien endlos zu sein. Andrews hing seinen Gedanken nach, während die Frauen schweigend neben ihm hergingen. Ihre Gesichter waren bleich, vor Schreck und auch vor Angst.
Constable Williams erwartete das Dreiergespann bereits an der Tür zur Pathologie. „Der Doktor weiß Bescheid“, sagte er leise zu Andrews, der zustimmend nickte.
„Sind sie bereit?“, fragte Andrews die Frauen, die nur ängstlich nickten und kein Wort hervorbrachten. Daraufhin führte er sie in den Raum.
Eine erschreckende Kühle schlug den Frauen entgegen, dass sie sofort fröstelnd ihre Tücher enger um die Schultern zogen. Ängstlich starrten sie auf die drei Bahren, die nebeneinanderstanden und auf denen drei Personen erkennbar waren, die mit je einem weißen Tuch abgedeckt waren.
„Sind sie das?“, fragte Mrs. Allister heiser?
„Ja“, erwiderte Smith, der nun aus dem Hintergrund getreten war. „Ich bin Doktor Smith, der Pathologe“, stellte er sich vor. „Constable Williams kündigte ihr Kommen an.“ Er hielt kurz die Luft an. „Sind sie bereit?“ Darauf nickten die Frauen nur. „Dann kommen sie“, sagte Smith und ging zum ersten Tisch, unter dem der erste unbekannte Tote lag. Er zog das Tuch vom Gesicht.
Erschrocken über den Anblick der Leiche kreischten die Frauen auf, beruhigten sich aber schnell wieder. „Den kennen wir nicht“, war die eindeutige Aussage.
„Dann dieser hier bitte“, sagte Smith und ging zum nächsten Tisch. „Dieser Mann wurde erstochen.“ Er zog das Tuch weg.
Sofort begann Mrs. Taylor zu weinen. „Das ist mein Freddy“, heulte sie. „Was und wer hat dir das nur angetan.“ Sie warf sich an die Schulter ihrer Freundin, der ebenfalls die Tränen über das Leid ihrer Gesellin wie Wasserfälle übers Gesicht liefen.
„Mrs. Allister, auch wenn ihre Freundin ihren Gatten bereits identifiziert hat, würden sie bitte trotzdem schauen und ihre Angabe bestätigen“, bat Smith die Frau.
Suzie machte sich von ihrer Freundin los und trat an den Tisch, auf dem Freddy lag. „Ja, das ist der Mann meiner Freundin“, bestätigte sie Annies Worte. Sie straffte sich und atmete tief durch. „Zeigen sie mir schon den da“, sie zeigte auf die dritte Bahre. Forsch trat sie heran und kam dem Pathologen zuvor, der eben das Tuch greifen wollte. Sie zerrte es weg und erstarrte. Ihre Lippen begannen zu zittern, noch mehr Tränen rannen über ihr Gesicht. Dann wandte sie sich ab. „Das ist mein Henry“, sagte sie leise und ließ sich ermattet auf einen Stuhl fallen. Mit hängenden Schultern saß sie da und versuchte Herr über ihre Gefühle zu werden.
Stille dominierte die Pathologie, Stille, drückend, einengend und beängstigend.
„Was geschieht nun mit unseren Männern?“, durchbrach Mrs. Taylor als erste die Ruhe.
„Wenn meine Untersuchungen abgeschlossen sind, werden sie zur Beerdigung freigegeben“, erklärte Smith.
„Das heißt, wir können sie normal zur letzten Ruhe betten, wie jeden anderen auch?“, wurde Smith gefragt.
„Ja, natürlich. Nur sie als Angehörige bestimmen, wo ihre Verblichenen bestattet werden.“
„Ich möchte nämlich nicht, dass mein Gatte irgendwo in einem Armengrab landet. Er soll eine ordentliche Bestattung bekommen, wenn er schon so grausam aus unseren Armen gerissen wurde.“ Mrs. Taylor begann erneut zu schluchzen.
„Komm meine Liebe, lange wird es bestimmt nicht mehr dauern, bis wir unsere Liebsten beerdigen können“, sagte Mrs. Allister zu ihrer Freundin. „Gehen wir nach Hause.“ Sie blickte zu Inspektor Andrews. „Wir können nun gehen, oder?“
„Natürlich. Falls wir noch Fragen haben sollten, kommen wir zu ihnen“, antwortete Andrews lächelnd. „Wir danken ihnen von Herzen, dass sie uns helfen konnten. Auch wenn unsere Begegnung für sie nicht sonderlich schön endete. Ich spreche ihnen, auch im Namen meiner Kollegen, mein aufrichtiges Beileid aus und hoffe, dass sie diesen schweren Verlust bald überwunden haben.“
„Wir danken ihnen, Inspektor“, erwiderte Mrs. Taylor. „Komm, Suzie, wir gehen.“
„Ich lasse sie mit der Polizeidroschke nach Hause bringen“, bot Andrews an.
„Machen sie sich keine Umstände“, wehrte Mrs. Allister ab.
„Es macht keine Umstände“, antwortete der Inspektor und schickte Constable Williams zur Pforte, um nach der Droschke zu rufen.