Solange wir uns in den Schwedenlöchern aufgehalten haben, nahmen wir kaum Geräusche von außerhalb wahr. Umso mehr treffen sie uns, als wir die Schlucht verlassen und uns an der Schutzhütte, nur wenige Meter vom Ausstieg entfernt, sammeln. Nach wie vor scheint eine Menge Metall durch die Luft zu schwirren. Zu Gesicht bekommen wir freilich nichts.
Es gilt, die Lage auf dem Bastei-Hochplateau zu prüfen. Die beiden Helden vom Bastei-Hotel und ein weiterer Mann, der sich bisher im Hintergrund gehalten hat, wollen mich dabei unterstützen. Alle anderen ziehen sich in den Wald zurück und machen sich unsichtbar. Hören sie innerhalb der nächsten Stunde nichts von uns, sollen sie durch die Schwedenlöcher in den Amselgrund zurückkehren und einen anderen Fluchtweg suchen.
Geschmeidig brechen wir durch dichtes Buschwerk. Hierbei bewaffnen sich meine Begleiter mit Holzknüppeln. Am Rande des Waldparkplatzes, der dem Hotelkomplex am nächsten liegt, legen wir uns auf die Lauer. Beobachten. Sehen keine Menschenseele. Der Parkplatz ist zu etwa einem Drittel belegt. Überwiegend mit Kleinwagen des Personals, doch glitzern auch einige Oberklassewagen in der späten Vormittagssonne.
Der Service-Mitarbeiter führt uns zu seinem ganzen Stolz, einen Skoda Fabia II in hellblau-metallic. Ich bin beeindruckt. Mit etwas guten Willen stapeln wir zehn Leute in den Kombi!
Stimmen und Gelächter zwingen uns urplötzlich hinter dem Fabia auf Tauchstation. Bange Minuten vergehen, bis wir zwei Soldaten ausmachen, die ungeniert miteinander schnatternd über den Parkplatz schlendern. Ihre Gewehre tragen sie lässig über der Schulter.
Ooh. Pell. Seh. Att! 'Enn-ooh.
Unglaublich! Die beiden Soldaten veranstalten lustiges Auto-Raten! Langsam gehen sie an den Reihen abgestellter Fahrzeuge entlang und übertrumpfen sich gegenseitig mit den Namen der verschiedenen Hersteller.
Ein Porsche 987 mit offenem Verdeck zieht die beiden Asiaten in seinen Bann. Verzückt schleichen sie um den arenaroten Roadster. Lösen den Alarm aus, als sie probesitzen wollen. Die Soldaten gehen auf Abstand. Klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, ahmen die Geräusche nach und biegen sich vor Lachen.
Als sich die Alarmanlage beruhigt, verlieren die Soldaten das Interesse und setzen ihr Ratespiel fort.
Vaaa-Wäää!
Die Entfernung zwischen uns schrumpft. Acht Meter noch. Vier. Zwei.
Ssssss. Koooh. Daaah.
Wie von der Tarantel gestochen springen wir hinter dem Fabia hervor. Sturmgewehr im Anschlag. Holzknüppel hoch erhoben. Brüllen wie am Spieß! Benehmen uns wie losgelassene Furien! Einem Soldaten drücke ich den Gewehrlauf gegen die Brust. Schreie den völlig verdutzten Kerl an. Blicke in aufgerissene Augen voller Todesangst.
Der Überraschungseffekt ist auf unserer Seite. Die beiden Soldaten wissen nicht, wie ihnen geschieht. Ehe sie beginnen zu begreifen, haben wir sie entwaffnet und auf die Knie gezwungen. Wir fixieren unsere Gefangenen mit den Plastikfesseln, so dass sie sich kaum mehr bewegen und noch weniger selbst befreien können. Unser Auto-Besitzer kramt in seinem Wagen herum und präsentiert eine Rolle Panzertape. Eine Lage Klebeband quer über den Mund hindert sie am Schreien.
Wir betrachten unseren Fang. Zwei sehr junge Soldaten. Schwer zu schätzendes Alter. Ganz bestimmt unter 20 Jahre. Ihnen steht die nackte Panik ins Gesicht geschrieben. Die Abzeichen an ihren Uniformen identifizieren sie als Angehörige der Koreanischen Volksarmee. Interessant! Also machen die Chinesen mit den Nordkoreanern gemeinsame Sache. Wer hätte das gedacht?
Unsere beiden Gefangenen kommen im Fabia Kombi unter. Dort werden sie sicherlich nicht so schnell gefunden. Der Hotel-Angestellte erklärt sich bereit, sie zu bewachen - oder einfach nur auf seinen Besitz aufzupassen. Für alle Fälle.
Zwei weitere Gewehre für uns. Kurzversionen der AK-74. Dazugehörige Munition. Ich frage meine Begleiter, ob sie sich mit Waffen auskennen. Der eine, Ulf, ich schätze ihn auf Anfang bis Mitte 50, war wie ich bei der Armee. Er nimmt eine AK auf, entnimmt ihr das Magazin, leert die Patronenkammer und schlägt die Waffe ab. Anschließend klippst er die einzelne Patrone zurück ins Magazin, setzt es wieder ein und lädt durch. Jawohl. Er kennt sich aus. Beim Lieferwagen-Fahrer dagegen ist es mehr Schein als Sein. Auf virtuellen Schlachtfeldern mal eben so nachzuladen, ist sehr viel einfacher, als in der Realität! Ein Crashkurs muss reichen.
Die asphaltierte Flaniermeile vom Waldparkplatz zum Berghotel lässt sich auf ihrer gesamten Länge hervorragend einsehen. Aus diesem Grunde halten wir uns abseits auf einem unscheinbaren Pfad zwischen den Bäumen und erreichen ohne Probleme die Service-Zufahrt.
Tatsächlich parkt der VW T5-Kastenwagen vor den Türen zu den Versorgungs- und Lagerräumen des Hotels. Perfekt! Schieben wir ihn auf die leicht abschüssige Straße, schafft er es auch ohne Motor bis zum Parkplatz. Anschließend laden wir unsere Leute ein und ab geht die Post in sichere Gefilde.
Hervorragende Gedanken! Bevor wir sie umsetzen, möchte ich erfahren, was mit all den Menschen geschehen ist. Dem Hotelpersonal. Gästen. Touristen. Meine Begleiter sind skeptisch. Sehen in meiner Neugier ein Risiko, das sich nicht einzugehen lohnt. Mag sein. Dennoch setze ich mich durch.
Mit aller zu Gebote stehenden Vorsicht schleichen wir durch den menschenleeren Versorgungstrakt. Steigen über eine Treppe ins Erdgeschoss. In der Lobby liegen zwei Leichen. Die Rezeptionistin umklammert noch im Tode den Telefonhörer. Ein weiterer Angestellter liegt inmitten tausender Glasscherben zerschossener Fenster in seinem Blut.
Konfrontationen mit Toten sind einschneidende, nicht selten schockierende Erlebnisse. Jeder Mensch verarbeitet sie anders. Dabei spielt Zeit eine wesentliche Rolle. Doch die haben wir nicht! Weder für Trauer, noch für Verlustbewältigung. Auch lassen sich die Dinge nicht ungeschehen machen. Im Gegenteil: wir haben für unsere eigene Zukunft zu sorgen. JETZT!
Einer der Rezeptions-Monitore zeigt Bilder von Überwachungskameras. Wir schauen genauer hin. Erkennen offene, zum Teil eingetretene Hotelzimmertüren. Einschusslöcher in den Wänden. Auf menschenleeren Fluren verstreute Habseligkeiten der Hotelgäste. Zerschlagenes Interieur. Im Hotel-Restaurant wurden Tische und Stühle an die Seiten geräumt. Um Platz für zahlreichen Leute zu schaffen, die bäuchlings auf dem Boden liegen. Ihre Hände sind mit Plastikfesseln auf den Rücken fixiert. Kurz bevor mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinab kriechen will, erkenne ich einen einzelnen Soldaten etwas abseits am Frühstücksbuffet. Der bewacht keine Toten. Niemals!
Wir schleichen uns an. Nutzen jede Deckung. Der dicke Teppich schluckt unsere Schritte. Macht uns lautlos. Nichts macht den Wachposten misstrauisch. Seine rechte Hand ruht auf seiner Waffe, mit der Linken wühlt er sich durch den Wurstaufschnitt. Den Schlag mit dem Gewehrkolben gegen seinen Kopf sieht er nicht kommen. Er geht wie ein nasser Sack zu Boden.
Während wir den Nordkoreaner knebeln und an einen Heizkörper fesseln, machen die Geiseln auf sich aufmerksam. Sie wollen befreit werden. Doch das geht nicht. Noch nicht! Wir müssen drohen, damit sie ruhig bleiben. Äußerst widerwillig fügen sie sich in ihr Schicksal.
Eine Frau, die sich als Tamara vorstellt, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Während ich ihr aufhelfe und von den Fesseln befreie, berichtet sie, was hier vorgefallen ist. Ich mustere sie. 1.70 Meter groß, vielleicht ein paar Zentimeter mehr. Ein paar Jahre jünger als ich. Kein Hungerhaken. Wohl proportionierte Rundungen unter dem olivfarbenen T-Shirt. Da verweilt jeder Blick länger, als notwendig! Von Make-Up und sonstigem Girlie-Tand scheint sie nichts zu halten. Ihre Frisur ist ein einfacher Undercut. Millimeterkurz rasierte Seiten, die schulterlangen rabenschwarzen Haare auf dem Oberkopf zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Schwarze Augenbrauchen. Helle blaue, fast farblose Augen. Ihr Blick fesselt. Ich reiße mich zusammen. Muss bei der Sache bleiben!
Ihren Ausführungen zufolge kamen sie in Hubschraubern. Asiaten. Zwei Gruppen. 18 Mann. Mit einem Panzerwagen und zahlreichen Transportbehältern. Sie durchsuchten alles. Trieben die Leute zusammen. Filzten sie und sammelten sie in diesem Raum. Eine Gruppe rückte alsbald mit dem Panzerwagen über die einzige Zufahrtsstraße ab, während die verbliebenen Soldaten die Kisten nach Osten transportierten.
Ich stehe am Frühstücksbuffet. Nehme ein Toastbrot aus der Warmhalte und häufe Rührei darauf. Beiße ein großes Stück ab. Kaue. Überlege. Wäge ab. Stelle Vermutungen an.
Das Militärfahrzeug und die Hälfte der Soldaten entferne ich aus der Gleichung. Es sind Kundschafter. Davon bin ich überzeugt. Schwärmen ins Hinterland aus. Klären auf. Erweitern das Territorium. Solange sie auf keinen Widerstand treffen und Verluste erleiden, dürften sie nicht hierher zurückkehren. So verbleiben neun Soldaten mit einem Haufen Ausrüstung. Zwei von ihnen konnten wir bereits auf dem Parkplatz festsetzen. Ein Dritter wird bald mit furchtbaren Kopfschmerzen und an einen Heizkörper gekettet aufwachen. Also bleiben sechs Soldaten, die sich irgendwo östlich unserer Position herum treiben. Sechs Militärs, die uns kräftig in die Suppe spucken können. Wir müssen sie finden, bevor sie uns gefährlich werden können!
Tamara lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie uns unterstützen will. Wortlos nimmt sie das Gewehr des Wachpostens auf und kontrolliert sie. Himmel, kennt sich hier jeder mit automatischen Waffen aus? Ihr Vater sei Jäger gewesen, erklärt sie. Und ein Liebhaber von Schießeisen. So hat sie sich das Eine oder Andere abgeschaut. Ja, wenn das so ist!