Sachte rumpeln wir über die Brücke hinweg in den Höllgrund. Dem Namen wird die Schlucht nicht gerecht. Sie ist etwas breiter als der Amselgrund. Nicht so schroff. Mischwald. Wenig Unterholz. Der unbefestigte Fahrweg führt uns stetig bergauf. Nichts, was unseren Kübel überfordern würde.
Nach nur wenigen hundert Metern schreckt uns ein eigenartiges Geräusch auf. Tamara hält in einer weiten Rechtskurve. Wir drehen die Köpfe. Lauschen. Sind das nicht Schreie, die als vielfaches Echo durch die Schlucht hallen? Oh ja! Gefesselt haben wir die früheren Besitzer des UAZ. Aber nicht geknebelt. Und nun brüllen sie die halbe Sächsische Schweiz zusammen. So etwas geschieht, wenn man nachlässig ist!
Als würde das nicht genügen, tauchen an der nächsten Biegung Uniformierte auf. Eine ganze Menge sogar! Sie sehen uns. Geben Handzeichen, die wir nicht verstehen. Damit haben wir das Überraschungsmoment verloren. Der Weg durch den Höllgrund hat sich erledigt. Tamara kuppelt aus, löst die Bremse und lässt den UAZ rückwärts aus dem Blickfeld der Soldaten rollen.
Einer der Helden, die wir im Amselgrund ausrangiert haben, kommt uns entgegen. Die Hände sind immer noch hinter seinem Rücken fixiert. Als er uns gewahr wird, schreit er Unverständliches. Eine Warnung vielleicht? Dann erkennt er seinen Fehler. Verstummt. Bleibt schicksalsergeben stehen. Und lässt sich widerstandslos einsammeln. Wir platzieren ihn auf dem Beifahrersitz. Selbst setze ich mich hinter ihm auf die Rückbank und achte darauf, dass er keine Dummheiten macht.
So erreichen wir den Amselgrund. Mitten auf der Brücke über den Amselgrundbach geht dem UAZ die Bewegungsenergie aus und bleibt stehen. Just in diesem Augenblick erhellt ein Gedankenblitz meine Denkfabrik.
Neben einem Wegweiser am Straßenrand liegt noch immer jener Nordkoreaner, den ich mit dem Gewehrkolben in das Reich der Träume befördert habe. Kurzerhand nehme ich ihm die beschusshemmende Weste, seinen Stahlhelm und das khakifarbene Staubschutztuch um seinen Hals ab. Den Kopfschutz stülpe ich Tamara über. Erstaunlicherweise passt er perfekt! Dagegen ist ihr die Weste deutlich zu klein. Unser Gefangener erhält einen Knebel in den Mund. Das über Mund und Nase gezogene Staubschutztuch kaschiert ihn hervorragend. Wenn ich mich nun noch auf der Rückbank klein mache, gehen wir glatt als Befreier des Abendlandes durch. Zumindest auf dem ersten Blick!
Tamara fährt los. In die einzige Richtung, die uns bleibt. Auf dem sandsteingepflasterten Weg am Amselsee entlang. Richtung Rathen. Mit für vorherrschende Verhältnisse ordentlicher Geschwindigkeit. Hin und wieder wird die Fahrbahn so schmal, dass der UAZ das Schutzgeländer zum See hin touchiert. Welch abstoßende Geräusche!
"Dort!"
Vor uns läuft ein Soldat. Auch seine Hände sind hinter dem Rücken fixiert. Der andere Kollege unseres Beifahrers. Klar! Tamara drückt auf die Hupe. Das Quäken lässt den Nordkoreaner einen gehörigen Satz zur Seite machen. Wir brausen an ihm vorbei. Ich beobachte, wie der Mann auf Knien zurück auf den Weg kriecht und uns wortlos hinterher schaut.
Plötzlich Geschrei vor uns! Platschen von Wasser. Aus dem Augenwinkel sehe ich Gestalten im Wasser planschen. Nordkoreaner. Zwei, drei, vier Mann. Mit aller Kraft versuchen sie, nicht von ihrer Ausrüstung unter Wasser gezogen zu werden. Wütendes Geschimpfe ertönt von der anderen Seite. Dort haben sich weitere Soldaten den Hang hinauf gerettet, um unserem UAZ auszuweichen. Verzweifelt halten sie sich an Wurzeln und Baumstämmen fest. Jawohl, meine Herren! Frau am Steuer!
Wir passieren die Staumauer des Amselsees. Wenige Augenblicke später die Kassenbaude der Freilicht-Bühne Rathen. Eine Gruppe Soldaten schickt sich gerade an, den Aufstieg zur Bastei in Angriff zu nehmen. Wohl drehen sie sich nach uns um, doch ist dies ihre einzige Reaktion. Unsere Tarnung scheint angemessen!
Vor uns liegt Rathen. Der sandsteingepflasterte Weg weicht dem asphaltierten Amselgrundweg. Die Schaukelei unseres alternden Vehikels reduziert sich auf ein Minimum. Entspannt zurücklehnen kann ich mich dennoch nicht. Im Gegenteil. Meine Nervosität erreicht Höchstwerte! In wenigen Augenblicken werde ich jenen Punkt erreichen, an dem meine Odyssee begann. Vor nicht einmal neun Stunden. Seitdem sind Dinge geschehen, auf die ich hätte verzichten können. Viele davon lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Das Sturmgewehr in meinen Händen wiegt schwer. Ich stelle mir ernsthaft die Frage, welche Überraschungen dieser Tag noch bereit hält.
"Achtung, festhalten!"
Der Amselgrundweg verengt sich kurz vor der Einmündung in die Rathener Hauptstraße "Zum Grünbach" zu einem schmalen Gässchen. Tamara muss gut zielen, um unser Urviech dort hindurch zu manövrieren. Ohne Blechschaden schafft sie es nicht. Trotz verminderter Geschwindigkeit schrammen wir an einer Trockenmauer entlang. Dem rechten Außenspiegel geht es an den Kragen.
Scharfe Linkskurve! Der UAZ legt sich in seine Blattfedern. Stöhnt und ächzt. Viel fehlt nicht, um auf der Seite zu landen.
Ich blicke mich um. Zu meiner Linken befindet sich ein kleiner Lebensmittelladen, bedeutender Dreh- und Angelpunkt des sozialen Lebens. Zu meiner Rechten plätschert der Grünbach in seinem Bett. Uns trennt eine stählerne Brüstung und etwa zwei Meter Höhenunterschied. Schräg vor uns sehe ich das Haus, in dem ich meine Ferienwohnung angemietet habe. Was würde ich geben, um dahin gehen zu können! Die Tür hinter mir zu schließen. Und den Rest des Tages in der mit wohl temperierten Wasser gefüllten Badewanne verbringen.
Blick zurück. Nach Süden. Richtung Elbe. Mit einem Male ist alle Leichtigkeit verschwunden. Vermutlich stehe ich kurz vor einem Herzkasper.
Da kommen sie! Soldaten. Endlos viele! Marschformation. Dreierreihen. Zehn. 20. 30. Viele! Ich sehe Maschinenwaffen. Reaktive Panzerbüchsen. Auf einachsige Handkarren verlastete Granatwerfer. Und was weiß ich noch alles!
Ohne bewusste Steuerung hebe ich das QBZ-03. Richte es auf die Marschkolonne. Wie von selbst krümmt sich der Finger um die Abzugsgruppe. Die zwei Kilogramm Abzugsgewicht sind keine Hürde.
Das Sturmgewehr erwacht. Sendet im Dauerfeuer seine Projektile gegen die Marschsäule. Soldaten gehen zu Boden. Unklar, ob getroffen oder um verzweifelten Versuch, Deckung zu finden! Nicht wenige lassen sich über das Geländer in den Grünbach fallen. Panisches Durcheinander!
Klick.
Leergeschossen. Ich lasse das Sturmgewehr fallen. Seelenlos klappert es auf der Ladefläche, während eine AKS-74U ihre Stimme erhebt. Eine einzige lange Salve leert das Magazin. Der Rückstoß dieser Waffe ist um einiges stärker und lässt sie nach oben ausbrechen. Ich bin unfähig, zu korrigieren.
Mechanisch ergreife ich das nächste Gewehr. Mit dem rechten Daumen lege ich den Feuerwahlhebel um und lege an. Doch wir sind bereits außer Sicht.
Ich sitze auf der Rückbank und atme mehrere Male tief ein und aus. Um mich zu beruhigen. Das war schon starker Tobak!
"Links!"
Vor dem Haus des Gastes parkt ein Geschwisterchen unseres UAZ. Eines mit Verdeck. Daneben eine Handvoll Soldaten. Ein halbes Dutzend vielleicht. Sie schauen zu uns herüber, ohne zu begreifen. Erneut öffne ich das Feuer. Sehe, wie Geschosse in die Karoserie des Militärfahrzeuges einschlagen. Die Soldaten verschwinden aus meinem Blickfeld. Schon sind wir vorbei und einige Augenblicke später außer Reichweite.
Wir fahren den Waltersdorfer Berg hinauf. Tauchen in den Schatten des Waldes. Die vom Asphalt reflektierte Hitze weicht einer kühlen Brise und hilft, das Gemüt abzukühlen. Allmählich ordnen sich die Gedanken. Strukturieren sich zu einer banalen Aussage.
Ich muss dringend auf den Topf!
Die bergan führende Straße ist ausgesprochen kurvig. Da unser fahrbarer Untersatz keine lenkunterstützende Systeme besitzt, schuftet Tamara schwer, um uns auf der Kurs zu halten.
Ich beobachte die Umgebung. Gerade passieren wir einen Abzweig. Hier beginnt der Aufstieg zum Gamrig, einem freistehenden Kletterfelsen mit überragendem Blick auf die Umgebung. Ein abgehender versteckter Pfad würde uns zur Gamrighöhle bringen, eine bei Bergsteigern als Boofe sehr gefragte bis zu 20 Meter tiefe Schichtfugenhöhle. Zwischen den Baumstämmen und außerordentlich dichtem Unterholz ist freilich nichts zu erkennen.
Zur Linken weicht der Wald einer Weide, keine 100 Meter weiter einem unbefestigten Parkplatz auf der rechten Straßenseite. Gleichzeitig erreichen wir den Scheitelpunkt der Steigung.
Ein gewaltiges Hindernis blockiert die Straße.
Déjà-vu! Dongfeng. Soldaten. Straßensperre. Diese Situation hatten wir bereits! Sofort nimmt Tamara das Gas weg, um den UAZ geräuschlos ausrollen zu lassen.
Ein Soldat steht hinter dem dachmontierten schweren Maschinengewehr. Mit dem Rücken zu uns. Er beobachtet seine Kameraden, die mehrere Meter vor dem Panzerwagen zwei PKW durchsuchen. Wir werden sie genau so überrumpeln, wie wir es auf der Zufahrt zur Bastei getan haben.
Wunschdenken.
Der Bordschütze ist wachsam. Hört uns. Alarmiert seine Kameraden durch Zuruf. Versucht, das schwere Maschinengewehr auszurichten.
Nein, nein, nein! Ich reiße das Sturmgewehr hoch. Feuere auf den Mann. Treffe ihn mehrfach. Gleichzeitig latscht Tamara auf das Gaspedal, drückt es gegen das Bodenblech. Oh, ihr Götter der geheiligten Beschleunigung! Bei dem Versuch, irgendwo Halt zu finden, verliere ich meine Waffe. Sie schlägt mir auf die Oberschenkel und scheppert unter die Sitzbank.
Der UAZ macht einen gewaltigen Satz nach vorn. Am Dongfeng vorbei. Direkt auf die Soldatengruppe zu. Denen bleibt nichts anderes übrig, als nach allen Seiten davon zu springen.
Vollbremsung! Mich haut es vom Sitz. Während ich meine Sinne sortiere und nach dem erstbesten Sturmgewehr greife, springt Tamara aus dem Wagen. Brüllt wie tausend Furien. Feuert ihre Waffe ab. Wieder und wieder. Ich bleibe auf Tauchstation. Für alle Fälle!
Als die Kakofonie ein Ende findet, riskiere ich einen Blick. Sondiere die Lage.
Das schlägt einem Fass glatt den Boden aus, steht doch Tamara mitten auf der Straße! Mit dem Sturmgewehr im Anschlag. Vor ihr liegen oder knien sieben Soldaten auf dem Asphalt. Ohne Waffen. Die Hände hoch erhoben. Einige Meter weiter drängen sich die PKW-Insassen verängstigt am Weidezaun.
Tamara nimmt meine Existenz mit vorwurfsvollem Blick zu Kenntnis. Ein Teil von mir möchte sich am Liebsten mit erhobenen Händen neben die Chinesen hocken. Der Rest plädiert für ein lässiges Achselzucken. Es bleibt bei weichen Knien und hängenden Schultern.
"Nun mach!"
Damit holt sie mich zurück. Mit aller Professionalität fixiere ich die Gefangenen mit Plastikfesseln und parke sie im Straßengraben. Unseren kalkweißen nordkoreanischen Beifahrer setzen wir dazu. Traumatisiert von unserer Irrfahrt ist er gar nicht in der Lage für irgendwelche Dummheiten. Tamara wacht über mich wie ein Rache-Engel. Ihr entgeht keine Bewegung.
Bevor wir den Dongfeng in Besitz nehmen, legen wir den toten Bordschützen behutsam am Straßenrand ab und bedecken ihn mit einer Zeltplane. Das holt die Herde unserer Mitbürger aus ihrer Lethargie. Sie drängen sich in ihre Fahrzeuge. Wenden auf der Straße. Und brausen in östliche Richtung davon.
Tamara sammelt die Waffen der Panzerwagenbesatzung ein und verstaut sie im UAZ. Ich setze mich derweil hinter das Steuer des CSK-131. Für jemanden ohne Führerschein und beschränkten praktischen Fahrkenntnissen ist das eine neue Welt. Doch so schwer kann das doch gar nicht sein! Das Lenkrad. Klar. Zwei Fußpedalen. Bremse. Gas. Wählhebel für die Automatikschaltung hinter dem Lenkrad. Handbremse rechts neben dem Fahrersitz. Alles andere ist Luxus.
Mit dem Betätigen des Starters erwacht der leistungsfähige Dieselmotor zum Leben. Kontrollanzeigen leuchten auf. Visualisieren den Status der verschiedenen Systeme des Panzerwagens.
Ich absolviere meine ersten Fahrübungen! Es ruckelt und knirscht hier und da und mit Sicherheit bleiben mir die wahren Geheimnisse der Fahrkunst verborgen, doch es genügt, den Dongfeng unter Kontrolle zu halten.
So fahren wir unserer Freiheit entgegen. Tamara in einem nordkoreanischen UAZ-469. Ich in einem chinesischen CSK-131. Wer hätte das gedacht?