Wenn man sternenseelenallein durch das große NICHTS UND ALLES glitcht, gleichzeitig nirgends und überall existiert und dabei jede Sekunde zu einer Stunde und jede Stunde zu einer Sekunde wird, hat man erstaunlich viel Zeit, nachzudenken.
Nivram und Sylas, die Spiegelbilder von Lyssa und mir, waren offenbar genau das. Spiegelbilder. Schatten. Dinge, die uns bis auf die letzte Fellspitze bzw. bis auf den letzten Ideenfunken gleichen, aber im selben Moment gänzlich verschieden sind.
Und obwohl sie mich ins ALLES UND NICHTS verbannt haben, habe ich irgendwie Mitleid mit den beiden. Nivram klang so traurig und verzweifelt. Ich muss ihn dringend fragen, warum. Und dann werde ich ihm verzeihen oder ihn bekämpfen, bis ER an diesem schrecklichen Ort gelandet ist – das hängt von seiner Antwort ab und folglich damit, wie gefährlich ich ihn einschätze.
Doch zuerst muss ich entkommen – aus einem Ort ohne Ein- und Ausgänge. Wenn ich wenigstens an einen Portpotion gedacht hätte.
Portpotion – Loki!
Kaum denke ich an meinen Bro, als dieser auch schon vor meinem Blick aufblitzt. Loki sitzt auf dem roten Sofa in unserem supergeheimen Broraum und liest offenbar.
„Brooo!“, rufe ich und glitche vorbei.
Loki lässt das Buch fallen, in dem es gerade gelesen hat, und sieht sich verwirrt um.
Ich zucke durch Raum und Zeit an ihm vorbei.
„B-Bro?“, fragt Loki.
Ich flackere einen halben Meter über dem Boden. Das ist verflixt schwierig, sich so zu konzentrieren, dass man ins sichtbare Spektrum gleitet. Es fühlt sich etwas so an, als würde ich versuchen, Schlittschuh zu laufen, nur, dass sich das Eis rings um mich herum befindet und auch die Zeit für mich Glatteis ist.
„BRO?!“, schreit Loki.
Mein Herz zieht sich zusammen. Armes Loki. Es muss ungefähr mindestens so viel Angst haben wie ich.
Diesmal erscheine ich neben ihm und versuche, was zu sagen. Ich kriege das Maul auf – dann bin ich wieder weg.
„Was geschieht hier, Bro?“, fragt Loki irgendwo zwischen Panik und Verzweiflung.
Ich flackere an der Wand herum.
Luan verfolgt meine abenteuerliche Reise mit dem Blick. „Brooo, wiesooo?“ Oh nein, mein Brokilu weint! Ich strenge jedes graue Zellchen an, das ich finden kann, und konzentriere mich darauf, eine einzige Botschaft zu übermitteln …
„Verd- ... Portale ... zu viel ... -ltenreis- ... -hnell, Portpotion! Muss ...“
Na, das hat ja ganz toll geklappt, denke ich leise, während ich erschöpft durch den geheimen Geheimraum glitche. Ich fühle mich bereits ziemlich müde, als wäre ich eben einen Marathon gerannt.
Doch Loki friemelt tatsächlich am Gurt mit den Portpotions herum. Hat es mich etwa doch verstanden?
Hoffnungsvoll glitche ich näher.
Loki gerät offenbar in Panik, schmeißt einen Portpotion durch den Raum und kneift die Augen zusammen.
Ich SPÜRE, wie das Lu an mich denkt. So fest, dass es mich durch das vom Trank erzeugte Portal zieht und ich in der Luft neben Loki aufplöppe.
„Ich lebe! Bro!“
„Was tuuust duuu deeenn?“
Heulend kleben wir uns aneinander und ich erzähle Loki stammelnd von dem Unfall.
„Ich dachte schon, ich hätte dich verloren!“, sagt Loki dann.
Ich bemühe mich um Optimismus. „Wie ein weiser Sumpfman einst sagte: Die Besten sind wie Bumerangs, die kommen immer wieder zurück. Aaaber ich werde in Zukunft doch etwas vorsichtiger mit Experimenten bezüglich Seelenaufteilung und Stadtdesign mit ausgeschalteter Logik sein.“
Loki starrt mich an. „Was genau hast du getan?“
„Öhm … sortiert.“
~*~
Einige Zeit und etwa drei Schockverdauungen später bin ich ohne Loki auf dem Weg zum grauen Berg. Inzwischen ist es mitten in der Nacht und ich will nur noch eine letzte Sache erledigen, bevor ich ins Traumcafé aufbreche.
Auf dem grauen Berg herrscht das übliche Chaos, das tatsächlich weniger chaotisch ist als das Chaos nach meinem Ordnungsversuch. Ich wühle mich durch die Menge, als Lys auf mich zu fliegt.
„Marv? Du hier? Ich … sehe ich doppelt?“
„Wie bitte?“ Ich recke den Hals und – da steht Nivram und plaudert seelenruhig mit Piek und Xeri Mauskat. Die beiden ungleichen Schwestern lachen über einen Witz des fremden Wolfes.
Ich springe nach vorne. „Nivram!“
Auch die Mauskat-Schwestern stutzen. „Marv? Gleich zweimal?“
Ich sehe zwischen ihnen und dem Wolf im Schafspelz hin und her. „Ihr … verwechselt uns doch gerade nicht wirklich, oder?“
„Oh, einen Moment.“ Nivram tut irgendwas. Nichts geschieht, außer, dass alle um mich herum sich plötzlich suchend umsehen. „Wo ist der zweite Marv denn hin?“
„Ich bin doch hier!“
„Nein, nicht du. Der andere Marv.“
Ich deute auf Nivram. „Genau da! Vor eurer Nase!“
Niemand entdeckt den Wolf, der jetzt beschämt die Ohren anlegt. „Ich bin froh, dass du entkommen konntest, Marvin der Graue. Ich werde sofort ganz verschwinden, du wirst mich nie wieder sehen.“
„Halt, halt, halt!“, befehle ich. „Zuerst möchte ich Antworten. Wer bist du? Warum hast du das getan?“
„Ich …“ Verdutzt sieht der Wolf mich an. „Naja, das ist wohl das mindeste, was ich als Entschädigung tun kann. Ich bin der graue Nivram. Meine Freunde dürfen mich Vram nennen. Ich bin ein Undercover, ein Wesen, das entsteht, wenn eine Userseele mit einem Lurker kollidiert.“
Ich blinzele ihn verwirrt an.
„Auf dich haben meine Fähigkeiten keinen Effekt, aber gegenüber allen anderen kann ich drei Gestalten annehmen. „Definitiv kein Grauwolf“, „unsichtbar“ und „ganz klar Marv“. Ich denke, sie sind sehr selbsterklärend. Ich kann AUF KEINEN FALL wie du aussehen, AUF JEDEN FALL wie du aussehen und unsichtbar werden.“
„Das heißt, außer mir kann dich niemand sehen?“
Ich höre einige meiner Figuren flüstern: „Jetzt führt er auch noch Selbstgespräche.“
„Ich kann euch beide noch sehen“, mischt sich Lyssa ein.
„Vermutlich, weil du mein Symbisit bist“, überlege ich.
„Eyy!“, piepst Lyssa auf einmal auf meiner anderen Seite. „ICH bin dein Symbisit!“
Verwirrt sehe ich zwischen beiden Kreaichs hin und her, als das, was ich zuerst für Lys gehalten habe, plötzlich rotgolden funkelt.
„Sylas! Warum schwebst du über meiner Schulter?“, fahre ich das Licht an. „Und Lyssa, warum bist du drüben bei Nivram?“
„Hab euch verwechselt“, murmelt Sylas geknickt und schwebt zu Nivram rüber.
„Ich nicht!“, behauptet Lyssa etwas zu laut und fliegt zu mir.
Ich seufze leise. „Was für ein Chaos! Und warum hast du mich ins NICHTS UND ALLES gestoßen, Vram?“
„Das war der Ort, an dem ich so lange gefangen war, bis du mich in der Fluchgasse unwillentlich befreit hast“, erklärt der falsche Marvin. „Und du weißt ja jetzt, wie furchtbar es dort ist. Ich will nie wieder dahin zurück!“
„Kann ich verstehen“, brumme ich.
„Es tut mir ehrlich leid“, sagt Nivram. „Aber ich hätte alles getan, um zu verhindern, dass du mich wieder zurückschickst.“
„Das hatte ich doch gar nicht vor!“, stammele ich.
„Oh.“ Nivram guckt betreten auf seine Pfoten und murmelt noch etwas wie ‚hätte ich das mal eher gewusst‘.
Ich versuche, ihn aufzumuntern. „Ein Gutes hat es – ich bin endlich wieder im Jetzt gelandet. So gesehen müsste ich dir sogar danken – Moment, wie bist du eigentlich hierher gekommen?“
„Ich? Oh, kurz, nachdem du weg warst, tauchten Caspar und Jane auf und haben mich gerettet, in dem Glauben, ich wäre du. Ich habe dann das Flimmern hier ausgestellt und gedacht, ich könnte ja ein bisschen was Gutes tun.“
Ich sehe mich verwundert um. Tatsächlich – nichts flimmert und flackert mehr!
„Das heißt, du hast meine Pläne für Pseudonyme beendet?“, frage ich. „Naja, es ist vermutlich besser so. Das Chaos hätte doch niemand ertragen und überhaupt …“
„Was? Nein! Ich musste nur die Logik etwas justieren. Ich würde Macchiato, Xenon und all die anderen niemals löschen. Sie haben doch einen Daseinszweck – diese große Stadt hier in Genres aufzuteilen. Das ist ein guter Plan, dabei bleiben wir natürlich!“ Nivram stockt sich. „Ich meinte … du solltest deine Pseudonyme nicht aufgeben. Noch nicht.“
Er flackert.
„Was ist denn jetzt los?“, frage ich verwundert.
„Meine Zeit läuft ab. Wir können nicht allzu lange gleichzeitig existieren“, erwidert der Wolf im Schafspelz traurig. „Sylas und ich müssen gehen. Zurück ins ALLES UND NICHTS. Es war schön, dich kennenzulernen, Marvin der Graue.“
Ich reiße die Augen auf. „Hiergeblieben! Kann man denn gar nichts tun?“
„Oh, nein … kann man nicht. Ordnung muss sein.“ Nivram seufzt und – verblasst.
„Halt! Stop!“, schreie ich und in diesem Moment flackert Lys plötzlich hell auf. „Sylas Rai Ofurr, wirst du wohl in dieser Existenzebene bleiben?!“, donnert sie im Befehlston.
Es blitzt. Donner folgt. Dann steht Nivram und schwebt Sylas wieder vor mir.
Die Undercover blinzeln uns an. „Was … ist passiert?“
Ich sehe Lyssa an. Dann auf die kleine Liste mit Pseudonymprofilen.
„Oh.“
„Was?“, fragt Nivram und drängelt sich vor.
„Lys hat für euch beide zwei neue Pseudonymprofile erstellt“, erkläre ich. „Damit seid ihr nach dem Update offizielle Bürger von Belle und Userseelen.“
„U-userseelen?“, stammelt Nivram ungläubig.
„Das ist ja herrlich!“ Sylas triselt aufgeregt im Kreis. „Endlich kann ich Tod und Verderben säen!“
Ich starre das Kreaich entsetzt an.
„Oh, Sylas ist harmlos!“, versichert Nivram mir eilig. „Nur während deine Lyssa Inspiration und gute Laune verteilt, inspiriert Sylas lieber zu … düsteren Geschichten.“
Sylas lacht diabolisch und schwirrt dann um Lyssa herum. „Vielen, vielen Dank! Du hast unsere Existenzen gerettet!“
„Habe ich doch gern gemacht, Syl.“
„Dann musst du wohl bei deiner Pseudonymtaktik bleiben“, meint Nivram leise zu mir.
Ich lächele ergeben. „Na ja – ein bisschen Chaos muss sein.“
Jane und Caspar sind aus der Menge aufgetaucht. Das Neandertaler-Mädchen verzieht das Gesicht und brummt: „Syl, Lys, Vram, Marv … ich Kooopfweh!“
Caspar zieht das stämmige Mädchen weiter. „Pscht. Wir sind ja gleich wieder drinnen.“