Fortsetzung hiervon:
https://belletristica.com/de/books/16542/chapter/140194
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Ich plüsche Marvs dichtes Winterfell auf und rücke näher an den Kamin, als ein verdächtiges Rasseln mich aus meinen Träumereien von Wärme reißt.
Ich hebe den Kopf und sehe etwas bläulich-buntes vor der Tür vorbeikriechen. Das sieht aus wie so ein Kinder-Planschbecken ...
Das ist ein Kinderplanschbecken! Allerdings nicht aufgepustet und offenbar voller Krimskram. Das Planschbecken kriecht weiter.
Ich stehe auf und trotte zur Türöffnung. Als ich den Kopf auf den Gang rausstrecke, höre ich bereits ein leises Ächzen, in dem irgendwie Abenteuerlust und Spaß mitschwingt. Ich folge der spitzen Seite des Plastiktuchs und entdecke schließlich den Urheber der Geräusche, der das gefüllte Planschbecken hinter sich herzieht.
"Xenon? Was ... was wird das hier?"
Der Otter stößt einen leisen Schreckensschrei aus, wie immer, wenn man ihn bei etwas Verbotenem überrascht, und wirbelt herum.
"Marv!" Er guckt genauer hin. "Oh, und Erzähler! Wie schön, euch zu sehen! Ist tolles Wetter heute, nicht wahr?"
Ich sehe unverwandt auf ihn herunter. In dem Schwimmingpool-Tuch liegen ein Ventilator, eine Taschenlampe, mehrere Bindfäden, Kabel und Gummibänder, eine Spielzeugschleuder und ein lilanes Plastiksegel von einem Spielzeug-Surfboard, ein Karton, drei Rollen von Einkaufswagen, der mechanische Arm einer Tischlampe ohne Fuß oder Schirm, mehrere Stücke Pressspanplatte, Farbe und Pinsel, Magnete, Uhrenzeiger, mehrere kleine Räder und Schrauben und Muttern, Klebeband in schwarz und mit Flammenmuster und eine von diesen schwarzen Klammern mit langen Griffen. Mir schwant Übles.
"Tjaaa, also, nettes Gespräch, aber ich muss dann auch weiter ..." Xenon stemmt sich in das Tuch.
Ich setze eine Pfote auf das Planschbecken. "Xenon!", sage ich streng.
Der kleine Otter lässt sich auf den Boden plumpsen. "Ich dachte nur, wo ich meine Fluggeräte mit Moon trainiert habe, könnte ich jetzt mal was mit Auftrieb bauen."
"Mit ... Auftrieb? Du willst ein Flugzeug bauen?" Ich hab's gewusst! Ich hab's gewusst! Diesen Otter darf man keine zwei Sekunden aus den Augen lassen!
"Ja, die Aonyx 2 geht langsam kaputt. Die Fäden reißen das Papier ein. Ich brauche was Stabileres."
"Die Aonyx 3, vermute ich", murmele ich leise und starre entgeistert auf den Krimskram. "Ich hab dir doch verboten, zu fliegen!"
"Aber ich habe ganz viel geübt und mache auch gar keine Unfälle mehr!", bettelt Xenon. "Und ich habe echt lange an dem Plan gesessen."
"Na gut", murmele ich widerstrebend. "Aber ich möchte den genauen Plan erfahren!"
"Jaaa!" Xenon macht einen Luftsprung und versucht, sein Material weiterzuziehen.
Schließlich erbarme ich mich, hebe das Plastiktuch auf und trage ihm die Sachen hinterher. Es geht mehrere Treppen hinauf bis in den höchsten Turm, wo ich bereits ziemlich schnaufe, weil ich immer um ein Paket Müll herumatmen muss.
Hier oben liegt Xenons Übungsplatz. Ich reiße die Augen auf, als ich den großen Kartonturm in der Mitte und die auf dem Boden verteilten Matratzen erblicke. Ich wusste ja, dass Xenon gemeinsam mit White Moon hier oben gebastelt hat, aber dass die beiden gleich das komplette Zimmer in einen kleinen Kletterparcours verwandeln ...
"Warum riecht es hier nach Ei?", frage ich und schnüffele weiter.
"Ich durfte erst springen, wenn wenigstens sieben von zehn Eiern den Sturz nach unten überleben", erklärt Xenon.
"Und danach habt ihr die Kissen nicht ausgewaschen?!"
"Schon, aber ... nur so ein bisschen."
"Die kommen sofort in die Wäscherei", grummele ich. "Ich dachte, Moon hätte einen besseren Einfluss auf dich!"
"Eventuell habe ich auch einen schlechten Einfluss auf sie." Xenon grinst, dann hoppelt er zum Fuß des Turms und holt etwas heraus. "Aber was sagst du dazu? Da hat sie mir bei geholfen!"
Er setzt sich eine kleine Kappe auf, die aussieht wie ein abgeschnittener Teil von einem Handschuh aus Leder. Mit Tackerklammern wurde ein Stück breites Klebeband an den Seiten befestigt, sodass sich ein etwa menschenfingerbreiter Stoffstreifen nach unten schieben lässt. In den Streifen eingesetzt sind zwei runde, durchsichtige Plastikstücke, die mir verdächtig bekannt vorkommen. Irgendein Idiot hatte nämlich letztens meine Foliensammlung gelocht und das da sieht aus wie dieses Konfetti aus dem Locher.
Xenon schiebt den Klebebandstreifen mit Plexiglas vor seine Augen und ich erkenne das Ding als eine Mütze mit integrierter Brille.
"Ich bin überrascht", gebe ich zu.
Hinter mir klackert es. Als ich mich umdrehe, tritt cyber_doggo gerade herein. Im Maul trägt der Roboterhund einige Blaupausen.
"Du weißt davon!", rufe ich anklagend.
"Cyb hat mir mit den ... temmodanymischen Berechnungen geholfen", erklärt Xenon.
"Meinst du thermodynamisch?", fragt mein innerer Besserwisser.
Xenon nickt. "Genau, temmodanymisch!"
Cyb rollt die Blaupausen aus und ich starre auf die Absurdität darauf. Ich sollte Xenon aufhalten. Das wäre vernünftig.
Aber, bei den Sternwölfen, ich möchte wissen, wie das am Ende aussieht!
"Alsooo ...", murmelt Xenon und legt nachdenklich die Pfote vor das Schnäuzchen, während er das Chaos überblickt. "Fangen wir mit dem Ventilator an, das ist nämlich der wichtigste Teil!"
Es handelt sich um einen großen, weißen Tisch-Ventilator. Den legen wir so hin, dass er auf den eingegitterten Ventilatorblättern ruht. Später werden die am Heck nach hinten und unten weisen, für Auf- und Vorwärtsantrieb. Erst einmal muss Cyb ihn aber für größere Batterien umbauen, damit genügen Power zusammenkommt. Während er dazu den Deckel vom Batteriefach im Boden (der später das obere Heck werden wird) ausbaut, beginnt Xenon, eine Metallstange an den Deckel zu schrauben und den Schraubkopf so abzudichten, dass er später nicht gegen die Akkus stößt.
An das Ende der Stange kommt eines der Einkaufswagenräder.
"Wo hast du den Kram eigentlich her?", frage ich.
"Ach, in der Taverne fällt so dies und das an", meint Xenon ausweichend.
"Na gut ..."
Er reicht mir einen Draht. "Das wird das Gaspedal. Knick den mal so, dass der später vom Sitz bis zum Einschalter des Ventilators reicht!"
Xenon tapet in der Zwischenzeit die Taschenlampe an den Ventilator. Die wird später nach vorne weisen und der Schieberegler ist da, wo Xenon ihn vom Flugmobil aus bequem mit der Pfote bedienen kann. Testweise schaltet er sie ein.
"Aaaaahhh!", schreie ich, als mir ein Flutlicht in die Augen strahlt.
"Ups", sagt Xenon und macht wieder aus. Bringt mir nur jetzt auch nichts mehr. Geblendet tapse ich rüber und reichte ihm den Startdraht.
Nachdem das Innenleben abgeschlossen ist, und der Ventilator mit dem Hinterrad und der Taschenlampe verschnürt, kommt erst einmal der Körper. Den bauen wir aus der leichten Pressspanplatte. Zuerst ein schmaler, rechteckiger Rumpf, der den Ventilatorgriff verkleidet und aus dem unten die Rotorblätter schräg herausragen. Dann kommen auf jede Seite oben zwei Löcher, durch die Xenon die Taschenlampe und das Startkabel zieht. Eine kleine Klappe ermöglicht den Zugang zur Kurbel der Taschenlampe.
Die schwarze Klammer wird unten an den Rumpf geklemmt. Sie hat zwei Metallarme, die normal nach unten weisen, aber auch hochgeklappt werden können. Mit dünnen Röhrchen aus Stahl, die Xenon dranklebt, entstehen zwei Füßchen, die auch hochklappen können. Daran kommen die anderen beiden Räder.
Vorne basteln wir aus der Pressspanplatte eine V-förmige Spitze, wie von einem Papierflieger. Aber erst einmal bleibt die oben offen, denn es fehlt noch ein bisschen was. Unser Rumpf sieht aber schon erstaunlich flugtüchtig aus: Ein hölzerner Papierflieger mit einem weißen Plastikdraht unten hinten, aus dem der Propeller guckt. Auf der einen Seite geht der Draht bis zum Schalter des Ventilators, auf der anderen Seite hängt die große Taschenlampe.
Xenon turnt aufgeregt über den Rohbau und malt ihn mit wasserabweisender Farbe an. Dann werden Türscharniere draufgeschraubt, während Cyb und ich die Folie des Planschbeckens in längliche Dreiecke teilen.
Aus Draht bastelt Xenon drei Gestelle. Zwei davon werden mit mehreren Gelenken versehen und erinnern an skelettierte Fledermausflügel, bis wir die ausgeschnittenen Dreiecke draufspannen. Das dritte besteht aus zwei länglichen Bögen oder breiteren Hasenohren. Als hier ebenfalls Folie draufgespannt wird, ähnelt es bereits einer Fischflosse und wird waagerecht hinten am Heck befestigt, über der Batterieklappe des Ventilators.
Die Flügel werden ausgetestet. Sie lassen sich auf- und zufalten wie richtige Flügel und wir kontrollieren aufmerksam, dass sie nicht verkleben können, bevor wir sie an den seitlichen Scharnieren befestigen. Xenon spannt Gummibänder, bis die Flügel normalerweise leicht unter Spannung stehen und eingeklappt sind. Die Gummibänder führen in die Nase des Fluggeräts und über einen auf Federn installierten Holzblock, der sich nach unten senkt, wenn Xenon sein Gewicht darauflegt. Mit Wind unter den Schwingen öffnen sie sich sofort und der Otter kann beeinflussen, wie weit sie sich öffnen - oder eben nicht. Dazu bastelt er noch eine kleine Holzbrücke als Griff, auf den er sich lehnt, wenn er die Flügel schließen will. (Er ist jetzt schon nicht so ganz zufrieden und Überarbeitungsmarv hier weiß zufällig, dass er die Bedienung des Klötzchens umkehren wird, sodass sich die Flügel einklappen, wenn er sich drauflehnt. Die arme Moon muss ihm dabei wieder helfen.)
Als letztes wird das Spielzeug-Surfsegel hinter Xenons Sitz aufgestellt. Mit zwei Bindfäden lässt es sich zu jeder Seite stellen. Und dann streicht Cyb alle sichtbaren Oberflächen schwarz, besonders die Flügel, die sonst blau mit gelben Quietscheentchen wären. Xenon verziert die Flügel und den Rumpf mit dem schwarzen Klebeband mit Feueraufdruck, klebt ein wenig dunkles Tuch als Polster auf die Sitz- bzw. Liegefläche und kontrolliert ein letztes Mal alle Nägel, Schrauben und Kleber.
Ich sitze verdattert daneben und starre das Fluggerät an. Es kann die Flügel auf und ab bewegen wie ein Vogel. Die Vorderräder können hochklappen und an großen Magneten des vordersten Flügelgelenks andocken, um zusätzliche Stabilität zu verleihen. Die Rückenflosse - das Surfsegel - kann man für enge Kurven nutzen und die Fluke hinten lässt sich hoch oder runter stellen, um auf- bzw. abzusteigen. Vom Sitz aus lassen sich die Taschenlampe und der Ventilator bedienen, und auch die Fäden für die Flügel, Vorderbeine, Fluke und Rückensegel laufen hier zusammen. Der Strahl der Taschenlampe fällt neben der spitzen Schnauze der Maschine nach vorne und sie ist kräftig genug, um sogar einen Flug bei Starkregen zu ermöglichen!
Xenon krabbelt auf den Rücken und befestigt noch zwei Schlaufen an den Seiten des mit Stoff bezogenen Sitzes, in die er seine Hinterpfoten schieben kann, als würde er auf einem Sattel sitzen. Dann springt er herunter und betrachtet sein Werk stolz.
Ich versuche, nicht zu beeindruckt aus der Wäsche zu sehen, aber es fällt mir schwer.
"Was sagt ihr?", fragt Xenon. "Ich möchte mir das als verfrühtes Weihnachtsgeschenk geben."
Cyb dreht sich um, holt dann eine Wasserflasche hervor und füllt ein bisschen was in einen Fingerhut, den Xenon ihm hinhält. Der Otter hüpft zum Rumpf des Schiffes und schreibt "Aonyx 3" in weißer Schrift auf die Seite und setzt noch einen weißen Otterpfotenabdruck daneben.
Feierlich stupst Cyb die Maschine mit dem Fingerhut an und spritzt etwas Wasser darauf.
"Na, Wolf?" Xenon grinst mich an. "Krieg ich dir Erlaubnis zum Testflug?"
Ich sehe raus. Klares Wetter.
"Wieso nicht? Die Brücke erteilt Starterlaubnis."
Xenon klettert auf den Stoffsitz und schiebt seine Fliegerbrille vor die Augen. Er tritt auf den gebogenen Draht und der Ventilator röhrt auf.
Gespannt treten Cyb und ich zurück. Der Ventilator pustet Staub über den Boden und drückt die Kissen in der Nähe ein. Dann ... steigt das ganze Ding ein wenig wackelig in die Höhe.
"JA! Jajaja!", jubelt Xenon lauthals.
"Konzentration!", rufe ich über den Motorenlärm, denn die Aonyx 3 ruckelt nun zunehmend vorwärts, die Spitze gen Boden gerichtet.
Xenon klappt die Vorderräder ein und an die Flügel, dann lehnt er sich vor und die Schwingen entfalten sich. Wind greift unter die fledermausartigen Tragflächen und die Aonyx legt sich waagerecht in die Luft. Dann stößt Xenon nochmal auf den Startdraht und der Ventilator wird lauter. Seine Flugmaschine saust vorwärts.
"Juhuuu!", jauchzt der Otter, während er an Seilen zieht und die Aonyx 3 im letzten Moment vor einem Zusammenprall mit der Wand bewahrt.
"Vorsichtig!", quietsche ich und lege die Ohren an, als das Fluggerät einen waghalsigen Salto vollführt und dann mit einer nahezu 180°-Drehung aus dem Fenster futscht.
Draußen legt sich das vielleicht gänsegroße Fluggerät in den kalten Wind und jagt über die Burg und die Kuppe des grauen Berges. Xenons Stimme wird nur noch ab und zu bis zum Turmzimmer getragen.
"Jetzt hat er ein Flugzeug!", murmele ich kopfschüttelnd. "Das werden wir mit Sicherheit noch bereuen."