„Guten Morgen.“
Luke blinzelte, dann erkannte er Gabriels Gesicht. Sie lagen nebeneinander im Bett und der Engel beugte sich behutsam über ihn.
„Was …? Haben wir geschlafen?“, fragte der Blonde und verstand nicht so recht, was passiert war.
Gabriel schaute ihn prüfend an, dann lächelte er und sprach leise und sanft. „Ja, das haben wir. Kannst du dich erinnern, was passiert ist?“ Er strich ihm mit den Fingern seiner linken Hand zärtlich übers Haar, während sein Freund versuchte, sich zu erinnern. Wenn der Tänzer so vorsichtig und zurückhaltend war, dann musste das einen Grund haben. Aber welchen? Dann, langsam, aber stetig, kamen Luke seine Schreie ins Gedächtnis und dass Gabriel ihn gehalten hatte, ihm zu trinken gegeben hatte, ihn gebettet hatte …
„Ich bin durchgeknallt, richtig?“
So wie er das sagte, so kam es ihm jetzt auch vor. Er war durchgeknallt, übergeschnappt, hatte die Kontrolle verloren. Wie konnte das passieren? Er war ein ausgebildeter Sergeant vom Yard, jemand, der Mörder fing und den wenig von dem, was er sah oder in seine Berichte schrieb noch erschrecken konnte.
„Das ist okay“, beruhigte ihn der Engel mit warmer Stimme. „Kein Wunder, bei dem, was du durchgemacht hast.“
… bei dem, was du durchgemacht hast …
„Ich weiß nicht, … was du meinst. Mein Job kann riskant werden, das wusste … das weiß ich.“
In Gabriels waldgrünen Augen erkannte Luke den Widerspruch, bevor er ihn hörte.
„Das ist nicht das, was dir passiert ist“, begann der Rothaarige. „Du konntest nicht wissen, dass du gegen deinen eigenen Freund ermittelst. Und du bist ganz sicher auch in keinem anderen Fall selbst zum Opfer geworden. Jetzt hör auf, so stark zu tun. Niemand erwartet das. Ich am allerwenigsten.“
Luke blinzelte, weil er das, was der andere sagte, erst begreifen musste. Er war tatsächlich angeschlagener, als ihm selbst bewusst war, denn Gabriels Worte erschlossen sich ihm erst nach und nach. Er war ein Opfer seines eigenen Freundes geworden. Seines Partners, der nicht gezögert hatte, ihn zu betäuben, zu vergewaltigen und der seinem Liebsten, dem Mann neben ihm, die Haut bei lebendigem Leib abziehen wollte. Oh, verflucht …
„Ich wollte …“
„… Ich weiß, was du wolltest“, fiel ihm Gabriel sanft ins Wort, wobei er einen Finger auf Lukes Lippen legte. „Und du wolltest zu viel. Du bist vielleicht körperlich weniger verwundet als ich, aber das sagt nichts aus. Deine Seele ist zutiefst verletzt, denn du hast Blake einmal geliebt und ihm vertraut. Und jetzt weißt du nicht mal, ob der, in den du verliebt warst, überhaupt existiert hat. Vielleicht hat dir dieser Psycho die ganze Zeit was vorgemacht. Vielleicht gab es den Teil von diesem geisteskranken Mann, der Blake war, vielleicht auch nicht. Das kannst du nicht mal mehr herausfinden, weil … ich ihn getötet habe.“
„Das war in Notwehr, es ging nicht anders.“
„Das stimmt. Und mir tut es auch um ihn kein bisschen leid, nur wegen dir. Weil du die Wahrheit nicht herausfinden kannst.“
„Welche Wahrheit? Dass er mich die ganze Zeit nur benutzt hat, weil er einen extra Kick davon gekriegt hat, einen schwulen Bullen zu vögeln?“
In dem Moment, als er es aussprach, erschrak Luke selbst vor seinem hysterischen Tonfall. Warum war er bloß so sehr neben der Spur? Er schaute Gabriel in die Augen, was ihm in dieser Situation der beste Halt zu sein schien.
„Sowas darfst du nicht denken“, kam es von dem Rothaarigen.
„Was soll ich denn dann denken? Dass dieser Typ zu echten Gefühlen fähig war? Dass ausgerechnet ich ihm etwas bedeutet habe, wenn er sonst andere Jungs wie dich und mich ohne Mitleid abgeschlachtet hat?“
Gabriel nickte zögerlich. Was Luke da sagte, schien ihm einleuchtend, obwohl er es nicht wahrhaben wollte. „Ich kann dir nicht sagen, was du denken sollst. Oder was in Blake vorgegangen ist. Alles was ich weiß ist, dass du der absolut liebenswerteste Mann bist, der mir je begegnet ist. Und wenn es irgendeinen Ort in der Seele von deinem Ex-Freund gab, wo er lieben konnte, dann muss er das getan haben. Auf irgendeine Art, die du, ich und wohl auch sonst keiner verstehen kann.“
Luke hörte, was sein Liebster zu ihm sagte und allmählich begann er zu entspannen. Gabriel würde ihm nichts vormachen. Das hatte er nie getan, und wenn es jemanden gab, der schon einmal in einer annähernd vergleichbaren Situation war, dann der junge Tänzer aus Belfast, der nur knapp einem gewalttätigen Freund und dessen komplett gestörter Eifersucht entkommen war.
„Ich glaube, du hast recht“, sagte der Blonde dann leise und versuchte zu lächeln. Es gelang wohl, denn Gabriel lächelte zurück, küsste ihn auf die Stirn und zog ihn etwas fester in seine Arme.
„Versprichst du mir bitte etwas?“, begann der Engel und blickte Luke dabei in die Augen. Was immer es war, ihm bedeutete es wohl sehr viel.
„Natürlich“, antwortete der Blonde daher sogleich, „ich verspreche dir alles, was ich auch halten kann.“
„Gut. Dann versprich mir, dass du nicht irgendwelche Dinge allein entscheidest, ohne mich.“
Der Blonde horchte auf. Was konnte sein Freund damit meinen? Fragend schaute er ihn an.
„Du kannst mir nichts vormachen“, erklärte Gabriel ganz ruhig und dabei strich er Luke durchs Haar. „Du hast deinem Boss gesagt, dass Blake durch dich tödlich verletzt wurde. In keinem Zeitungsartikel stand was über mich in dem Zusammenhang. Und auch deine Kollegen vom Yard, dein Vorgesetzter, keiner hat mich dazu befragt. Da ist das die einzig logische Erklärung.“
Es blieb nichts anderes, als zu nicken. Im Grunde war das auch kein Geheimnis gewesen. Luke hatte den geliebten Mann schützen wollen und es ihm nur deshalb noch nicht gesagt, weil er glaubte, ihn schonen zu müssen.
„Ich kann wirklich nichts vor dir verheimlichen“, gab er dann mit einem kleinen Lächeln zu, denn ihm fiel ein, dass es von Anfang an so der Fall gewesen war. Gabriel hatte keine seiner Geschichten zur Tarnung im Elysium geglaubt. „Wie kommt es, dass du mich liebst, obwohl ich die wenigste Zeit ehrlich mit dir bin?“
Jetzt war es der Engel, der lächelte. „Ich glaube, ich kenne dich besser als du dich selbst. Und deine Notlügen wegen deinem Job hab ich dir längst verziehen. Außerdem steh ich voll auf deinen Knackarsch in Kunstleder.“ Bei der letzten Bemerkung blitzte ein neckisches Leuchten in seinen Augen auf und Luke musste direkt laut lachen. Es tat gut, das zu tun.
„Der ist nur halb so knackig wie deiner“, gab er zurück und zögerte kurz, um diesen schönen Moment etwas länger festzuhalten. „Da ist noch was, was du wissen solltest …“
„Oh! Ist das jetzt hier die Stunde der Wahrheit, wo wir uns all unsere Sünden beichten?“
Der Blonde strahlte jetzt regelrecht über den Humor seines sonst so schweigsamen Freundes. „Hast du was zu sagen?“
„Oh, reichlich und es wird hoffentlich bald noch mehr“, reizte Gabriel und beugte sich für einen Kuss zu Luke herunter. Sein rotes Haar kitzelte auf dessen Stirn, während sich ihre Lippen ganz selbstverständlich fanden. Das tat sogar noch viel besser, als alles, was der Engel gesagt hatte und Luke hatte Mühe, nicht von seinem Vorhaben abzuweichen, wirklich alles zu sagen. Einen Moment noch gab er sich ihrem Zungenspiel und dem Gefühl der Nähe mit seinem Liebsten hin, dann beendete er den Kuss. Gabriel schaute ihn fragend an.
„Was?“
„Es ist wegen deiner … Familie“, brachte Luke heraus und legte dem anderen liebevoll eine Hand an die Wange, um ihn zu fühlen.
„So wie du das sagst, redest du nicht von Sean und Oscar, sondern von diesem verblödeten Papistenverein in Belfast.“
Der Tänzer kniff die Augen reflexartig kurz zusammen, was für Luke alles andere als ein gutes Zeichen war, doch er fuhr seinerseits fort. „Meine Mum und ich haben darüber geredet und auch Oscar und ich.“
„Was habt ihr geredet?“, fragte der Tänzer mit seltsam tonloser Stimme.
„Darüber, dass es eine Chance gibt, weil nicht alle von deinen Geschwistern den gleichen Hau wie deine Eltern haben müssen. Du hast ihn ja auch nicht.“
Gabriel stieß ein resigniertes, verächtliches Zischen aus. „Tzz! Nein, ich hab den nicht! Weil ich irgendwann wusste, was mit mir los ist und dass ich sowieso kein gottgefälliges Leben führen könnte.“
Es tat weh, ihn so verbittert zu sehen und zu hören. Luke fehlten im ersten Moment die Worte, also strich er Gabriel über die Wange, doch dann nahm er seinen Mut zusammen. „Genau das macht es doch wahrscheinlich, dass da jemand von deinen Brüdern und Schwestern mitgekriegt hat, wie falsch das alles ist, was die Kirche deiner Familie vorgeschrieben hat. Deine Eltern haben dich rausgejagt und verstoßen. Wenn man das mit einem Bruder macht, der seinen Geschwistern was bedeutet, dann können die doch nicht unberührt davon bleiben. Die müssen doch versucht haben, bei deinen Eltern für dich zu sprechen. Die müssen doch irgendwas getan haben. Und wenn sie gemerkt haben, wie grausam deine Eltern sind, dann müssen sie doch ihren eigenen Standpunkt gefunden haben.“
Die Worte schienen etwas in Gabriel zu bewirken, denn er seufzte einmal laut und schaute seinem Luke dann in die Augen. Der Ausdruck von Bitterkeit in seinen grünen Augen war gemildert. „Da ist was dran“, begann er zögerlich, „… aber was heißt das? Was schlägst du vor?“
„Ich finde, wir sollten da hinfahren. Nach Belfast. Bestimmt ist jemand froh, dass du lebst und dass es dir gut geht. Den Versuch ist es wert.“
„Meinst du wirklich?“
„Ja. Oscar hat gesagt, er würde uns begleiten.“
„Oscar!?“
„Ja.“
Gabriel seufzte wieder und schaute nachdenklich zum Fenster hinaus. Was er wohl dachte? Oder erinnerte er sich an irgendetwas? Luke schwieg und wartete einfach ab, solange der andere zu überlegen schien.
„Also schön“, kam es schließlich von ihm. „Es kann nicht mehr als schiefgehen und mit der Zeit wird es nicht einfacher. Den Versuch ist es wert, wie du sagst. Aber wir machen das erst, wenn es dir und mir wieder richtig gut geht.“
Luke lächelte und zog Gabriel in einen langen, zärtlichen Kuss. Sie waren sich einig und für den jungen Sergeant stand fest, dass wirklich alles gut werden würde.