Drecksbalg
Da waren irgendwelche Geräusche, aber der betäubte junge Sergeant verstand nicht, welcher Art, was sie sollten oder ob sie real waren. Er sah Bewegungen im Zeitraffer, wie von einem Mann oder auch nicht. Da war noch etwas Anderes. Ein Schrei? Woher kam der? Der da schrie, war er das? Blake? War da noch jemand? Irgendjemand war da bei ihm, packte ihn. Grob. Er konnte nichts spüren, nichts erkennen. War es dunkel? Welche Tageszeit war es? Er hörte ein Stöhnen, das konnte von ihm selbst gekommen sein. Oder? Was roch da so seltsam? Das roch wie … er hatte keine Ahnung … Blut vielleicht?! War das der Geruch von Blut? Wenn ja, war es seines? Dann müsste er doch Schmerzen spüren, oder nicht? Er hatte vergessen, ob er Schmerzen spüren müsste. Bestimmt müsste er das. Aber warum? Irgendetwas, irgendjemand riss an ihm, zerrte an ihm, wieder waren da Geräusche, Stimmen, das seltsame, hohe Pfeifen …
Lukes Bewusstsein lag noch immer halb im Dämmerzustand, als er beschloss, keine unüberlegte, plötzliche Reaktion zu zeigen. Er konnte immerhin fühlen, wie er irgendwo auf dem Bauch und am Boden lag. Es war nicht der Boden von Blakes Wohnung. Da war kein Teppich, der Boden war hart, Stein oder Beton. Blake! Oh Gott, wie irre war der? Er war der Irre, der Mörder, der Vergewaltiger, der völlig gestörte Geisteskranke und er, Luke, sollte das nicht bemerkt haben?! Irgendetwas in dir hat es bemerkt, meldete sich sein Verstand zu Wort. Zumindest hast du bemerkt, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Stimmt. Präsens. Das war jetzt und hier, das war real. Er durfte sich jetzt keinen weiteren Fehler leisten, wenn es denn überhaupt eine Chance gab, das hier zu überstehen. Blake hatte ihm dieses verfluchte Scheißzeug, diese K.O.-Tropfen verabreicht. Mit dem Cappuccino. Warum war er so blöd, das nicht zu merken? Er begann deutlich schneller zu atmen, das war nicht gut. Beruhig dich, dass dein eigener Freund so ein durchgeknalltes Arschloch ist, konntest du nicht wissen …
Luke riss sich zusammen und beschloss, vorsichtig die Augen zu öffnen. Vielleicht könnte er sehen, wo er war, in welcher Situation er war, ob er allein war. Er blinzelte. Der Raum war erleuchtet. Irgendein künstliches, kaltes Licht, vielleicht eine Neonröhre. Die Wände, die er sah, ohne Fenster, waren kahl, alte Tapete hing in Fetzen. Was war das hier? Ein Abrisshaus? Er versuchte, den Kopf zu drehen, um mehr zu sehen, aber das war nicht möglich, er war noch immer nicht Herr seiner Nerven, Muskeln, Sehnen. Er war nicht fähig, mehr als ein, zwei Finger zu rühren. Wahrscheinlich war er deswegen nicht einmal gefesselt. Er konnte sehen, dass einer seiner Arme vorgestreckt dalag. Einfach so. Der Arm war bloß, etwas zerkratzt. Luke erinnerte sich, dass er ein langärmeliges Shirt getragen hatte und seine Jacke, also musste ihm das jemand ausgezogen haben. Nicht jemand: Blake. Aber wo war der jetzt? Was machte der? Luke horchte.
Einen Moment fürchtete er, er sei vielleicht taub, weil er nichts wahrnahm, doch dann konzentrierte er sich einzig und allein darauf. Nein, er konnte sich selbst atmen hören. Er saugte die Luft ein und musste davon husten. Auch das konnte er hören. Und noch etwas. Ein Geräusch wie … leises Stöhnen, gleich darauf nochmal, etwas lauter. Aber das klang nicht wie sein durchgeknallter Ex- Freund.
„Fuuuck, oh Shit…“, verstand Luke.
Ganz klar, da war noch ein anderer in dem Raum, einer, der zumindest sprechen konnte. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf ihn jetzt die Erkenntnis, wer das war. Die Stimme …
„Luuke, hey! Shit, du bist nicht tot, oder? Sag was, hey!“
Kein Zweifel, das war Gabriel! Wie kam der hierher? Was war passiert? Der Betäubte überlegte, was er tun könnte, um zumindest ein Zeichen zu geben. Gabriel war jedenfalls nicht so leicht zu beruhigen.
„Hey, Luke, verdammt, sag was!!!“
Luke versuchte es mit dem Luft einsaugen und husten. Das funktionierte. Er hustete.
„Oh, Himmel, ich dachte schon, du wärst … Shit. Wie geht’s dir? Hast du Schmerzen?“
Luke war nicht sicher. Er fragte sich, was Gabriel wohl sehen konnte, wenn er so fragte. War er verletzt? Er spürte nichts. Er hustete noch einmal, was keine Antwort war, aber besser als nichts. Der junge Ire schien jetzt zu kapieren, dass sein Freund nichts machen konnte und wohl nicht einmal wusste, was los war, denn er begann zu erklären.
„Keine Ahnung, wo uns der Mistsack hingebracht hat. Ich kann nicht zu dir kommen, er hat mich an der Heizung fixiert. Rechts hinter dir. Links hinter dir ist `ne Tür.“
Kaum hatte er das gesagt, da hörte Luke, wie sich diese Tür öffnete und jemand hereinkam. Blake, schoss es ihm in den Sinn!
„Sieh mal einer an, du irischer Bastard bist eine echte Quasselstrippe! Dann kann es ja weiter gehen.“
Luke geriet in Panik. Oder zumindest sowas Ähnliches. Er konnte sich kein Stück rühren, nicht den Kopf drehen, um zu sehen, was geschah, er konnte nicht mal schreien. Das war das Furchtbarste. Blake hatte Gabriel in seiner Gewalt. Irgendwo rechts hinter ihm und er konnte nichts tun, nichts. „Mmmmmmmmmppffffff“, brachte er gerade mal zustande. In seinem Kopf hieß das alles Mögliche: Nein! Aufhören! Lass die Finger von ihm! Wenn du ihm was tust, bring ich dich mit bloßen Händen um! Was er hören konnte, machte es nur schlimmer. Blakes Stimme klang kälter als er sie kannte, grausamer und voller Hohn.
„Hast du denn unserem Luke schon erzählt, wie du hierhin gekommen bist, hä? Hast du ihm schon gesagt, was passiert ist, na?“
Erst hörte Luke einen metallisch hohlen Klang, beinahe wie ein alter Eimer oder eine verstimmte Glocke. Blake schlug mit irgendeinem harten Gegenstand auf den Heizkörper. Dann hörte man ein dumpfes Geräusch und ein unterdrücktes Ächzen. Verdammt, er schlug Gabriel!
„Mmmmmmmmmppffffffffffffffffff!!!!!“
Mit einem Mal spürte Luke, wie sein Kopf grob an den Haaren angehoben wurde. Blake schaute ihm ins Gesicht. Er sah nicht mal aus wie Blake, nicht so, wie Luke ihn kannte. Es war, wie wenn ein eigentlich gutmütiger Hund plötzlich in Tollwut die Zähne fletschte und die Ohren anlegte, es war wie Jekyll und Hyde. Seine Augen waren weit aufgerissen und hatten einen starren Blick, seine Nasenflügel waren aufgebläht, seine Gesichtsmuskeln zuckten nervös.
„Luke-Schatz, du weißt, ich bin verrückt nach dir, aber wo du diesen notgeilen Go-go-Tänzer schon mitgebracht hast, wäre es doch dumm, das nicht auszunutzen!“
„Du … kannst mich mal … du perverses … Anwalts- Schwein …“ Das war Gabriels Stimme. Er klang gequält, aber er war weder ohnmächtig noch Schlimmeres …
„Woah, hast du das gehört, Luke-Schatz? Ich glaube, ich sollte dem erstmal Manieren beibringen?!“ Der Hohn in der Stimme seines Ex- Freundes war unerträglich.
„MMMMMmmmmmmmpppppffffffffffffffffffff!!!“ Lukes Kopf fiel willenlos nach unten, als Blake ihn losließ und schlug ungebremst auf dem harten Boden auf. Er hustete.
„Bring dir selber … Manieren bei … du …“
Weiter kam der junge Ire nicht, denn ihr Peiniger war blitzschnell aufgesprungen und hatte von dem Betäubten abgelassen, um den Gefesselten zum Schweigen zu bringen. Luke hörte erneut diese dumpfen Geräusche, wie Schläge, es klang, als würde Gabriel mit dem Schädel an die Heizung knallen, er ächzte, spuckte aus. Was war das? Zähne? Blut? Oh, nein … Lukes Atem veränderte sich, offenbar konnten sich seine Angst und Panik, nicht seinetwegen, aber um Gabriels willen, noch steigern.
„Wenn du glaubst … das macht mir Schiss, … du englischer Vollarsch, … dann …“
OhGottohGottohGott, was tat er nur? Warum provozierte der Tänzer den Psychopathen so? Um ihn von mir abzulenken! Das war die einzig logische Erklärung, die dem jungen Sergeanten einfiel. Was hatte er ihn gefragt? Ob er tot sei? Warum sollte er tot sein? Wieder kam ihm einer der schrecklichsten Gedanken. Gabriel konnte ihn sehen, er sah den Raum, die Tür. Was hatte der irre Anwalt mit ihm selbst gemacht? War er verletzt und merkte es nicht wegen der Drogen? OhGottohGottohGott! Hinter ihm, die Geräusche wurden unerträglich. Immer wieder Schläge, das Schallen des Heizkörpers, Blakes widerliche Stimme mit den fürchterlichsten, ätzendsten Bemerkungen …
„Dir werd' ich's zeigen … katholischer Drecksbalg … schwules Stück Scheiße …“
Luke wünschte sich, er müsste das nicht hören, andererseits, wüsste er dann nicht, was mit ihnen geschah. Es war jedoch kein Kunststück, das zu erraten. Sie erwartete das gleiche Schicksal wie Andrew, Jamie, Benjamin, Peter und John. Es sei denn, es geschah ein Wunder. Während die dumpfen Schläge, das Tönen des Heizkörpers und die immer erstickter klingenden Ächzer Gabriels, die wüsten Beschimpfungen Blakes den Raum füllten, begann Luke fieberhaft zu denken.
Er würde sich nicht bewegen, vielleicht könnte er dann vortäuschen, noch immer völlig hilflos zu sein, auch wenn er sich irgendwann bewegen könnte. Immerhin könnte er dann irgendwie versuchen, Blake außer Gefecht zu setzen. Wie lange ging das Ganze schon? Irgendwann würde man im Elysium darauf kommen, dass der Tänzer und der Neue fehlten. Das würde auffallen. Sofort. Tiny Tim oder Big Bob würden Sean und Oscar benachrichtigen und die würden sofort die Polizei einschalten. Aber gab es überhaupt irgendwelche Hinweise darauf, dass Luke zu seinem Ex-Freund gegangen war? Wüsste irgendjemand, dass man dort nach einer Spur suchen müsste? Vielleicht war der Typ von den Stadtwerken gekommen und hatte irgendwas bemerkt. Wo war Gabriel überhaupt hergekommen? War der auch in der Wohnung gewesen? Gab es dort Hinweise auf einen Kampf? ...
Die Geräusche veränderten sich. Die Schläge ließen nach. War der durchgeknallte Anwalt etwa erschöpft von seinen Misshandlungen? Nein! Luke hörte das Reißen von Stoff und ein deutlich anderes Atmen und Schnaufen von Blake. Oh Fuck, fuck, fuck, fuck …
„Was haben wir denn daaaaa?“ Irgendetwas überraschte den Irren. „Sieh mal einer an!“
Der Sergeant hielt den Atem an. Was mochte es sein? Es war ganz offenkundig: die auftätowierten Flügel. Er biss sich selbst auf die Lippe und stellte fest, dass er das als Schmerz wahrnahm. Das war gut, sein Körper erwachte. Als nächstes hörte er ein fieses Lachen, so als habe Blake einen Preis an einer Rubbellosbude auf dem Jahrmarkt gewonnen.
„Ha! Ich hab noch nie einen Engel gefickt! Es muss mein Glückstag sein! Nur leider ist es nicht deiner, du verfluchter Homo- Engel. Das hilft dir gar nichts, hörst du?! Du stehst auf große Schwänze? Du kriegst einen und was für einen- Hä? Was sagst du?“
Luke horchte, aber verstand nicht, wie die Antwort lautete.
„Na warte, du, du abartiger Schwanzlutscher. Dich knall‘ ich durch, dass dir Hören und Sehen vergeht und wenn das durch ist, wenn ich mit dir durch bin, dann zieh ich dir deine Flügel mit dem Fell ab, du …“
Hatte er das richtig verstanden? Oh, bitte nein!
Wie um sich für irgendetwas vorzubereiten, verließ Blake nun den Raum, warum auch immer und der Betäubte nutzte die Gelegenheit, ohne zu warten, um zu testen, ob er inzwischen mehr als nur einen Finger bewegen könnte. Er versuchte den Kopf zu heben. Das war zu schwer, aber immerhin bewegte er sich etwas. Er konzentrierte sich auf seinen Körper am Boden. Er konnte die Härte und die Kälte des Betons spüren. Er versuchte zu sprechen.
„Ggg…gga…aaa…b…“ Er horchte. Blake hatte eben noch mit ihm gesprochen, also war er da, aber war er bei Bewusstsein?
„Ggga…b…“
„Luu… Luke- Babe… schö…ne Scheiße… “
Der Engel atmete schwer, er klang furchtbar. Luke kamen die Tränen, er konnte sie nicht aufhalten. Schöne Scheiße.