Tharin
»Sag nicht, dass du mich verlässt.« Mit verschränkten Armen stand Eyndor hinter mir und verfolgte aufmüpfig, wie ich ein Kleidungsstück nach dem anderen in den braunen Leinensack stopfte, den ich auf die Matratze des Bettes geworfen hatte, aus dem mich Nacht für Nacht unfassbare Träume trieben. Träume von Feuer und Asche und dem nahenden Ende der Welt.
»Ich verlasse dich nicht«, log ich knapp. »Ich gehe für eine Weile weg und dann komme ich wieder.«
»Wenn du gehst, kommst du nicht zurück«, entgegnete der Junge kühl. Seine Worte klangen vorwurfsvoll, viel zu erwachsen für ein Kind seines Alters. »Du bist nicht der erste Mensch, der mich belügt. Ich weiß, was es bedeutet, wenn ihr nachts eure Kleider in eine Tasche werft und aufbrecht, um nie wieder zu kommen.« Hinter mir hörte ich ihn seufzen. »Du hast genauso Angst, wie alle anderen. Vor Isay. Vor dem Tod. Und vor mir.«
Seine Worte trafen mich wie Hammerschläge. Ich drehte ihm das Gesicht zu und erspähte den dunkelhaarigen Jungen mit verschränkten Armen im Türrahmen. Trotz seiner starken Worte wirkte er mitgenommen und traurig. Sein Gesicht ähnelte einer Maske aus Porzellan. Kaum zu glauben, dass ihm das Schicksal der Welt auferlegt worden war. Einem Kind von höchstens elf Jahren.
»Ich habe keine Angst vor dir, Eyndor.« Aber ich log, und er spürte es. »Es sind meine Träume, die mich verfolgen. Ich kann nicht für dich sorgen, wenn ich mir selbst nicht vertrauen kann.«
»Was sind das für Träume?«
»Das habe ich dir doch erzählt. Es sind Schatten, die mich verfolgen. Ich sehe Andhera brennen. Vom Windetal im Süden, bis zu den Splitterinseln im Norden gleicht alles einem Meer aus Flammen. Und alle sind tot. Nur ich nicht.«
»Und siehst du mich?«
Ein Beben fuhr durch seine Stimme. Langsam hörte ich auf, zu packen und wandte mich gänzlich zu ihm um. »Nein«, antwortete ich ihm unverwandt. »In keinem dieser Hölleninfernos habe ich dich jemals gesehen, oder auch nur wahrgenommen.«
»Aber ist nicht genau das meine Bestimmung?«
Angespannt biss ich mir auf die Lippe. Ich wollte vermeiden, ihn anzuschauen, aber seine großen, wässrigen Augen, machten es unmöglich, hart zu bleiben, und ich begriff, dass ich auch diese Nacht nicht gehen würde. Schon im Morgengrauen würden all meine Kleider wieder sauber gestapelt in dem kleinen Holzregal liegen, so ordentlich und faltenfrei, als hätte ich sie nie in den viel zu kleinen Sack gestopft.
Mit wenigen Schritten ging ich zur Tür, packte den Jungen am Arm und zog ihn in das kleine muffige Tempelzimmer. Ich schloss die Tür hinter uns beiden und ging vor ihm in die Hocke. »Das ist sie nicht.« Mit grimmiger Entschlossenheit bettete ich meine Hände flach an sein Gesicht und zog seine Stirn hinab, bis sie meine berührte. Viel konnte ich nicht tun, um seine Sorgen abzuschwächen. Meine empathische Gabe hatte unter der Sorge gelitten, seit die Träume gekommen waren. Aber alles, was ich an Ruhe für ihn aufbringen konnte, floss wärmend in meine Fingerspitzen und sanft in seine Seele hinein. »Du darfst so nicht denken, hörst du? Ganz egal, was dir die Mönche sagen, was sie tuscheln, wenn du vorbeigehst, oder flüstern, wenn sie glauben, du wärst nicht in ihrer Nähe: Deine Bestimmung ist sicher nicht, in einem Hölleninferno zu enden. Du bist der Weltenwächter, Eyndor. Du bist ein Kind der Sterne. Deine Gabe ist Leben, und nicht Tod. Und du wirst nicht in einem meiner Träume sterben, hast du verstanden?«
Er nickte. Meine Bemühungen fruchteten. Die nackte Angst war verschwunden, nicht jedoch die Fragen, die ihn bewegten. Aber hatte er mich wirklich verstanden? Wie konnte ein Kind begreifen, dass sein Leben von Geburt an nicht ihm gehörte? Dass es seine Bestimmung war, einer Kreatur gegenüberzutreten, die kein Sterblicher je besiegen konnte? Eyndor wusste von den Dingen, die vor ihm lagen. Von dem Pfad, den er als vorherbestimmter Retter seiner Welt beschreiten sollte. Und doch - konnte ein Kind tatsächlich erfassen, was diese Worte bedeuteten? Krieg war ihm fremd. Bis auf die Feuersäulen, die gelegentlich den blauen Himmel teilten und die beunruhigende Kunde aus den fernen Regionen Andheras, wusste er nichts von den Kämpfen, der Bedrohung und den Schrecken, während der Rest der Welt starb.
Hastig umfing ich ihn mit den Armen und drückte ihn an meine Brust. »Ich werde nicht gehen, in Ordnung? Wir packen meine Sachen zusammen wieder aus und dann gehen wir in die Bibliothek. Wenn wir beide schon kein Auge zumachen, können wir wenigstens etwas tun, das uns beiden Spaß macht. Was meinst du?«
»Also gehst du nicht fort?«
Ich schüttelte den Kopf, während ich ein wehmütiges Seufzen unterdrückte. »Nicht heute, nein.«
Und vermutlich auch nicht morgen und nicht übermorgen. Nicht, solange ein kleiner Junge mich brauchte, und die anderen Mönche gemein und hart zu ihm waren und ihn behandelten, wie einen Aussätzigen.
Aber eines Tages, beschloss ich, wenn Eyndor kein Kind mehr war und mir das Schicksal einen anderen, einen besseren Weg aufzeigte, dann würde ich gehen und weder dem Tempel noch dem Leben hier auch nur eine Träne nachweinen.