Ich atme tief durch, um mich zu wappnen. Es ist so weit - Zeit für den Abschied. Das Ende von Belletristica, wie wir es kennen. Zum Teil fühlt es sich immer noch surreal an, obwohl wir seit einem Jahr auf diesen Tag warten. Erst bei den Aufräumarbeiten würde es halbwegs fassbar, als ich meine Werke gesichert habe oder in der Citadel ein letztes Mal nach Einreichungen für die Jahreszeitenmedaille geguckt habe.
An die Beben, die immer häufiger durch den Kontinent gehen, haben wir uns dagegen viel zu schnell gewöhnt. Der Seeweg nach Haven ist schon lange versperrt, aber auch das wurde zu schnell normal, als dass wir es begreifen konnten ...
Ich starte die Musik, ehe ich meinen Aufstieg beginne. Stufe für Stufe steige ich zum großen Leuchtfeuer hinauf, während Roby Facchinetti den Grauen Berg mit einem italienischen Lockdown-Lied beschallt: Rinasceró, Rinascerai - Ich werde wiedergeboren, du wirst wiedergeboren. Oder auch: Ich gebe nicht auf, du gibst nicht auf.
Am liebsten würde ich jeden Schritt ein Jahr hinauszögern. Aber so viel Zeit bleibt uns auf diesem Kontinent nicht mehr, und außerdem brennt die Fackel ab, die ich im Maul trage. Bevor es hier zu einem unschönen Zwischenfall kommt, spucke ich sie auf das angehäufte Holz.
Die Flammen fassen rasch nach dem Zunder. Der Geruch nach Öl weicht der geballten Hitze des Leuchtfeuers. Heller und stärker schlagen die Flammen in den Himmel, während die Musik anschwillt. Auf dem hohen Turm sehe ich über mein Land: Den grauen Berg, die beiden angrenzenden Täler - karg und wüstenrau das eine, waldig und wild das andere - und die Flotte verschiedener Luftschiffe, die sich dem Burghof nähert.
Das Herzstück meiner Flotte ist die Sabreflame, ein mächtiges, hölzernes Luftschiff mit strahlend weißen Segeln und riesigen, nach unten gebogenen 'Zähnen' im Bug, anstelle einer Galionsfigur. Dann gibt's das schlanke Koi-Mißa aus der Eisenwelt, wie ein silbriger Zeppelin-Fisch mit vier schlanken Steuerflossen, und den Wolkenkrieger, eine klassische Fregatte mit himmelblauen Segeln. Kleinere Barken und Flöße weichen den Luftverwirbelungen der Giganten aus. Nach und nach sinken sie über dem Luftschiffhafen zur Erde, um alles vom Grauen Berg zu evakuieren.
Unten wimmeln meine Pseudonyme in der inzwischen recht leeren Burg herum. Bevor die Wehmut mich aber weiter überwältigen kann, weil meine schöne Grafschaft heute so leer und traurig daliegt, erweckt Chaos meine Aufmerksamkeit.
Eine Menge Chaos, das das unten eigentlich nichts zu suchen hat! Ich flitze die Treppen hinunter und kann das Hyphurion kurz vor dem Steg zur Sabreflame abfangen. Das fliegende Buch hat es irgendwie geschafft, die meisten Pseudonyme einzuspannen - in Macs Fall wortwörtlich - um einen Haufen Bücher und Kisten an Bord zu bringen.
"Was ist hier los?", frage ich. "Ich sagte doch, nur leichtes Gepäck!" Eilig stelle ich mich Macchiato in den Weg. Der Hengst wurde in ein Geschirr gespannt und zieht den Haufen, der Rest drückt, jedenfalls bis ich sie zwinge, anzuhalten.
"Das ist leichtes Gepäck", behauptet das Hyphurion.
"Nur das Nötigste!", zitiere ich mich. "Das heißt auch, nicht mehr als ihr tragen könnt!"
"Das ist aber unfair!", meckert das Buch. Okay, zugegeben, es kann auch nicht besonders schwer tragen.
"Wir dachten, das wäre nur wieder ein Herr-der-Ringe-Zitat von dir." Der Weltenwanderer steckt den Kopf hinter dem Kistenturm hervor. Eigentlich sieht man aber nur seinen Hut. "Ich hatte schon darauf gewartet, dass Lasst uns Orks jagen! kommt."
"Es war vielleicht ein bisschen geklaut, das muss ich zugeben", erkläre ich. "Aber trotzdem, ihr sollt nur genug für die Reise mitnehmen. Weil wir ja auch Belletristicans evakuieren wollen und die Luftschiffe eine begrenzte Tragekapazität haben!"
"Das ist notwendig!", behauptet das violette Buch. "Das sind nur ein paar Unterlagen für's Pen&Paper. Du wolltest doch, dass ich die Leute etwas beschäftigt halte."
"Mit Immonita!", quieke ich. "Einem kleinen, niedlichen Setting."
"Nun, die normalen Runden laufen aber auch! Und dann brauche ich die Minis, Setting, Questen, Regelwerk ..." Bei jedem Begriff der Liste hebt das Buch eine Seite, wie Menschen, wenn sie an den Fingern abzählen. "Alles essentiell. Oder sollen wir die User etwa mit billigen Plastikelfen abspeisen?"
"Na gut", gebe ich nach. So hoch der Kistenstapel ist, er wird kaum einen Bruchteil der maximalen Ladung ausmachen. Ein wenig widerstrebend gehe ich zur Seite und sehe zu, wie meine Pseudonyme ungewöhnlich einträchtig schuften.
"Mobu hätte ruhig mal helfen können", grummelt das Hyphurion jedoch.
Stimmt - Mobu fehlt! Er ist sonst immer in der Nähe vom Hyphurion. Sie fliegen auch gemeinsam im Koi-Mißa. Mobu steuert, und weil er blind ist, sagt ihm das Hyphurion die Richtung an.
Sicher hat wieder niemand daran gedacht, ihn mitzunehmen! Ich trotte in die Burg hinein, zwischen schnatternden Figuren hindurch, die auf das Boarding warten.
"Mobu? Hat jemand einen dunkelhaarigen Elben in Roben gesehen?"
Den Hinweisen, die von allen Seiten kommen, folge ich in den inneren Burghof, wo Mobu blind herumirrt.
"Mobu! Hier bist du!"
"Marvin! Ich ... wollte nur eben packen."
"Natürlich", ich lotse ihn fort von den Kleefeuranken und zu den Kisten. "Und es ist Marv."
"Weiß ich doch, Marvin."
Wird dieser Witz denn nie alt?
Als ich Mobu sicher an das Gepäck angeschlossen habe - also, nicht wortwörtlich, aber er sitzt da und wird garantiert nicht mehr vergessen - kommt ein Luftschiff angebraust. Xenon landet seinen Ventilator mit Anbau vor uns auf dem Boden. "Wo sollen denn die Kurzgeschichten hin?"
"Die sind doch alle gesichert." Verwirrt sehe ich ihn an. "Und sie kommen mit den Erinnerlingen nach."
"Ja, aber was, wenn ich während der Überfahrt mal schmökern möchte? Mac hat auch seine Märchen einpacken dürfen!"
"Das durfte er sicher nicht!" Ich springe auf.
"Sie sind aber an Bord!"
Kann man diese Bande denn nie aus den Augen lassen? Nicht mal am letzten Tag von Belletristica? Nicht mal an jenem Tag, da wir ins Ungewisse aufbrechen, ohne zu wissen, wie lange die Fahrt dauern wird?
"Xenon, guck bitte nach, ob noch jemand in der Burg ist!", weise ich ihn an. Dann sprinte ich los, um zu retten, was ich kann.
Als ich zum Schiff zurückkehre, rollen meine Pseudonyme gerade mehrere Fässer mit Fischgeruch auf die Sabreflame. Da sind garantiert Xenons Kurzgeschichten drin! Urdoggo und cyber_doggo rollen sie der Reihe nach herüber, denn sie haben keine oder kaum Kurzgeschichten zu sichern. Ihre großen Werke waren von Anfang an nur Kopien in dieser Welt, und brauchen damit keine Sicherung.
Aber an Deck blüht ein buntes Wirrwarr an Blumen und blinken Neonschilder. Das sind Macs Märchen und Sepias Erotik-Kurzgeschichten, die dich brav auf unterschiedliche Seiten des Schiffes verteilen. Während ich an Bord gehe und die Treppen nach oben gehe, fallen mir fast die Augen aus dem Kopf.
"Hey, was macht der Swimmingpool hier?" Natürlich erhalte ich keine Antwort, aber ich könnte wetten, dass es Xenons Schuld ist. "Wer hat hier einen Garten angelegt?" Lyssa - mit ihren Inspirationsblumen. Dann sehe ich einen haarigen Schatten an der Bar, wie eine belebte Perücke, der zwischen den Gläsern abtaucht. "Oh nein! Wer hat die Karva freigelassen?"
Der vermutliche Urheber - Marvin Grauwolf, mein Autorenprofil - kommt aus einer Seitenkammer gelaufen und hechelt mich fröhlich an.
"Du bist schon zurück?"
Langsam beschleicht mich das Gefühl, dass sie Mobu als Ablenkung genutzt haben.
"Wie sollen wir hier denn noch Schiffbrüchige retten?", lamentiere ich.
"Keine Sorge, Marv. Dafür sind ja die anderen Luftschiffe da. Und von Belletristica gibt es auch mehr als genug!"
"Hättet ihr nicht eure eigenen Schiffe beladen können?"
Der andere Grauwolf legt den Kopf schief. "Kannst du mir nochmal kurz erklären, wessen Schiff die Sabreflame ist?"
"Gut, aber ich habe gesagt, dass ich sie als Flaggschiff nehme! Und Cyb hat zugestimmt."
"Ja. Bevor er angefangen hat, seine Kurzgeschichten an Bord zu bringen!" Marvin nickt begeistert.
"Cyb also auch", stelle ich wenig begeistert fest.
"Und die Partnerprofile! Denen haben wir das hintere Heck gegeben. Und Ifrit und Loki haben auch Plätze bekommen, als Sicherung. Kurz gesagt: Es wird hier richtig schön kuschelig!"
Es ist wohl eher dahin mit meiner Ruhe! Eigentlich wollte ich die Überfahrt nutzen, um ein wenig zu schreiben und an den Karten zu arbeiten. Jetzt werden mir hier überall Pseudonyme und Figuren im Weg herumstehen!
Ich trabe wieder nach draußen. Hier wird fleißig geschleppt. Ein Drache, behängt mit mehreren Spielbuchabschnitten, trottet an mir vorbei. Die Planken knarzen unter seinen Schritten.
"Ich wollte nicht nur mit mir selbst abhängen", murmelte ich leise. Ob ich die Pseudonyme noch anweisen kann, auf ihre Schiffe umzuladen? Allerdings wird uns dafür vermutlich nicht genug Zeit bleiben. Ich muss ja mit einrechnen, dass sie vorher stundenlang diskutieren würden!
"Verzeihung?"
Ein dünnes Stimmchen neben meiner Pfote. Ich senke den Blick und sehe eine in Regenbogenfarben angemalte Tasse. Anderthalb Stielaugen blinzeln ängstlich aus dem Schatten - anderthalb, weil eines halb eingezogen ist.
"Hallo Timo." Ich senke den Kopf, damit ich das Flüstern hören kann.
"Ich weiß, du hast gesagt, wir sollen nur ganz wenig mitnehmen, aber ich kann mich einfach nicht für einen von meinen Kieseln entscheiden. Könnte ich vielleicht auch zwei mitnehmen? Ich verspreche auch, dass sie nicht viel Platz wegnehmen werden!"
Ich seufze und hebe den Kopf wieder. "Kevin!", brülle ich quer über die Menge, bis die Weltenwanderin zu mir gelaufen kommt. "Du hilft Timo, alle seine Steine und Muscheln und was auch immer noch an Bord zu schaffen."
Sie salutiert vor der Kapuze. Timofei blinzelt mich ungläubig an. "Alle?"
"Alle", bestätige ich. "Jeden einzelnen!"
Endlich wird es ein bisschen ruhiger. Der Burghof leert sich. Zuletzt werden die hinteren Koffer mit einem verwirrten Mobu darauf an mir vorbeigetragen. Xenon ruft Mac, um die drei Füchschen aus der Eisenwelt zu evakuieren, die sich in der Burg verlaufen hatten. Danach verkündet der Otter, dass alle Lebenformen aus der Burg geschafft wurden und verriegelt die Tür. Nur ein paar Spinnen bleiben zurück, doch da die Erinnerlinge jeden Millimeter der Grauen Feste eingespeichert haben, werden die kleinen Untermieter uns im neuen Belletristica wieder begrüßen.
Ich hätte vielleicht wirklich vorher aufräumen sollen ...
Nach und nach gehen alle an Bord. Pseudonyme, Figuren - und ein paar Reisende aus dem Krea-Tief-Tal, die das Leuchtfeuer gesehen haben. Belletristicans, die zu Besuch waren und keine andere Mitfluggelegenheit haben oder in der Luft mit den Beibooten auf die offiziellen Flugschiffe wechseln wollen. Irgendjemand hat auch das rote Sofa aus der Taverne hergeschmuggelt ... und dieser jemand hat eventuell graue Pfoten und ein singendes Irrlicht über der Schulter.
"Leuchtfeuer brennen in der Nacht, wie ein Heer aus Sternen, welches mich bewacht! Das mich zurück nach Hause führt ..."
"Hallo Lyssa, hast du nichts zu tun?"
"Nein", erwidert sie glücklich. "Ich dachte, etwas Schandmaul würde dich aufheitern."
"Ich bin ... eigentlich ganz heiter", murmele ich. "Natürlich ist es ein seltsames Gefühl, Belletristica zu verlassen. Und ich mag es nicht, ohne einen strengen Zeitplan zu segeln, ohne planen zu können, wann wir wieder auf Land treffen ... aber eigentlich geht es mir gut. Ich glaube fest an S.T. - immerhin bin ich ein Teil davon!"
Ich sehe noch einmal über die Burg. Das Leuchtfeuer brennt herunter. Ein Rumpeln in der Erde verkündet, dass es Zeit wird.
Ich warte, bis auch die letzten an Bord sind, dann laufe ich über den Steg. Der Kapitän betritt das Schiff als letzter oder so! Über die Treppen wusele ich nach oben bis an die Reling.
Vögel kreischen im Himmel über uns. Sie spüren es in der Luft, dieses Zittern, das das Ende verkündet. Die Erde bebt stärker. Die Luftschiffe ziehen die Anker ein und beginnen, aufzusteigen, während sich unter uns die Bäume schütteln.
Dann kommt die Flutwelle in Sicht. Weißschäumende Gischt, die vom Meer über die Wüste des Krea-Tief-Tals rollt. Risse ziehen sich durch die Erde des Wolfstals auf der anderen Seite, Bäume stürzen hinein. Fast sofort erhebt sich ein gold-oranger Schimmer, als die Erinnerlinge auffliegen, um die alte Welt zu bewahren.
Erst im neuen Belletristica werden wir sie und die von ihnen evakuierten Gebiete wiedersehen.
Selbst hier oben höre ich das Tosen und Donnern. Berge brechen entzwei. Schäumende, zornige Fluten verschlingen das Land, das uns so lange eine Heimat war. Die Luftschiffe erzittern, wenn eine kühle Brise von unten aufsteigt oder eine Geröllwolke ihre Rümpfe streicht. Die Luft schmeckt nach Salz, nach Erde und Staub. Wie gebannt sehe ich nach unten.
Dann werden die Sonnenstrahlen sichtbar. Wie leuchtende Balken fallen sie durch die Wolken, aus der Luft gemalt von aufgewirbelter Erde und dem Sprühregen gebrochener Wellen. Nach und nach füllt dieses goldene Licht den gesamten Himmel aus, färbt sich dessen Blau in den Spektralfarben des Regenbogens ein.
Andächtig betrachten wir das Spektakel. Irgendwann versinkt der Kontinent vollständig unter den Wogen, und das Meer glättet sich. Wie ein Spiegel zeigen die Wellen nur noch die Schwärme von Luftschiffen, oft dichtbesetzt mit Vögeln, die sich auf die Masten gerettet haben, die zwischen den Wolken kreuzen.
Zerstörung kann auch wunderschön sein. Vielleicht geht es nur mir und meinen Pseudonymen so, aber es liegt ein seltsamer Trost in dieser Vernichtung. Es ist der Gedanke, dass man sowieso nichts verhindern kann, der mich mit unglaublicher Ruhe erfüllt.
Nun, es hilft natürlich auch, auf einem Luftschiff in Sicherheit zu sein!
"Xenon? Mobu? Könnt ihr nach Überlebenden suchen?"
Der Elb nimmt das Hyphurion und den Klemmbrettzwerg Todo mit, Xenon bricht alleine auf. Auch ein paar andere holen sich ihre Barken oder schwebenden Beiboote, um die Wogen abzusuchen. Es ist unwahrscheinlich, dass da unten noch jemand ist, der nicht gewarnt wurde - aber nachsehen möchte ich trotzdem.
Währenddessen schweben die Luftschiffe durch den goldenen Sonnenschein, über- und untereinander, neben- und voreinander. Große, majestätische Riesen wie die Sabreflame und kleine, wendige, schnelle Gefährte wie das Koi-Mißa. Drachen, geflügelte Pferde und andere fliegende Kreaturen springen von Bord und tanzen übermütig um die Rümpfe. Lyssa hat das Flying-Theme aus "Drachenzähmen leicht gemacht" laut aufgedreht und ich glaube, viele der Papageien sind Illusionen von ihr und den anderen Krea-Ichs. Sie sehen aber auch malerisch aus.
Bei den Sternen, wie sehr ich das Fliegen vermisse! Nachdenklich sehe ich zu den Narben auf meinem Rücken. Eines Tages werde ich mir neue Flügel verdienen! Ganz sicher auf S.T.-Belle - wenn die alten Berggipfel als Inseln aus dem Meer auftauchen.
Denn eines ist sicher: Wie lange die Flut auch dauert, irgendwann zieht sich das Wasser zurück. Dank der Erinnerlinge ist nichts verloren, selbst wenn es zerstört wurde. Eines Tages wird Belletristica wieder existieren, anders, aber doch genauso wie vorher.
Der Wind streicht durch mein Fell und die Segel flattern. Und plötzlich wird mir klar, dass das hier kein Abschied ist - es ist der Aufbruch in ein neues Abenteuer!