Es ist heiß. So richtig heiß. Die Luft über der Bergkuppe flimmert im Schein der Sonne, und wenn der Wind mal weht, trägt er eine gelbliche Staubwolke aus dem Krea-Tief-Tal herauf, die sich sandig über meine Grauschaft legt.
Die meisten Figuren sind mitsamt ihren Gebäuden in die Realitätsfalte gezogen, die sich durch die neue „Unveröffentlichen“-Funktion geöffnet hat. Im Klartext heißt das, dass es auf dem grauen Berg sehr viel weniger Bewohner und sehr viel weniger Schatten gibt. Das wirkt sich auf alle hier aus. Die wenigen Figuren, die noch hier wohnen, haben sich mit Erfrischungsgetränken im Schatten verkrümelt, andere suchen nach dem Autoren (mir), damit er ihnen ein Schwimmbad oder gleich einen Schneesturm schreibt.
Ich bin sogar so weit gegangen, dass ich meinen getreuen grauwölfischen Figurenkörper verlassen habe. Stattdessen dümpele ich als Xenon im kühlen Teich des Gedichtgartens und drücke mich vor der Verantwortung. Der kleine Fleckenhalsotter findet deutlich leichter Abkühlung als so ein Grauwolf aus dem Schneegebiet.
Leider hat Xenon auch ein paar Nachteile, wie ich allzu bald herausfinden werde …
~*~
„Heeey, Xenon!“
Ich drehe den Kopf und sehe Sylas über mir schweben. Das Kreaich funkelt und glitzert besonders aufgeregt.
„Was hast du denn?“, frage ich und erschrecke einen Moment vor Xenons Stimme. Ich bin echt zu oft als Grauwolf unterwegs.
„Da hat sich ein Portal geöffnet!“ Sylas hüpft auf und ab. „Wollen wir mal reingucken?“
Tja, hier komme ich jetzt zu den angesprochenen Nachteilen. Nach dem, was beim letzten Mal passiert ist, als ich durch ein Portal gestiegen bin, würde ich ohne Zögern ablehnen. Jeder würde das. Außer Sylas, Lyssa und … Xenon! Verdammt!
„Natürlich!“ Der Otter ist schneller aus dem Teich gesprungen, als mein Autoren-Ich ihn aufhalten kann, und hoppelt hinter Sylas her, der schnurstracks zum neuen Portal saust. „Alles, um dieser Affenhitze zu entkommen!“
Das ‚Nein, nein, nein!‘, das ich ausstoße, hört leider niemand außer Xenon, und der Otter ignoriert mich.
Das Portal ist ein goldener Ring, der mich ein bisschen an die Sonic-Spiele erinnert, und knapp eine Otterlänge über dem Boden am Rand des grauen Bergs schwebt.
„Uii!“, ruft Xenon und hoppst hindurch.
„Waaarteee!“, schreie ich und werde in den goldenen Wirbel gezogen, der sich zu allem Überfluss auch noch sehr warm anfühlt. Ein Sommerportal, ich bin mir sehr sicher.
Wir landen in einer Wohnung. Xenon purzelt über einen weißen Teppich und hinterlässt Wasserflecken, Sylas schwebt hinterher. Etwas benommen komme ich auf die Otterpfoten und sehe mich um.
Eine riesige Glasfassade mit Ausblick auf eine Großstadt. Ist das … New York?! Weiß bezogene Sofas, Glastische, irgendwelche hässlichen Deckenlampen, die vermutlich Kunst sein sollen, aber eher so aussehen, als hätte jemand beim Zusammenbasteln von dünnen, schwarzen Metalldingern einen schrecklichen Unfall gehabt und das dann an die Decke geklebt.
Xenon tapst rings durch den Raum und betrachtet ein paar hässliche Statuen aus Metall oder Stein, die auf kleinen Podesten am Rand stehen. Dann bemerken wir im gleichen Moment, dass wir beobachtet werden. Auf dem Sofa, vor einem laufenden Flachbildschirmfernseher, sitzt ein Mann und starrt ungläubig auf das goldene Portal, den Otter und das abstrakt geformte Kreaich. Sein Mund steht leicht offen und er sieht aus, als würde er kurz davor stehen, dass ihm das Gehirn schmilzt.
„Wer ist das?“, flüstert Sylas. „Der sieht ja aus …“
Es ist ich. Das Autor-Ich. Der reale Marvin. Ich fühle mich ebenso vor den Kopf geschlagen wie er aussieht.
Wir müssen in einer parallelen Dimension gelandet sein. Xenon hoppelt neugierig an den Marvin heran. „Hallo!“
Der Mann schreit auf, klettert rückwärts vom Sofa und schlägt dahinter dumpf auf dem Boden auf. „Du kannst sprechen?!“
Xenon eilt unter dem Sofa durch zu ihm. „Ist alles in Ordnung? Warum erschreckst du dich denn so?“
Der Mann fasst sich an die Stirn. „Das … die Hitze. Ich muss einen Sonnenstich haben.“
„Du gehst in die Sonne?!“, frage ich durch Xenon. „Seit wann denn das?“
Sylas umkreist den echten Marvin. „Waaarte mal … Marvin?“
„Ja?“, fragen wir beide.
„Nicht du, AU-Hampelmann, ich meine den Marv im Otter.“
„Der Marv im Otter“, murmele ich nachdenklich. „Das wäre sicher auch ein Buchtitel, der Lyssa gefällt.“
„Ich“, Sylas hält kurz irritiert inne und blitzt vor Xenons Augen auf. „Hey, hörst du mir zu? Genau um Lyssa geht es! Ich kann sie hier nirgendwo sehen! Sonst ist sie doch immer bei dir, Marv.“
„Lyssa kann auch schon mal alleine auf die Reise gehen“, verteidige ich mein Kreaich. „Sie ist sehr eigenständig.“
„Ja, aber dein reales Ich wird ständig von ihr begleitet. Ich hab gehört, dass sogar manche Menschen sie wahrnehmen können, wenn sie aufdreht.“
Ich starre Sylas etwas verdutzt an. „Hat Lys wieder angegeben?“
„Darum geht es jetzt nicht, aber ja“, sagt Sylas. „Wir sind Kreaichs, wir sind nicht bescheiden.“
„Gut, und hier ist Lyssa nicht hier?“
Sylas schwebt seitlich hin und her, vermutlich die Kreaich-Version eines Kopfschüttelns.
Ich mustere das Alternative-Dimension-Ich neugierig. „Was heißt das? Hat er keine Lyssa?!“
Der Marvin starrt leicht panisch auf den kleinen Otter. Sein Atem geht schnell und flach. „Was wollt ihr von mir?“, fragt er. „Ihr … ihr seid nur Einbildungen! Lasst mich in Ruhe!“
„Q.E.D.“, sagt Sylas. „Würde jemand, der mit Lyssa lebt, etwas von ‚nur Einbildungen‘ faseln?“
Ich hopse auf den Bauch des bald hyperventilierenden Marvins und sehe ihm in die Augen. Dann weite ich meine Otteraugen. Tatsache! Da fehlt dieses gewisse Funkeln, das ich manchmal bei meinem Spiegelbild entdecken kann.
„Keine Lyssa?!“, frage ich mich neugierig. „Wie ist das so? Kannst du echt einfach so einschlafen? Was ist mit Ferien? Kannst du einfach Ferien machen, ohne täglich deine Pflichtseite zu haben? Und …“ Ich sehe mich neugierig im Raum um. „Ist das deine Wohnung? Hui! Sehr schick! Wie alt bist du?“
„Dein Alter“, antwortet Sylas, der solche Sachen offenbar sehen kann – und da AU-Ich noch immer kein verständliches Wort heraus bekommt.
„Und da kannst du dir die Bude hier leisten?“, staune ich.
„I-ich bin Anwalt“, stammelt AU-Marvin. Sein Blick huscht zwischen mir und Syl hin und her. Dann heult er auf: „Ihr seid nicht real!“
„Was hat er denn?“, frage ich erstaunt.
„Kritische Überforderung“, diagnostiziert Doktor Sylas.
„Was? Womit?“
„Vielleicht damit, dass soeben ein Otter und ein für ihn undefinierbares Etwas in seiner Wohnung gelandet sind.“
„Was, das eine läppische Weltenportal überfordert ihn? Das ist doch nichts!“
„Für dich vielleicht nicht“, antwortet Sylas und kreist ein wenig um dem Kopf des Marvins, der mit Augen und Hals rollt, in dem Versuch, das Kreaich im Blick zu behalten. „Aber du hast ja auch dein gesamtes Leben mit Lyssa verbracht.“
Ich hüpfte vom Marvin herunter und stromere durch seine Wohnung.
„Irgendwie leer hier“, murmelt Xenon.
„Das ist Minimalismus. Reiche Leute machen das so“, teile ich aus meinem umfassenden Erfahrungsschatz über reiche Menschen mit.
Auf dem Fernseher läuft irgendeine Serie im Stil des RTL-Nachmittagsprogramms. An der Bar im Wohnzimmer steht eine halb geleerte Flasche irgendeines Alkohols. Ich drehe mich zu dem Erfolgreicher-Anwalt-Marv um.
Das wäre ich also jetzt, wenn ich ohne Lyssa aufgewachsen wäre? Ich hoppele wieder näher. Mit allem, was ich bisher insgesamt verdient habe, zusammengenommen, könnte ich mir vermutlich keine zwei Monate in der Wohnung hier leisten. Von der Einrichtung ganz zu schweigen.
Es gibt Gelegenheiten, bei denen ich Lyssa für einen Fluch gehalten habe. Eine lebhafte Fantasie hat viele Nachteile: Schlafstörungen, Wahnsinn, plötzliche Panikattacken, weil sie mal wieder irgendein Monster entwerfen und vorführen musste … aber so ein staubtrockener Anwalt, der nicht einmal mit einem total harmlosen Otter im Wohnzimmer zurechtkommt – ist das wirklich das, was ich lieber wäre?
„Sylas, das bringt mich zum Grübeln!“, klage ich, was auch für Xenon ziemlich in-character wäre. „Lass uns wieder gehen.“
„Ist vielleicht besser. Wer weiß, was wir sonst kaputt machen, wenn wir zu lange in einer Parallelwelt bleiben“, stimmt Syl zu und schwebt durch das Ringportal zurück.
Ich hüpfe hinterher und drehe mich nur noch einmal zum Marvin um, der panisch über die Lehne des Sofas schielt und vermutlich gerade überlegt, ob er seinen Alkoholkonsum einschränken sollte.
Ich winke mit einer Otterpfote. „Schönen Sommer noch, Anwalt-Marvin!“
Er winkt mechanisch zurück und ich hüpfe durch das Portal. Als letztes sehe ich, wie der Anwalt die Augen verdreht und ohnmächtig hinter das Sofa fällt.
~*~
Macchiato hat die Wassergrube mit den Hufen etwas weiter aufgegraben und steht jetzt schnaubend im kühlen Nass. Xenon räkelt sich auf einem kleinen Badetuch am Strand, den wir aus dem vom Krea-Tief-Tal herübergewehten Sand aufgetürmt haben. Neben ihm steht ein Glas mit einem alkoholfreien Cocktail, den er dem Weltenwanderer geklaut hat und bei dem er ab und zu am Strohhalm knabbert.
Lys springt mit Anlauf ins Wasser und spritzt alle nass, die sich am Ufer versammelt haben.
„Lyssa!“, schimpft Macchiato. „In anderen Ländern verdursten Kinder und du verschwendest hier das Wasser!“
Kichernd rauscht Lys weiter und ruft: „Wenn ich es nicht getan hätte, hätte das auch niemandem geholfen.“
Urdoggo jagt quer durch unser Privat-Mittelmeer hinter Lyssa her und spritzt dabei erneut alle nass.
Fast alle. Ich kauere im Körper von Timofei Naveek, und muss nur die Krebsscherchen in den Eingang der Muschel halten, um perfekt trocken zu bleiben.
„Gib’s zu, du hast die Figur nur gewählt, weil du wusstest, dass Lys Ärger machen würde“, brummt Mobu Cajatoshija, der sich bis eben neben mir gesonnt hat.
„Ich … ähm, ja genau!“, antworte ich.
In Wahrheit habe ich mich in den Einsiedlerkrebs zurückgezogen, weil niemand – absolut niemand – Timofei zu einer gefährlichen Portalreise überreden kann. Aber das muss ich ja nicht laut sagen, wenn mich gerade mal alle für schlau und vorausschauend halten!
Mobu wischt sich Wasser aus dem Gesicht und legt sich wieder in die Sonne. Der Minion – eines der neuen Pseudonyme – kommt vorbei und verteilt erfrischendes Pfefferminzwasser mit Eiswürfeln an alle. Xenon klaut sich mal wieder eines der größten Gläser, statt das kleine Glas in Ottergröße zu akzeptieren. Lyssa und Sylas tauchen in Macchiatos Pfefferminzwassertrog und spritzen das Pferd nass.
Ich beobachte alles aus dem Schatten meiner Einsiedlermuschel heraus und lächele. Es gibt doch nichts schöneres, als einen freien Sonntag im Hochsommer mit guten Freunden zu verbringen!