„Das ist ja ein Ding“, sagte Smith zu Inspektor Andrews, nachdem die beiden Freundinnen die Pathologie verlassen hatten. „Da werden zwei Leichen gefunden und durch einen ganz dummen Zufall werden die auch noch als vermisst gemeldet. Und prompt sind die Frauen zur Stelle und identifizieren sie. So leicht möchte ich es auch mal haben.“ Smith kratzte sich am Ohr. Dann lachte er. „Ich glaube kaum, dass es so etwas jemals wieder geben wird.“
„Das glaube ich auch nicht“, erwiderte der Inspektor. „Doch der Fall ist längst nicht gelöst. Es steht immer noch die Frage im Raum, wer sie umgebracht hat und wer der erste Tote ist.“
„Da haben sie Recht“, sagte der Pathologe. „Ich beneide sie nicht um diese Aufgabe. Es ist schon für mich schwer, die Toten zum Sprechen zu bringen.“
„Wird schon“, meinte Andrews. „Kommt Zeit, kommt Rat und manchmal hilft auch Kommissar Zufall.“
„Ich hoffe nur, der Chief macht nicht zu sehr Druck“, meinte Smith. „So wie ich ihn kenne, will er die Fälle am besten gestern gelöst haben.“
„Ach wissen sie, so war er schon immer. Daran wird sich auch nichts ändern. Ich lasse mich nicht hetzen. Es bringt nichts, einen Fall auf Teufel komm raus zu lösen, nur um Ergebnisse vorlegen zu können und vielleicht sogar noch Unschuldige hinter Gittern oder sogar an den Galgen zu bringen. Diesen Schuh werde ich mir niemals anziehen. Ich mache meine Arbeit ordentlich und nach bestem Gewissen.“ Andrews schaute an die Uhr. „Smith, ich muss los. Williams hat bestimmt schon die Aufzeichnungen geordnet. Wir wollen dann gleich in die Watergate Street in Lola Wilkins Bordell.“
„Bordell?“, fragte Smith.
„Dorthin wollten unsere beiden Toten, erzählten vorhin deren Gattinnen. Die dachten, es sei ein Pub und waren ganz erstaunt, als sie erfuhren, es ist kein Pub, sondern ein Bordell. Dieser Spur will ich nachgehen.“
„Na dann… viel Glück“, meinte Smith.
„Danke, das werde ich wohl gebrauchen“, erwiderte Andrews und ließ den Doktor allein.
„Williams, sind sie fertig?“, fragte Andrews den Constable, als er sein Büro betrat.
Der Constable saß am Schreibtisch und sortierte die neuesten Aufzeichnungen in die Akten ein. „Ja, gerade fertig“, erwiderte der und stand auf. „Ins Bordell, nehme ich an“, sagte er.
„Genau… solange die Spur noch heiß ist“, entgegnete Andrews und nahm Mantel und Hut vom Kleiderständer. „Gehen wir…“
Am Eingang wurden Andrews und Williams vom Pförtner aufgehalten. „Sir, der Chief wünscht sie zu sprechen“, sagte der zum Inspektor.
„Schon wieder“, stieß Andrews genervt aus. „Was will er denn von mir?“, fragte er vorsichtshalber, obwohl er den Grund für das Gespräch ahnte.
„Weiß ich nicht“, antwortete der Pförtner. „Er ließ mir nur ausrichten, es ihnen zu sagen, falls sie das Gebäude verlassen sollten.“
„Sagen sie dem Chief, sie hätten mich nicht mehr angetroffen“, sagte Andrews.
„Ich kann ihn doch nicht belügen“, echauffierte sich der Pförtner.
„Nun machen sie sich nicht in die Hose“, murrte Andrews. „Das ist auch nicht anders, als wenn sie ihre Gattin belügen, wenn sie wieder einmal zum Glücksspiel wollen, anstatt das zu tun, was sie sich wünscht.“
Damit hatte Andrews den Mann auf dem richtigen Fuß erwischt. „Wie sie meinen“, murmelte der und ließ die beiden Polizisten passieren.
Den knapp fünfminütigen Weg gingen Andrews und Williams zu Fuß. Ein frischer Wind blies den Männern um die Nase, was ihnen guttat. Ihre Gedanken kreisten um die beiden Fälle, von denen sie wenigstens einen als fast gelöst ansahen.
„Ich bin gespannt, was wir in diesem Bordell herausfinden werden“, sagte Andrew, nachdem er einige Zeitlang schweigend neben dem Constable gegangen war.
„Ich hoffe doch, dass wir endlich weiterkommen“, antwortete William. „Es wäre nicht schlecht, gleich beide Fälle gelöst zu bekommen.“
„Junger Freund, sie haben wohl neben einem Wunschbrunnen geschlafen“, meinte Andrew lachend.
„Auf jeden Fall war es gut, dass die Ehefrauen der beiden letzten Toten urplötzlich im Revier auftauchten und ihre Gatten als vermisst meldeten.“
„Das war allerdings ein sehr großer Zufall. So etwas wird uns wohl nicht so schnell wieder passieren“, entgegnete der Inspektor. „Aber jetzt wissen wir erst einmal, wo die Männer sich am Abend ihres Verschwindens aufgehalten haben.“
Über den Fall diskutierend setzten die Polizisten ihren Weg fort. Kurze Zeit später erreichten sie Lola Wilkins Bordell.
Als Inspektor Andrews und der Constable das Bordell betraten, schlug ihnen dicker Rauch, Bier- und Schnapsgeruch entgegen. Die Gerüche paarten sich mit dem Schweißgeruch der anwesenden Männer, die wohl schon seit langer Zeit keinen Waschzuber mehr gesehen hatten. Einige der anwesenden Damen, wenn man diese als Damen bezeichnen könnte, saßen auf dem Schoß ihrer Freier. Andere wiederrum lümmelten an der Bar herum. Lautes Stimmengewirr machte eine normale Konversation beinahe unmöglich.
„Mein Gott, was für eine Kaschemme“, murmelte Andrews entsetzt, der sich mit Constable Williams im Schlepptau durch die Menge zu einem freien Tisch in der Nähe der Küchentür schlängelte.
„Ich frage mich, was die Kerle“, Williams zeigte in den Raum, „an so einem Etablissement haben. Schauen sie sich doch mal die Dirnen an. Die haben auch schon bessere Zeiten gesehen.“
„Na gut“, erwiderte Andrews, der sich ebenfalls unauffällig umsah. „Die scheinen billig zu sein.“ Er schüttelte den Kopf. „Die Männer hier sind wahrscheinlich auch nur arme Schweine, die ihr weniges Geld für billige Huren ausgeben. Am Hungertuch scheinen sie alle zu nagen.“
„Wollen die Herren etwas trinken“, wurden sie von einer Frau in einem speckigen Kleid angesprochen.
Andrews, der sich gestört fühlte, nötigte sich eine Antwort ab. „Bringen sie uns zwei Ale“, sagte er. „Hoffentlich ist das auch gut.“
„Natürlich, Sir, unser Ale ist das Beste der Gegend“, erwiderte die Bedienung und verschwand hinter der Theke, wo sie zwei Gläser Ale abfüllte. „Wünschen sie zu speisen“, fragte die Frau, als sie das Bier auf den Tisch stellte.
„Danke, nein“, antwortete Andrews. „Wir haben aber ein paar Fragen.“
„Fragen kosten was“, erwiderte die Frau schnippisch und wollte gehen.
„Warten sie“, hielt der Inspektor sie zurück und zückte seine Dienstmarke.
„Bullen“, spie die Bedienung aus und sah die Polizisten von oben herab an. „Bullen gebe ich keine Auskunft.“
„Wir können sie auch ins Revier bestellen“, sagte der Inspektor. „Wenn ihnen das lieber ist.“
„Ja, ja, schon gut“, gab die Frau klein bei. „Ich muss aber erst Lola Bescheid geben, dass sich jemand anders um die Gäste kümmert.“
„Tun sie das und kommen gleich wieder“, warnte Andrews.
Kurze Zeit später erschien Lola Wilkins am Tisch der Polizisten. „Was wollen sie? Bullen sind hier nicht gerne gesehen“, knurrte sie die Männer an.
„Wer sind sie? Und was maßen sie sich an, uns Bullen zu nennen?“, fuhr Andrews die Bordellbesitzerin an.
„Ich bin Lola Wilkins, die Besitzerin dieses Ladens hier“, stellte sich Lola vor. „Was wollen sie von meiner Thekenschlampe? Sie hat besseres zu tun, als Bullen“, sie betonte das Wort „Bullen“ extra, „Rede und Antwort zu stehen.“
„Ich sagte bereits, wir sind Polizisten und keine Bullen. Mäßigen sie sich, oder wir nehmen sie mit aufs Revier“, wurde Andrews nun etwas lauter. Er nestelte an seinem Gürtel und löste die Handschellen.
Als Lola dies bemerkte, wurde sie blass. „Ich will keinen Ärger. Also, was wollen sie?“
„Wo ist ihre Bedienung? Sie sollte gleich wiederkommen und unsere Fragen beantworten?“
„Die hat zu tun. Ich kann ihnen auch antworten“, erwiderte Lola und setzte sich an den Tisch.
„Gut, aber dann möchten wir die Frau auch noch sprechen“, knurrte Andrews.
Während Williams wieder seinen Notizblock zückte, begann der Inspektor mit der Befragung.
„Kennen sie Freddy Taylor und Henry Allister?“, wollte Andrews wissen.
„Nicht, dass ich wüsste. Wer soll das sein?“, fragte die Bordellbesitzerin.
„Ja oder nein?“
„Hier kommen täglich unzählige Männer zu meinen Dirnen, wie soll ich mir da von jedem den Namen merken?“, erklärte Lola. „Es kann sein, dass ich sie kenne. Kann aber auch sein, nicht.“ Sie sah den Polizisten an. „Wie sehen die Kerle denn aus?“, fragte sie dann.
Andrews zeigte ihr die Zeichnungen, die der Polizeizeichner angefertigt hatte. Lola schaute sie an.
„Hm“, murmelte sie. „Bekannt kommen die mir schon vor. Aber die haben Allerweltsgesichter.“
„Kennen sie die Männer nun?“, fragte Andrews noch einmal.
Lola machte wieder nur „Hm“.
„Na was nun? Ja oder nein?“, ging der Inspektor hoch wie eine Rakete
„Nein“, antwortete Lola endlich.
„Warum denn nicht gleich so! Dieses Diskutieren bringt uns nicht weiter“, er machte eine kurze Sprechpause. „Sagt ihnen der Name Rowan Clark etwas?“
Lola überlegte und sagte dann: „Ja, natürlich. Wer kennt den nicht? Das ist doch der Boss der Gang Wild Wolves. Warum fragen sie nach dem?“
„Das geht sie nichts an“, erwiderte Andrews. „Wie sieht es aus mit Stanley Brown?“
Die Frau wurde hellhörig. „Hat er was ausgefressen?“, kam eine Gegenfrage anstatt einer Antwort.
„Antworten sie mir“, schimpfte Andrews.
„Ja, den kenne ich auch, sogar persönlich.“
„Wie kam es dazu?“, fragte Andrews.
„Er wohnt zeitweise in meinem Etablissement“, erwiderte Lola wahrheitsgemäß.
„Wissen sie etwas davon, ob Brown und Clarke Streitereien hatten?“, kam sogleich die nächste Frage.
„Keine Ahnung. Die Gangsterbosse haben untereinander doch immer irgendwelche Streitereien“, sagte Lola.
„Welcher Art?“
„Na ja, Revierkämpfe, Streitigkeiten über Dirnen und so weiter“, antwortete Lola.
„Gut… gab es in der letzten Zeit derartige Vorfälle?“
„Ich habe gehört, dass Brown sich mit Clark gestritten hat, aber um was es da ging, entzieht sich meiner Kenntnis“, sagte Lola.
Andrews sah seinen Constable an. Der zuckte nur mit den Schultern, wie, er wüsste jetzt auch keine weiteren Fragen.
„Vielen Dank, sie können gehen. Schicken sie mir ihre Bedienung her“, sagte Andrews und entließ die Frau.
Wenig später erschien die von Lola als Thekenschlampe bezeichnete Frau und setzte sich an den Tisch der Polizisten.
„Womit kann ich dienen?“, fragte sie und klimperte mit den Augen. Dabei schmachtete sie Constable Williams an, der aber auf ihre Avancen nicht reagierte.
„Wie ist ihr Name?“, fragte Inspektor Andrews.
„Katie Atkins“, antwortete die Frau.
„Arbeiten sie schon lange hier?“, wollte der Inspektor wissen.
„Drei Jahre etwa“, erwiderte Katie.
„Da kennen sie bestimmt fast alle Gäste?“
„Das kann man so sagen. Die Stammkunden kenne ich beim Namen, wir haben hier fast nur Stammkunden“, gab Katie Auskunft.
„Wissen sie wer Henry Taylor und Freddy Allister sind?“
„Natürlich. Die waren öfter hier und haben getrunken.“
„Wann waren die beiden zuletzt hier?“, fragte Andrews.
Katie überlegte. „Ich glaube, das war vorgestern Abend.“ Sie dachte nochmals angestrengt nach. „Ja, da bin ich mir sicher. Das war vorgestern Abend.“
„Was haben sie hier getan?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das, was sie immer tun: saufen. Später sind sie dann mit Carter weggegangen.“
„Wer ist Carter?“
„Stanley Browns rechte Hand. Der wohnt grad mal wieder oben in einem der Zimmer“, sagte Katie.
„Ach ja. Ich dachte, das hier ist ein Bordell.“
„Die Chefin lässt Brown immer mal oben wohnen, wenn er in der Stadt ist. Zurzeit ist er hier. Seit einer Woche etwa wieder. Vorher war er zwei Wochen weg. Fragen sie mich nicht, wo. Das weiß ich nicht.“
„Kennen sie einen Rowan Clarke?“
Katie lachte. „Klar. Das ist der Boss der Wild Wolves. Was ist mit dem?“
„Das wissen wir noch nicht.“ Er zog erneut die Zeichnung von Clark aus der Tasche und zeigte sie Katie.
Die schaute sie sich an. „Das ist eindeutig Clark“, sagte sie dann.
„Woher wissen sie das?“
„Ich habe vorher bei ihm gearbeitet“, antwortete die Frau.
Andrews riss vor Erstaunen über solch einen Zufall die Augen auf.
„Es gab Ärger mit Clark. Er belästigte mich ständig. Deshalb bin ich weg“, sagte Katie, bevor Andrews fragen konnte. „Über genaueres möchte ich nichts sagen. Es ist mir zu peinlich.“ Sie wurde rot. Andrews verstand und ging nicht weiter darauf ein.
„Wissen sie etwas von Streit zwischen Clark und Brown?“
Katie lachte. „Den gab es ständig.“ Dann erzählte sie, über was die Männer stritten. Das deckte sich mit der Aussage von Lola. „Letztens erst sagte Brown, er wird diesen Clarke nochmal ins Jenseits befördern. Er hätte die Schnauze voll von dem Kerl.“ Katie blickte den Inspektor an. „Wenn sie ein Bild von Clark haben, wo ist er dann?“ Sie schluckte aufgeregt.
„In der Pathologie in unserem Revier in der Baker Street“, erwiderte Andrews.
Die Frau riss erschrocken die Augen auf. „Er, er… er ist tot?“, stotterte sie.
Andrews nickte daraufhin nur.
„Oh mein Gott“, stieß Katie entsetzt aus. „Er hat es wirklich getan.“
„Wer hat was getan?“
„Brown“, stotterte Katie erneut. „Dann war er es, vor etwa drei Wochen.“
„Was?!“, schrie Andrews fast und sprang vor Aufregung von seinem Stuhl. „Was sagen sie da?“
„Brown hat Clark erschossen. Vor drei Wochen gab es wieder einen Streit, über eine Hure, die von Brown hierher gewechselt war. Clark war darüber so erbost, dass er herkam und sich darüber echauffierte. Nachdem die beiden laut gestritten hatten, ging Clark unverrichteter Dinge wieder und Brown folgte ihm. Nach etwa einer Stunde kam er wieder. Ich hörte, wie er zu Carter sagte, das Problem wäre nun gelöst und Clark würde nun keinen Ärger mehr machen. Carter solle jemanden finden, der die Drecksarbeit macht.“ Die Worte sprudelten wie ein die Fontäne eines Springbrunnens aus Katie heraus. „Carter schien schnell gehandelt zu haben. Am selben Abend tauchten Allister und Taylor zum ersten Mal auf. Sie kamen etwa drei Wochen fast täglich. Und vorgestern Abend waren sie zum letzten Mal hier.“
„Die Leiche, die wir gefunden haben, war etwa drei Wochen tot, sagte unser Pathologe, Allister und Taylor verschwanden vorgestern und gestern wurden sie tot an der Stelle gefunden, an der Clarks Leichnam angespült wurde. Das ist sehr verdächtig und passt zusammen wie die Faust aufs Auge. Wahrscheinlich wurden die beiden damit beauftragt, Clarks Leiche zu entsorgen. Da er aber wieder auftauchte, bekam Brown kalte Füße und ließ die Mitwisser ermorden.“
„So kann es gewesen sein, Chef“, meldete sich Williams, der die ganze Zeit nur zugehört und Notizen gemacht hatte, zu Wort. „Wenn Brown Clark um die Ecke gebracht hat und die Ermordung von Allister und Taylor angeordnet hat, wer hat letztere dann ins Jenseits befördert?“
„Carter, wer sonst“, platzte es aus Katie heraus. „Der Kerl macht alles für Brown, warum nicht auch morden.“
„Dem werden wir nachgehen“, sagte Andrews. „Wir danken ihnen, Miss Atkins.“ Er stand auf und reichte der Bedienung die Hand. „Wenn wir noch Fragen haben sollten, melden wir uns bei ihnen.“
„Nichts zu danken, Inspektor“, erwiderte Katie und verließ die beiden Polizisten.
„Was hast du die ganze Zeit mit den Bullen zu reden gehabt?“, fauchte Lola Katie an, als diese zurück zum Tresen kam.
„Die Herren hatten Fragen zu einem Mordfall“, erwiderte Katie schnippisch. „Das weißt du doch. Dir haben sie die gleichen Fragen gestellt.“
„Du hast sehr viel länger mit denen gesprochen“, konterte Lola.
„Na und…“
„Was hast du denen erzählt“, fuhr Lola ihre Bedienstete erneut an, worauf diese nur sagte: „Die Wahrheit.“