Vesna
Mit dem goldenen Licht der aufgehenden Sonne, verwarf sich der magische Schleier, der über der schlafenden Gestalt meines Begleiters lag, für einen Augenblick und die großen Rabenschwingen, die er für gewöhnlich verhüllte, zeigten sich glänzend und wunderschön. Ich genoss den Moment, so lange er dauerte. Hier, fernab der Anderen, durfte er einen Moment lang sein, was er war, ohne den Zwang, sich verkleiden zu müssen. Und er wusste es nicht einmal. Sein Schlaf war tief und todesähnlich, seine Atmung nur noch ein Hauch von Leben.
Sobald die Sonne ganz hinter den Hügeln aufstieg, gewann der Zauber an neuer Kraft und die Zeichen seiner Herkunft würden wieder verschwinden. Es stimmte mich traurig, seine Geheimnisse zu kennen. Das Leben war nicht gnädig zu ihm gewesen. Und strenggenommen auch nicht zu mir.
Ich verwarf den Gedanken, als sich der Feuerball aus der Erde grub und sein reinigendes Licht auf den Kerub niederprasseln ließ. Mit einem Schlag brach der Zauber und die weit aufgefächerten Schwingen verblassten mehr und mehr, bis sie verschwunden waren. So wurde aus einem himmlischen Wesen ein einfacher Mann.
Dem ersten Feuerball folgte der Zweite. Andheras Sonnen bahnten sich ihren Weg hinauf in den Himmel, um die letzten dunklen Schleier der Nacht fortzujagen. Der Frühling hatte bereits eingesetzt, aber die Nächte waren kalt und der Frost saß mir schmerzend in den Knochen.
»Anders?«, raunte ich seinen Namen, streckte die Hand aus und berührte seine Schulter. Er zuckte nicht einmal. Mit einem tiefen Atemzug öffneten sich seine Augen. Er wirkte müde. »Steh auf«, fuhr ich fort. »Wir sind hier nicht sicher.«
Waren wir das jemals? Wirklich sicher? Während Isays Schreckensgestalten durch die Gegend streiften und Andhera von Elodia im Westen bis hin zur verbotenen Insel im Osten mit Feuer und Leid überzogen? Solange er lebte, waren wir niemals sicher. Und schon gar nicht hier. In Anders schwarzer Festung im Nordwesten des Landes, das auf einem Hügel thronte und von mächtigen Bannsprüchen und Zaubern umwoben war, verfielen wir gelegentlich einem trügerischen Gefühl von Zuflucht, aber wirklich sicher waren wir nie.
»Hast du gut geschlafen?«
Er setzte sich auf und streckte sich. »Wie ein Stein. Vielleicht tiefer.«
»Wie weit ist es noch?«
»Ein paar Stunden Richtung Süden. Wir werden die Enden des Windetals umgehen. Der Weg dauert etwas länger, aber ich will uns und den Pferden den eisigen Gebirgswind ersparen.«
»Und Elodia«, vermutete ich.
Die Hafenstadt war nicht dafür bekannt, Fremden gern ihr Lächeln zu zeigen. Sie bleckte die Zähne und nicht selten kamen Reisende auf der Suche nach einem Schlafplatz dort ums Leben.
»Elodia interessiert mich nicht«, wehrte der Krähenprinz ab, während er sich aufrichtete, seine Decke schüttelte und umgehend wieder zusammenrollte. »Mich interessiert nur das Kind.«
»Er lebt in einem Tempel, sagtest du?« Ich tat es ihm gleich, weckte das Pferd und verstaute die Decke in der Tasche.
»Das sagte ich wohl.«
Seine seltsame Verschlossenheit ärgerte mich, aber ich schlang meinen Frust hinunter und reckte das Gesicht den Sonnen entgegen. Dass ich selbst seiner Meinung war und überhaupt nichts dagegen hatte, den schneidenden Gebirgswind zu umgehen, behielt ich für mich. So wie er die Wahrheit über unsere heimliche Mission.
»Wieso bin ich hier?«, murmelte ich.
Das Lächeln auf seinen Lippen ließ mich erahnen, dass ich endlich gelernt hatte, die richtigen Fragen zu stellen. In den letzten Stunden der Nacht hatte ich lange und viel über seine Worte nachgegrübelt und war zu dem Schluss gekommen, dass er sicher wusste, was er tat. Wenn ihm Das Universum eingeimpft hatte, es war wichtig, den Jungen aufzusuchen, wollte ich nicht zwischen ihm und seiner Bestimmung stehen. Strenggenommen durfte ich das auch nicht.
»Ich will, dass du den Jungen ansiehst«, gestand Anders mit sanfter Stimme, während er aus seinem Reisebeutel zwei Äpfel zog. In einen davon biss er herzhaft hinein und warf mir den anderen zu. »Ich will sein Schicksal erfahren, und nur du kannst mir zeigen, wozu er bestimmt ist.«
Es war nicht ungewöhnlich, dass Anders mich bat, meine Gabe einzusetzen, um Informationen zu erhalten, aber es war das erste Mal, dass er mich darum bei einem Kind bat und jemandem, den er überhaupt nicht kannte.
»Könnte er zum Problem werden? Wenn ich vielleicht ein einfaches, unschuldiges Kind töten muss, wäre ich gern vorbereitet.«
Ein sanftes Lachen entwich seiner Kehle. »Oh, er ist keinesfalls ein gewöhnliches Kind. Er ist
der Weltenhüter.«
Ich verschluckte mich beinahe an seinen Worten. Zäh glitt das Apfelstück, das ich gerade abgebissen hatte, meine Kehle hinunter. »Der Weltenhüter?«
Solange ich an seiner Seite stand, wusste ich, dass er auf der Suche nach dem Weltenhüter war; einer Kreatur, die die Götter Andheras erschaffen hatten, um einen Gegenspieler auf das Feld zu schicken. Jemanden, der Isay Einhalt gebieten konnte.
Der Kerub nickte.
»Du hast ein ganzes Jahrzehnt nach ihm gesucht«, erinnerte ich ihn. »Wieso denkst du, dass du ihn jetzt gefunden hast? Du sagtest, dass-«
»Ich ihn nicht spüren kann«, beendete er ihren Satz. »Ja, ich weiß. Aber alles hat sich geändert. Ich konnte ihn nicht fühlen, weil er ein Kind war und seine Gabe noch nicht stark genug. Doch seit ein paar Nächten spüre ich eine Kräfteverschiebung. Isays Macht schwindet. Es ist unmöglich, dass ich mich irre. Nicht diesmal.«
Nicht diesmal erinnerte mich nachdrücklich daran, dass er schon einmal felsenfest davon überzeugt gewesen war, den sagenumwobenen Weltenhüter gefunden zu haben. Und beim letzten Mal führte uns eine beschwerliche Reise geradewegs in eine von Isay aufgestellte Falle, aus der lediglich wir Zwei entkommen konnten. Die zehn Krieger, die uns begleiteten, fielen. Nach diesem schrecklichen Vorfall hatte er sich geschworen, die Suche einzustellen.
»Und du bist wirklich sicher diesmal?« Es gelang mir nicht, alle Zweifel zu verbergen. Beim letzten Mal waren wir nur durch einen Zufall entkommen. Und er - und ich - wir hätten ebenso sterben können, als eine Schar Dämonen aus den Schatten einer Höhle kroch und die Männer schlachteten, wie Vieh.
Lächelnd nickte er. »Ja, ich bin sicher.«
Er wirkte frei, während er antwortete. Vielleicht freier als je zuvor. Wenn es wahr war, wenn endlich jemand das Feld betrat, der seinem Gegenspieler Isay endlich das Handwerk legen konnte, trat Frieden in greifbare Nähe. Das, worauf er seit Jahrhunderten so sehnlichst wartete, schien plötzlich zum Greifen nahe. Und ich wünschte es ihm. Wirklich.
In meiner Brust erhoben sich gemischte Gefühle. Ja, ich wollte, dass es endete. Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als Frieden für ihn und Andhera, aber was wurde aus mir, wenn wir diesen paradiesischen Zustand wirklich erreichen konnten? Schickte Anders mich zurück zu meiner Mutter? Würde er mich dann noch brauchen?
»Vesna«, sagte er und legte mir eine Hand auf die Schulter. Diese simple, allzu menschliche Geste riss mich mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück. Hier ging es nicht um mich, und ich durfte nicht egoistisch sein. »Ich würde dich niemals fortschicken.«
Ein müdes Grinsen spannte meine Gesichtsmuskeln bis zu den Ohren hinauf an. »Sind meine Sorgen denn so offensichtlich?«
»Ich kann in deinen Augen lesen, wie in einem Buch. Den Weltenhüter ausfindig zu machen, ändert nichts. Im Gegenteil: Es wird deine Aufgabe sein, dich seiner anzunehmen. Du wirst ihm beibringen, was er wissen muss, ihn lehren, was keiner sonst ihm zeigen kann und ihn vorbereiten.«
Verblüfft riss ich die Augen auf. »Ich? Und was wirst du tun?«
»Ihn nach allen Kräften vor Isay beschützen, so lange ich kann.«
Der Anflug des Lächelns, das sein Gesicht erobern wollte, verflog so schnell, wie es gekommen war. Er würde sterben für den Versuch. Sterben für eine Welt, die nicht seine war. Nur, weil er sich schuldig fühlte. Ich verstand ihn. An seiner Stelle wäre es mir nicht anders ergangen.
Ich tätschelte dem Pferd den Hals. »Das wird die Dynamik dieses Krieges verändern«, entschied ich, so laut, dass er mich hören musste. »Isay wird noch verbissener versuchen, dir Steine in den Weg zu legen.«
»Ich weiß.« Mit einem Ruck saß er auf. »Und ich bin bereit. Lass uns keine Zeit verlieren.«
Obwohl meine Knochen noch vom Vortag schmerzten, tat ich es ihm gleich und schwang mich auf den Rücken des Pferdes. Am Ende des Tages würde ich bereuen, ihm so bereitwillig gefolgt zu sein. Der Pfad, der das Windetal umgab, war felsig und karg. Er bot wenig Abwechslung und noch weniger Schutz. Feinde, die sich vom Gebirge her näherten, würden uns meilenweit sehen können. Eine Flucht schien unmöglich.
Es wurde Mittag, bis wir uns die erste Rast gönnten. Mit den Umrissen der mächtigen Berge vor uns ließen wir uns nieder. Hastig verspeisten wir die karge Mahlzeit, die wir mitgebracht hatten, ließen die Pferde trinken und stillten unseren eigenen Durst. Erschöpft und angespannt schwiegen wir die meiste Zeit über. Nun, da ich wusste, was auf dem Spiel stand, empfand ich es nicht mehr als Bürde, diese Reise mit ihm antreten zu müssen, sondern als Ehre. Anders vertraute mir. Die letzten fünfzehn Jahre, die ich bereits an seiner Seite verweilte und älter und weiser wurde, während er sich überhaupt nicht veränderte, hatten ein Band des Vertrauens zwischen uns entstehen lassen, das sich mit jedem Tag weiter festigte. Ich hätte ihm mein Leben anvertraut, jederzeit, und er mir mit Sicherheit seines.
Als ich diesen Gedanken mit geschlossenen Augen zum Himmel hinauf sandte, dachte ich, dieser Zustand würde ewig andauern. Ich wusste, nein, ich ahnte nicht einmal, dass sich im Laufe des Tages bereits alles ändern würde.
Schon wenige Minuten, nachdem wir unser dürftiges Mahl beendet hatten, saßen wir wieder im Sattel. Hügel, karge Bäume, Sträucher und Wolkenberge, die die Gipfel der Berge unter sich begruben, zogen an uns vorüber. Wir flohen durch das Land wie Schatten. Und mehr waren wir auch nicht.
Erst, als es dämmerte, ließen wir die Gebirgskette hinter uns zurück, und mit dem Aufstreben der stählernen Mondscheibe, tauchten wir in den Schutz des Waldes ein, der Elodia vom wilden Teil des Landstrichs trennte. Vom Meer her wehte der Wind wärmer, mischte sich mit den eisigen Strömen, die aus den Bergen sickerten. Die salzige Luft machte mich schläfriger, als ich zugeben wollte.
Anders hatte sich geirrt, was unsere Reisezeit anbelangte. Der karge Pfad, vorbei an den Bergen, hatte uns Zeit gekostet. Mehr Zeit als beabsichtigt. Insgeheim hoffte ich, dass wir abermals rasten, und unsere Reise am Folgetag fortsetzen würden. Aber der Krähenprinz wischte meine Hoffnung fort, und nachdem der Mond seinen höchsten Punkt erreicht hatte, tauchte der Umriss des Tempels vor uns auf.
Angesichts der naturbelassenen Umgebung wirkte das steinerne Gebilde wie ein Fremdkörper auf Andheras ebenmäßiger Oberfläche. Der ganze Komplex stellte ein sechseckiges Gebilde auf dem Buckel eines Hügels dar. Zwischen riesigen Säulen schimmerte Mondlicht hindurch.
»Wir sind da«, sagte Anders und ließ das Pferd am Fuße des Hügels innehalten.