„Das war ja mal ein sehr erquickliches Gespräch“, sagte Andrews zum Constable, nachdem sie wieder auf der Straße standen und sich kurz über die Begegnung mit Edward Clark und Adam Davies austauschten. „Aber ganz ehrlich, als dieser Davies plötzlich mit der Knarre vor uns stand, war mir das nicht gerade einerlei.“
„Mir auch nicht, Chef“, gab Constable Williams zu. „Das hätte echt dumm ausgehen können.“
„Ich dachte schon, der pustet uns umgehend die Rübe von den Schultern, so ungehalten wie der war. Zum Glück kam dieser Edward Clark dazu. Wer weiß, wie die Situation sonst ausgegangen wäre.“ Der Inspektor holte erleichtert Luft. „Aber nun erst einmal zurück in die Schenke und dann aufs Revier. Unsere Arbeit macht sich leider nicht von allein.“
Liz und Alfred Miller waren nicht gerade begeistert, als die beiden Polizisten zum zweiten Mal an diesem Tag in ihrer Wirtschaft erschienen.
„Haben die Herren etwas vergessen?“, fragte Alfred bissig. Er stand gerade am Tresen und zählte Geld.
„Wir möchten sie nur aufs Revier in der Baker Street bitten, damit sie dort ihre Aussage wiederholen. Außerdem möchte ich, dass sie sich die Toten anschauen. Es ist wichtig, dass diese identifiziert werden.“
„Warum das? Ich mag mir keine Leichen anschauen und meine Frau erst recht nicht“, wehrte sich Alfred gegen die Vorladung.
„Das ist ein Befehl und eine offizielle Vorladung“, bellte Inspektor Andrews. „Wenn sie nicht freiwillig kommen, lasse ich sie in Handschellen holen. Alle beide!“
Alfred gab lieber klein bei und sagte zu. Er wusste, mit der Polizei war nicht zu spaßen. Die bekamen immer, was sie wollten.
Am Nachmittag erschienen gleichzeitig die Wirtsleute Miller, sowie Edward Clark und Adam Davies in Inspektor Andrews Büro.
„Das trifft sich gut“, begrüßte Andrews die Zeugen. „Unser Doktor Smith ist noch im Haus. Er weiß bereits Bescheid. Gehen wir als erstes in die Pathologie. Den Rest machen wir später.“
„Muss das wirklich sein?“, fragte Liz mit bebenden Lippen. Sie hatte zwar schon Leichen gesehen, aber noch nie welche, die eines unnatürlichen Todes gestorben waren.
„Nun stell dich nicht so an“, fuhr Alfred seine Frau an. „Die beißen nicht mehr!“
„Gehen wir“, sagte Andrews und ging der Gruppe voran. Die Einwände der Frau überhörte er einfach.
Als erstes betrat Edward Clark den Raum, in dem die Leichname aufgebahrt waren.
„Ich würde ihnen und den anderen das gerne ersparen“, entschuldigte sich Andrews bei dem Mann.
„Ich werde es schon überleben“, erwiderte Edward etwas flapsig, um das unangenehme Grummeln in seinem Magen zu verscheuchen. Er wusste, was auf ihn zukam und war sich bereits jetzt sicher, seinen Bruder Rowan unter einem dieser Tücher zu entdecken.
Die ersten beiden Toten kannte Edward nicht. Aber unter dem dritten Tuch erkannte er Rowan, der bleich, starr und eiskalt dalag. „Ach, Bruder, wer hat dir das angetan?“, sagte Edward, genauso bleich wie eine Leiche. Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das ist mein Bruder Rowan“, erklärte er mit heiserer Stimme.
„Danke Mr. Clark“, erwiderte der Inspektor. „Sie können draußen Platz nehmen.“
Edward verließ wortlos den Raum und Adam wurde hereingerufen. Er erkannte ebenfalls nur Rowan Clark.
Auch Liz und Alfred erkannten Rowan, aber auch die beiden anderen Toten.
„Das sind die Scheißkerle“, kreischte Liz aufgebracht. „Die haben in unserer Wirtschaft herumgeprahlt. Schade, dass Edward die nicht erwischt hat, sondern jemand anders. Hätte sich Edward ihrer angenommen, sähen sie jetzt nicht so aus!“ Liz redete sich in Rage.
„Frau! Was redest du für einen Unsinn. Edward würde nie jemanden umbringen!“, schimpfte Alfred über das Verhalten seines Eheweibes.
„Ja, du hast Recht. Edward ist nicht so einer. Rowan war auch nicht so. Er hat uns immer beschützt vor solchen Ratten wie Stanley Brown und seine Bande.“
„Sie kennen diesen Brown?“, fragte der Inspektor.
„Klar“, erwiderte Liz. „Er und seine Bande haben sich oft genug mit Rowans Leuten bei uns in der Straße gekloppt. Da ging was ab und jedes Mal hat dieser Brown gebrüllt, er würde Rowan eines Tages umbringen.“ Sie schaute den Inspektor an. „Ist ihm augenscheinlich geglückt. Armer Rowan. Gott habe ihn selig.“
Inspektor Andrews verließ nach den Wirtsleuten die Pathologie. „Ich danke ihnen, meine Herrschaften“, sagte er und bat sie abermals, ihm zu folgen.
In seinem Büro saßen ihm einer nach dem anderen noch einmal gegenüber und wiederholte seine Aussage vom Mittag.
Adam Davies war als letzter an der Reihe. „Sir, ich muss meiner Aussage noch etwas hinzufügen“, sagte er ganz am Schluss.
Constable Williams sah von seinem Notizblock auf und der Inspektor den Mann interessiert an.
„Sprechen sie, Mr. Davies“, forderte er Adam auf.
„Nun ja“, begann dieser. „Ich habe die beiden Leichen schon vorher mal gesehen.“ Er machte eine kurze Pause, so als würde er sich die Worte zurechtlegen wollen. In Wahrheit führte er sich die Szene, die er beobachtet hatte, nochmals vor Augen.
„Nun spannen sie mich nicht so auf die Folter“, knurrte Andrews ungehalten.
„Ich habe die beiden heimlich ausfindig gemacht und bin ihnen gefolgt. Mir ging das einfach nicht aus dem Kopf mit denen. Ich wollte sie zur Rede stellen. Doch ehe ich sie befragen konnte, kam mir jemand zuvor.“
„Ja…“, sagte der Inspektor nur.
„Ich sah, wie sie von einem Hunter Jones umgebracht wurden. Da unten an der Themse, unter der Brücke. Und Carter Thompson, der Handlanger von Stanley Brown war dabei. Als die beiden weg waren, wollte ich mir die Toten ansehen, habe es aber nicht gewagt. Ich hatte Angst, dass man mich des Mordes an ihnen bezichtigt.“
Andrews sprang aufgeregt auf. Endlich eine heiße Spur. „Sind sie sich sicher? Haben sie die Männer, die Mörder, genau erkannt?“, fragte er aufgewühlt.
„Ja, Sir. Es waren Carter Thompson und Hunter Jones. Wobei Jones die ausführende Hand war“, erklärte Adam.
„Beschreiben sie Carter und diesen Hunter Jones“, verlangte Andrews.
Carters Beschreibung passte genau. Doch Jones kannte der Inspektor noch nicht. „Wer ist der Mann?“, wollte er wissen. „Ich habe noch nie von ihm gehört.“
„Ach, das ist nur ein kleines Licht“, erklärte Adam. „Er macht hier und da was für Geld, auch ungesetzliche Dinge. Vor einem Mord schreckt er ebenfalls nicht zurück, erzählt man sich in gewissen dunklen Kreisen. Letzteres wollte ich nicht glauben, bis ich es mit eigenen Augen sah. Dabei sieht er so unscheinbar aus, als würde ihn kein Wässerchen trüben können. Ab und an hat er auch mal was für Rowan erledigt, daher konnte ich ihn erkennen.“
Andrews dachte nach, wie er Adams Informationen verarbeiten könnte. Wo hielt sich Hunter auf? Wer war er? Wo wohnte er?
„Wissen sie mehr über Hunter Jones?“, wollte Andrews wissen.
„Ich habe mich eine Zeitlang an seine Fersen geheftet, weil ich wissen wollte, wer die Drahtzieher an Rowans Mord waren. Denn die beiden Kerle, die damit prahlten, waren es definitiv nicht. Dabei ist mir aufgefallen, dass er oft bei Lola Wilkin anzutreffen ist“, erzählte der Mann.
„Das ist doch die Bordellbesitzerin in der Watergate Street, wo Stanley Brown ein Zimmer hat“, erkannte der Inspektor.
„Genau dort“, meinte Adam. „Da werden sie ihn garantiert auch finden. Wenn er nicht dort sein sollte, Lola weiß ganz bestimmt mehr. Fühlen sie ihr ruhig richtig auf den Zahn, wenn sie nicht zwitschern will. Ihr zu drohen, sie käme hinter Gittern, wenn sie nicht kooperiert, zieht bei der immer.“
Andrews war erst einmal zufrieden mit dem, was der Mann ihm berichtet hatte. Damit käme er wieder einige Schritte voran. Da war er sich sicher. „Gibt es noch etwas, das sie mir sagen wollen?“, fragte er den Zeugen.
„Nein, Sir. Das war nun alles“, erwiderte Adam.
„Ich danke ihnen, Mr. Davies. Sie haben uns damit sehr geholfen“, sagte der Inspektor und entließ den Mann.
Als Adam aus dem Büro des Inspektors kam, wartete nur noch Edward Clark auf ihn. Liz und Alfred waren bereits zurück in ihre Wirtschaft gegangen. Sie wollten die nicht allzu lange geschlossen halten. Da sie ausgesagt hatten und sie nicht mehr gebraucht wurden, verließen sie das Revier.
„Was hat das bei dir so lange gedauert?“, fragte Edward seinen Kumpan.
Adam berichtete, was ihm noch eingefallen war.
„Warum hast du mir das nicht erzählt?“, wollte Edward wissen.
„Ich hatte Angst“, gab Adam zu.
„Wovor?“
„Ich weiß es auch nicht. Mehr davor, du würdest mir nicht glauben“, gab Adam kleinlaut zu.
Edward lachte. „Du bist mir einer! Ich dir nicht glauben! Mann, du bist mein bester Freund. Dir glaube ich alles!“