Die Leute verarbeiten die Information, nur um sich in weiteren Mutmaßungen über Sinn und Zweck einer derartigen militärischen Operation zu ergehen. Eine Antwort auf das 'Warum' und 'Wieso' finde ich nicht relevant. Vielmehr gilt es, Optionen abzuwägen, die ein Entkommen aus dieser Teufelei ermöglichen. Just in diesem Moment erhellt ein Geistesblitz meine Gedankenwelt.
Mit neuer Energie bereite ich mich auf den Abmarsch vor. Hake die Feldflasche und den Klappspaten vom Koppel, stelle es auf meinen Körperumfang ein und schnalle es mir um. Leere meine Wasserflasche und schultere den Rucksack.
Ein Mann in meinem Alter tritt an mich herum und erkundigt sich nach meinem Vorhaben. Die Anderen umringen uns und lauschen der Antwort. Wollen Entscheidungen, ihre unmittelbare Zukunft betreffend. Doch kann ich nur für mich sprechen! Jeder einzelne muss für sich selbst entscheiden. Mit den Konsequenzen leben. Und nicht davon ausgehen, dass andere die Verantwortung übernehmen. Wer es für sinnvoll hält, so sage ich, möge sich mir anschließen. Meine Entscheidungen respektieren und Vorgaben folgen.
Ja, aber!
Das Sturmgewehr in meiner Hand lässt einige Damen und Herren zurückweichen. Genau! Mir steht der Sinn nicht nach Diskussionen! Nicht jetzt!
Ich breche auf. Folge dem sandsteingepflasterten Weg tiefer in den Amselgrund. Vorbei an dem Gebäude der Bergwacht und kleinen Teichen für die Forellenzucht. Passiere die fünf Meter hohe und 35 Meter breite Staumauer und den verwaisten Bootsverleih. Zu meiner Rechten erstreckt sich der Amselsee. Eingerahmt von dichtbewaldeten Berghängen und dem wuchtigen Honigstein-Massiv mit der Lokomotive, einem bekannten Kletterfelsen. Während der Weg bereits von den wärmenden Vormittagssonne beschienen wird, ruht der größte Teil des Stausees im dunklen Schatten der Bäume. Wundervoll und wildromantisch. Imstande, unsere Situation vergessen zu machen. Von den umliegenden Felsen in den Grund reflektierter auf- und abschwellender Lärm von Wellenturbinen und Strahltriebwerken verhindert jedoch das Abdriften der Gedanken in eine heile Welt.
An der Weggabelung am Ende des Amselsees halte ich. Sämtliche Leute sind mir gefolgt - mit mehr oder weniger großem Abstand. Nun schließen sie auf. Derweil wäge ich die Optionen ab. Nach rechts führt der Weg über eine Brücke in den Höllgrund. Wäre das Hohnstein unser Ziel, ginge es dort entlang. Doch ist mir das Städtchen zu weit entfernt. Wir wären lange unterwegs. Zu lange! Daher verwerfe ich diese Möglichkeit und setze den Weg durch den Amselgrund fort. Meine Begleiter folgen mir. Ohne Ausnahme. Tief in mir fühle ich mich in meiner Entscheidung bestätigt. Andererseits kann ich den Umstand, plötzlich Führer einer Gruppe von unbekannten Menschen zu sein, noch nicht wirklich greifen und verstehen. Ich lasse es einfach zu.
Allmählich wandelt sich der Amselgrund in eine Schlucht. Der Weg schlängelt sich um große moosbewachsene Felsbrocken, die sich einst von den steilen Hängen lösten. Hier unten schafft es nicht einmal mehr der Fluglärm an unsere Ohren. Meine Probleme scheinen sich zu entfernen. Ein geeigneter Zeitpunkt, um nachlässig zu werden. Ich kämpfe dagegen an.
Ein weiterer Halt an einem Abzweig. Gerade aus führt der Hauptweg weiter durch den Amselgrund zur Amselfallbaude und weiter nach Rathewalde. Ich wende mich nach links einer steilen Truppe zu, die hinauf in die Schwedenlöcher führt. Deren Ausstieg liegt auf dem Basteimassiv, einem der bekanntesten touristischen Zentren der Sächsischen Schweiz. Dort droben erhoffe ich ausreichend Mitfahrgelegenheiten für mich und meine Begleiter. Dies ist mein Plan. Entschlossen gehe ich ihn an.
Die Schwedenlöcher geben es Herren mittleren Alters mit Fitness-Defiziten hart und dreckig. Wer ihre Schwierigkeit nicht einzuschätzen weiß und sie in ignoranter Selbstüberschätzung zu schnell angeht, erlebt sein blaues Wunder. Die ersten einhundert unregelmäßigen Treppenstufen aus alten Eisenbahnschwellen, Wurzelwerk und bearbeitetem Sandstein meistert der durchschnittliche Tourist ohne Weiteres. Die folgenden einhundert Stufen bringen seinen Blutdruck auf Touren, um sich nicht einmal auf halber Höhe röchelnd und schwitzend als kleines Häuflein Elend neben dem Pfad wiederzufinden. Interessant hierbei ist die Tatsache, dass die Schwedenlöcher erst jetzt ihr wahres Potential entfalten!
In der Vergangenheit habe ich den Aufstieg mehrere Male bewältigt. Ich kenne ihn. Weiß, was auf mich zukommt. Teile meine Kräfte ein und gehe es langsam an. Schritt für Schritt. Stufe für Stufe. An die 400, um bis zum Einstieg in die eigentliche Schlucht zu gelangen.
Es bleibt Zeit für einige Gedanken. Frage mich, welche Gründe die Chinesen haben, um diesem verschlafenen Teil Deutschlands einen Besuch abzustatten. Wollen sie Ressourcen? Wichtige Bodenschätze? Wohl kaum. Diese Gegend bietet nichts, was es anderswo nicht auch gäbe. Haben sie es möglicherweise auf bedeutende Ballungszentren oder wertvolle Industrieanlagen abgesehen? Fehlanzeige. Hier gibt es lediglich Tourismus-Hochburgen. Verträumte Dörfer, Felder, Wälder, Felsen. Und ein wenig Wasser.
Wasser. Die Elbe! In dem vom Fluss geschaffenen Tal drängen sich eine Bundesstraße und eine zweigleisige Eisenbahnstrecke. Allesamt wichtige grenzüberschreitende Verkehrsadern mit hoher Kapazität. Ihre Kontrolle wäre strategisch bedeutsam. Entsprechend sind diese lokalen Ereignisse Teil einer viel umfangreicheren Operation. Die Ausschaltung Europas als wirtschaftlichen und militärischen Faktor? Ganz starker Tobak! Dann herrscht wohl - Krieg!
Die Sprengung einer instabil gewordenen Felswand vor einigen Jahren verwandelte den Zugang in die Schwedenlöcher in ein wildes Trümmerfeld. Wir sammeln uns zwischen den riesigen Felsbrocken. Verschnaufen. Bereiten uns auf den vor uns liegenden Abschnitt vor. Die Schlucht ist tief, verwinkelt und eng. Eine Mausefalle! Da sich das Blickfeld auf wenige Meter vor und hinter uns beschränken wird, müssen wir uns auf das Gehör verlassen. Dazu ist es wichtig, so lautlos wie möglich zu sein. Kein Geschnatter. Kein Weinen. Weder Klimpern noch Klappern!
Ich steige in die Kluft. Moosbewachsener Fels, wohin man blickt. Links und rechts, oben wie unten. Dazwischen bleibt wenig Platz. Es ist eine Herausforderung, sich möglichst geräuscharm durch die Engstellen zu quetschen. Glücklicherweise verbreitert sich die Schlucht nach einigen Metern. Betonstege, Metallgittertreppen, in den Fels gehauene Stufen und eiserne Geländer erleichtern das Fortkommen erheblich.
Ein Säuseln. Sofort erstarre ich in der Bewegung. Halte die rechte, zur Faust geballte Hand hoch. Die mir folgenden Personen interpretieren das taktische Handzeichen korrekt, bleiben stehen und machen sich klein.
Ich drehe leicht den Kopf und lausche. Aus dem unbestimmten Säuseln höre ich Stimmen heraus. Einzelne Worte. Obgleich ich sie nicht verstehe, klingen sie vertraut. Irgendwo hinter der nächsten Biegung unterhalten sich Leute! Mehrere. Zwei. Nein, drei! Die ältere und tiefere Stimme klingt ruhig und zweifelnd, die jüngere atemlos und panisch. Eine Frau versteht das alles nicht und fragt immer wieder, was denn geschehen sei.
Zeit, einen Blick zu wagen! Ich gehe in die Knie und linse um die Ecke. Erkenne zwei junge Männer und einen älteren Herrn im Wander-Outfit mit weiblicher Begleitung. Sie diskutieren derart leidenschaftlich miteinander, dass sie mich nicht wahrnehmen.
Mit der Frage, ob alles in Ordnung sei, materialisiere ich mich in ihrer Welt. Ihre Unterhaltung endet abrupt. Einer der jungen Männer reißt seine Arme empor und will sich ergeben. Die ältere Dame erspäht das Sturmgewehr in meiner Hand und schiebt resolut ihren Gatten zwischen uns. Sein entrüstetes "Ich darf doch bitten!" bleibt mehrdeutig.
Soweit es mir möglich ist, erkläre ich meine bewaffnete Anwesenheit. Die beiden jungen Männer sind nicht überrascht. Erzählen ihre Geschichte. Der eine sei Lieferwagenfahrer, der andere Service-Mitarbeiter des Bastei-Hotels. Hubschrauber hätten sie gehört. Und Soldaten. Direkt auf dem Innenhof. Zahlreiche Schüsse. Viel Lärm. Sie haben sich vor ihnen versteckt. Wären in einem günstigen Moment über die Laderampe auf der Rückseite des Hotelkomplexes stiften gegangen. Gerannt seien sie, was die Lungen nur hergaben. Bis hierher. Trafen auf das Ehepaar, das ihre Geschichte nicht glauben wollte. Bis jetzt.
Was die beiden Kerls da berichten, macht mich nicht glücklich. Ich bin mir nicht sicher, ob es sinnvoll ist, weiter zu gehen. Vielleicht ist es besser, umzukehren. Einen anderen Weg aus dem Schlamassel suchen.
Nein. Es darf nicht sein, bei der geringsten Schwierigkeit aufzugeben und davon zu rennen. Ich ziehe das durch! Winke die Gruppe heran. Los, los! Das Licht zieht weiter!
Ja, aber!
Widerworte lasse ich nicht gelten. Ich habe einen Plan.
Ja, aber.
Ist es so schwer zu verstehen? Haben wir nicht alle Informationen, die wir brauchen? Wir haben Kenntnis von einem VW T5-Kastenwagen und einen Skoda Fabia Kombi. Wir wissen, wo diese Fahrzeuge stehen. Und diese beiden Helden haben die Schlüssel. Klar soweit? Gut. Gehen wir es an!