Nachdem die Polizeidroschke um die Ecke gebogen war, machten sich Inspektor Andrews und Constable Williams auf den Weg zu Rowan Clarks Quartier in der Shaftesbury Street. Die Straße war einige Kilometer vom Bordell entfernt. Daher winkten sie eine Droschke herbei, die ihnen an der nächsten Abbiegung entgegenkam.
„In die Shaftesbury Street“, wies Andrews den Kutscher an.
Der schaute erstaunt in Richtung des Inspektors. „Sir, das ist aber auf der anderen Seite der Stadt“, sagte der Mann.
„Ich weiß“, erwiderte Andrews und stieg in den Fond.
„Wie sie meinen“, murmelte der Kutscher und trieb die Pferde an.
Die Fahrt zum anderen Ende der Stadt dauerte beinahe eine Stunde. Währenddessen unterhielten sich die beiden Polizisten über den letzten Fall, den sie gemeinsam gelöst hatten.
„Ich hoffe, den laufenden Fall können wir bald lösen“, sagte der Constable zu seinem Vorgesetzten.
„Sie sind viel zu ungeduldig, junger Mann“, meinte Andrews daraufhin lachend. „Aber das haben alle jungen Kollegen, die neu bei der Polizei sind wohl so an sich. Viel zu ungeduldig, am besten gleich alles lösen. Dabei haben es manche Fälle in sich.“
„Ach, Chef, Geduld zu haben ist leichter gesagt als getan“, erwiderte Williams stirnrunzelnd.
„Sprechen wir uns in ein paar Jahren wieder. Dann werden sie anders reden“, sagte Andrews. „Aber nun zum laufenden Fall.“ Der Inspektor holte tief Luft. „Ich verspreche mir viel von der Vernehmung von Clarks Leuten. Die wissen was. Vielleicht sogar mehr als sie zugeben.“
„Da sind sie sich wohl sehr sicher?“, fragte Williams.
„Ja, sehr“, Andrews schaute seinen Kollegen an. Dann sprach er weiter. „Vielleicht haben wir der Clark-Bande sogar die Arbeit abgenommen. Ich glaube kaum, dass die es auf sich sitzen lassen, dass ihr Boss von Stanley umgebracht wurde.“
„Wir sind uns doch noch gar nicht sicher, ob dieser Brown wirklich der Mörder von Clark ist. Was ich mich aber noch frage, ist, wer die letzten beiden Männer umgebracht hat.“
„Ich habe da eine Ahnung. Nein… es ist eher ein Bauchgefühl. Darauf kann ich mich eigentlich immer verlassen. Warum also nicht auch bei diesem Fall“, erwiderte Andrews. „Ich nehme an, Clarks Leiche sollte verschwinden. Die beiden letzten Toten hatten wahrscheinlich den Auftrag, dies zu tun. Doch der Leichnam tauchte wieder auf. Der Fluss spuckte ihn einfach wieder aus. Um die Tat zu vertuschen, mussten sie dran glauben, weil Brown Angst hatte, die beiden könnten plaudern, falls wir sie in die Finger bekommen.“
„Gute These, Chef“, meinte Williams sichtlich beeindruckt von den Gedankengängen des Inspektors. Als er seine Meinung dazu sagen wollte, stoppte die Droschke.
„Wir sind in der Shaftesbury Street“, ließ der Kutscher vernehmen. Er stieg vom Bock und öffnete die Tür des Verschlags.
Andrews und Williams stiegen aus. Während der Inspektor den Mann entlohnte, schaute sich der Constable um. Die Straße war recht unscheinbar. Kleine Häuschen reihten sich aneinander. Es waren eher armselige Hütten als richtige Häuser. Viele davon hatten ihre besten Zeiten bereits hinter sich. Trotzdem waren die meisten Vorgärten sehr gepflegt. Hier und da wuchsen neben Kohl, Rüben und anderem Gemüse, auch Blumen, die wie bunte Farbtupfer das Grau der Gegend etwas angenehmer machte.
„Wissen sie, wo Rowan Clark wohnt?“, wollte Andrews von einem Passanten wissen, der an ihnen vorbeieilte.
„Fragen sie doch dort drüben in der Schenke“, erwiderte der Mann und ging einfach weiter.
„Danke“, rief der Inspektor ihm nach und setzte sich in Bewegung. Williams folgte ihm.
Schenke konnte man zu diesem dunklen und winzigen Kabuff eigentlich nicht sagen. Die Decke war so tief, dass Andrews den Kopf einziehen musste, um nicht anzustoßen. Constable Williams, der noch einen Kopf größer war als sein Vorgesetzter, musste sogar gebückt gehen. Die Fenster der Kaschemme waren so klein, dass sie kaum Licht hereinließen. Außerdem waren sie verdreckt. Spinnweben zierten die Fensterstöcke und Ecken.
Andrews blickte sich um und entdeckte zwei Männer, die an einem der Tische saßen und ihr Aleglas anstarrten. Die beiden beachteten die Ankömmlinge gar nicht, sondern starrten weiter vor sich hin als gäbe es nichts Schöneres. Eine rußige Lampe stand zwischen ihnen und erhellte die Szene nur spärlich. Auch auf dem Tresen stand eine Lampe. Die qualmte mehr als sie Licht spendete.
In einem angrenzenden Raum, der wohl die Küche war, klapperten Töpfe. Es schepperte, als würde etwas herunterfallen. Ein Mann beschimpfte eine andere Person als Faulpelz und Depp. Dann klatschte es. Eine Frau begann zu weinen, die männliche Stimme schimpfte noch lauter. Der Vorhang aus dem Nebenraum wurde aufgerissen und ein Bulle von Mann stürmte in die Schankstube. Auch er zog den Kopf ein, um nicht an die Decke zu stoßen.
„Oh, Kundschaft“, sagte er und wischte sich die schweißnasse Stirn mit einem Tuch ab. „Wenn man nicht alles selbst macht, dann tanzen einem alle auf der Nase herum, sogar das eigene Eheweib.“ Er zeigte auf die Tür, aus der er eben gekommen war.
Der Inspektor schaute hindurch und sah dort eine Frau am Herd stehen und in einem Topf rühren. Sie schniefte und wischte sich immer wieder die Augen. Dabei warf sie dem grobschlächtigen Mann immer wieder böse Blicke zu. Der jedoch ließ sich nicht beeindrucken.
Andrews schaute etwas genauer und konnte einen Handabdruck auf der Wange der Frau erkennen. „Habe ich es mir doch gedacht“, sagte er leise zu sich selbst. „Madame, ist alles in Ordnung?“, rief er durch die Tür hindurch.
„Ja, ja, Sir, alles in Ordnung“, antwortete die Frau und rührte weiter in ihrem Topf als wäre nichts gewesen und als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt.
„Möchten die Herren etwas trinken?“, wollte der Wirt wissen. „Oder etwas essen? Meine Frau hat sogleich das Mittagessen fertig.“
„Eigentlich möchten wir nur eine Auskunft“, erwiderte Andrews.
„Ich bin doch kein Auskunftsbüro“, knurrte der Wirt. „Um was geht es denn?“, tat er dann doch interessiert.
„Kennen sie Rowan Clark?“, fragte der Inspektor.
„Warum fragen sie gerade nach dem?“, kam anstatt einer Antwort eine Gegenfrage. „Der ist doch seit über drei Wochen spurlos verschwunden“, erwähnte der Mann wie nebenbei.
„Das wissen wir“, antwortete Andrews. „Doch beantworten sie mir meine Frage. Kennen sie Clark?“
Der Wirt tat so, als würde er überlegen. Dann sagte er: „Wenn kennt diesen Clark und seine Bande nicht? Die machen viel zu oft die Gegend unsicher. Es wird aber auch viel Gutes über sie geredet.“
Andrews schaute den Mann genervt an.
„Komme ich auf den Punkt. Natürlich kenne ich Clark“, sagte Alfred Miller, der Wirt.
„Wo hat sich die Bande getroffen?“
„Der war mit seinen engsten Busenfreunden manchmal hier und hat Ale mit denen getrunken“, gab der Wirt Auskunft.
„Und der Rest der Bande?“
„Sie waren selten hier. Clark mochte es nicht, wenn seine Leute in der Öffentlichkeit soffen. Die haben sich immer in ihrer Zentrale, wie er es nannte, getroffen“, erzählte der Mann frei von der Leber weg.
Constable Williams, der bisher schweigend zugehört hatte, meldete sich zu Wort. „Sagen sie, guter Mann, weshalb sprechen sie von Clark in der Vergangenheit?“
Der Wirt grinste, als wäre er nicht bei Sinnen. „Na, weil der Kerl auf dem Grund der Themse liegt“, platzte er heraus.
„Woher wissen sie das?“, fuhr Andrews hoch. „Bisher gab es noch keinen offiziellen Bericht über das Auffinden von Clarks Leiche. Also können sie es nicht wissen!“ Er blickte den Wirt ernst an. „Sprechen sie endlich, Mann!“
„Da waren doch vor etwa zwei Wochen so schmierige Typen hier. Die erzählten das. Ich wollte es erst nicht glauben, aber dann zeigte einer mir Clarks Siegelring. Den hätte er nie freiwillig hergegeben. Der Ring wäre seine Bezahlung, behauptete der Kerl.“
„Was sie nicht sagen“, meinte Andrews interessiert. „Wie sah der Mann aus?“
„Liz, komm mal!“, rief der Wirt nach hinten seiner Frau zu.
„Alfred, was gibt es denn nun schon wieder. Ich muss auf das Essen aufpassen. Wenn es anbrennt, ist es deine Schuld!“, schimpfte die als Liz bezeichnete Frau und kam mit einem Kochlöffel in der Hand aus der Küche.
„Du hast doch letztens diesen Typen, der Clarks Siegelring hatte, auch gesehen“, sagte Alfred zu seinem Weib. „Dein Gedächtnis ist besser als meines. Wie sah der aus? Erzähle den Herren hier, was du weißt.“
Nun überlegte Liz. „Eigentlich waren es zwei“, sagte sie, was mit der Aussage ihres Gatten übereinstimmte. „Deine eine hielt sich mehr im Hintergrund auf und hatte mehr Interesse an seinem Aleglas und dessen Inhalt. Der andere plauderte wie ein Wasserfall und erzählte das von Clark.“
„Wie sahen die Männer aus?“, drängte Andrews, der eine heiße Spur roch. Auch Williams sperrte die Ohren auf und machte Notizen.
Nun gab Liz eine genaue Beschreibung von Freddy Taylor und Henry Allister.
„Madame, Mrs. Miller, damit haben sie uns sehr viel geholfen“, bedankte sich der Inspektor und fragte nach den vollständigen Namen der beiden Zeugen. Der Constable schrieb alles auf.
„Noch eine Frage“, sprach der Inspektor weiter. „Wo trifft sich Clarks Bande?“
Der Wirt hielt mit einer genauen Erklärung nicht hinter dem Berg.