Vesna
Mit erhobenem Schwert wanderte mein Blick zwischen dem Niedergestreckten und dem verängstigt dreinblickenden Jungen hin und her. Verblüfft und entgeistert ließ ich langsam die Waffe sinken und starrte ungläubig auf die bewusstlose Gestalt herab, die gerade keuchend und mit teuflisch weit aufgerissenen Augen aus dem Gebüsch gesprungen war.
War er ein Wahnsinniger? Hatte er den Verstand verloren?
Ich kniff angespannt die Augen zusammen und bemühte mich, mein Herz zur Ruhe zu zwingen, während mir tausend Gedanken durch den Kopf rauschten. Neben mir stand ein Kind. Ein kleiner, verschüchtert dreinblickender Junge von etwa zehn Jahren.
»Hat er versucht, dich zu entführen?«, fragte ich grimmig, ehe ich mit dem Stiefel nach der Gestalt am Boden tastete. Er regte sich nicht. Ich hob das Gesicht, musterte den Jungen. »Dein Name ist Eyndor, nicht wahr?«
Er rührte sich nicht, und ich wusste längst, dass ich aus seinen versiegelten Lippen kein Wort herausbekommen würde. So verwirrt, verängstigt und erstaunt, wie er seinen Begleiter und mich anstarrte, war ihr Vorhaben keinesfalls eine Entführung gewesen. Sondern viel mehr ein verzweifelter Versuch, in die Freiheit zu entwischen. Und ich hatte ihn vereitelt.
Mit grimmigem Lächeln schob ich das Schwert in die Scheide zurück und hob vielsagend beide Hände auf Augenhöhe. »Wie ist sein Name?«, fuhr ich fort, und als der Kleine nicht die geringste Anstalt machte, zu antworten, sagte ich: »Ist er ein Mönch? Ein Priester?«
Der Junge musterte mich hilflos. Immer wieder driftete sein Blick ab und streifte seinen Freund. Als er schließlich: »Tharin«, sagte, fuhr ich beinahe zusammen vor Schreck. »Das ist sein Name.«
»Und wohin wollte er mit dir gehen, Eyndor?«
»In den Wald.«
Mit einer Geste wies er dorthin, wo die Baumreihen begannen und beantwortete sogleich die zweite Frage, die mir Herzklopfen bescherte. Vor mir stand der Hüter Andheras.
Ich runzelte die Stirn, ging in die Hocke und berührte den Fremden - Tharin - flüchtig an der Schulter. Er regte sich nicht. Mein Schlag, der grobe Hieb meines Schwertgriffs gegen seine Schläfe, hatte ihn vollständig außer Gefecht gesetzt. Ein kleines Blutrinnsal verschorfe bereits an seinem Haaransatz.
»Ist er tot?«
Die unverblümte und betroffen klingende Frage des Jungen versetzte meinem Herzen einen Stoß. Erst fragen und dann zuschlagen, das hatte Anders mich gelehrt. Er würde nicht stolz auf mich sein, selbst wenn ich den Jungen gefunden hatte. Doch meine eigene Sorge war zweitrangig in diesem Moment. Hier ging es um Eyndor. Er würde uns begleiten müssen und ich wollte keinesfalls, dass unsere erste Begegnung noch desaströser endete, als sie begonnen hatte.
Falls das überhaupt möglich war.
»Nein«, antwortete ich ihm ruhig.
»Du hast ihm wehgetan.«
In seiner Stimme lag etwas grotesk Kaltes. Etwas, das mich frösteln ließ. Er war nur ein Kind, aber seine Worte glichen rasiermesserscharfen Pfeilspitzen. Jedes Wort ein Treffer.
»Mein Name ist Vesna.« Ich kniete vor dem Fremden, während mein Blick allein dem Jungen galt.
»Hast du ihn mitgebracht?«, fragte Eyndor nüchtern.
»Wen?«
»Den Schwarzen Engel.«
Er sprach die Worte leise und mit Bedacht. Und beantwortete damit abermals eine Frage, die ich ihm nicht stellen wollte. Offenbar wusste er genau, wer wir waren. Aber wusste er auch, weshalb wir kamen?
Ich nickte. »Er ist in den Tempel gegangen.«
»Werdet ihr mich mitnehmen?«
Wieder nickte ich.
»Was wird aus Tharin?«
»Wir brauchen ihn nicht«, entschied ich so sanft es mir möglich war.
»Dann wird er getötet?«
»Nein«, sagte ich kopfschüttelnd. »Jedenfalls nicht von mir. Nicht von ihm.«
»Wenn er hierbleibt, werden ihn die Mönche des Hochverrats bezichtigen. Und töten oder wegsperren. In diesem Falle ist es egal, ob du das Schwert schwingst, oder jemand anders. Du tötest ihn«, entschied er und hob das Kinn so stolz, dass ich beinahe sein wahres Alter vergaß. »Und er lässt es zu.«
Auch ohne, dass er einen Namen nannte, wusste ich sofort, wen er meinte. Anders. Gestattete er den Mönchen, diesen Verräter anständig zu bestrafen, lief er Gefahr, Eyndors Sympathie für alle Zeiten zu verlieren. Was dann drohte, war ein altes Lied: Ein zum Helden bestimmter junger Mensch, der sich missverstanden und verraten fühlte, drohte schnell selbst zur Gefahr zu werden.
»Das.. wird er nicht«, entschied ich und bereute es auf der Stelle. Einen Hochverräter in Schutz nehmen, reizte sämtliche Macht aus, die Anders mir im Laufe der Zeit verliehen hatte. »Ich verspreche dir, dass deinem Freund kein Haar gekrümmt wird. Du kannst uns vertrauen.«
Das Gesicht des Jungen wurde freundlicher, während er mich anstarrte, als hätte ich ihm ein Geschenk gemacht. Ich setzte ein erleichtertes Lächeln auf. Das Eis brach. Schon stand er ein wenig mehr auf unserer Seite, als auf Isays. Auch wenn Anders mir den Hals umdrehen würde.
Er verabscheute kaum etwas so sehr, wie der eigenen Entscheidungen beraubt zu werden. Und genau das tat ich hier. In Erwartung seines Zorns seufzte ich angespannt.
Das würde ein langer Ritt nach Hause werden, gesäumt mit Schweigen und Unbehagen.
Ich wandte den Blick von Eyndor ab und zum Tempel hinauf, der ein Stück den Hügel hinauf lag. Gerade, als ich ihn genauer betrachten wollte, strömten Mönche, Priester und Priesterinnen heraus, wie die Fliegen. Stimmen wurden laut, Gliedmaßen bewegten sich zuckend, Blicke wanderten verzweifelt umher und ich konnte ein Grinsen kaum unterdrücken, als Anders grimmig durch die Tore ins Freie trat und an meiner Seite den Jungen stehen sah.
Auf einen Schlag fiel die grimmige Starre aus seinen Zügen. Er stieß einen der Mönche zurück und schritt auf uns zu, während die Mönche bei unserem Anblick nur noch unruhiger zu werden schienen. Schließlich hatten sie Andheras wertvollsten Besitz verloren. Gerade dann, als Isays Erzfeind und größter Hoffnungsträger der sterblichen Welt kam, um ihn sich anzusehen.
Unter seinem grauenhaften Ruf genoss Anders das Privileg der Macht. Jeder, der ihm einmal gegenübergestanden hatte, wusste, dass er, und nur er, in Wahrheit das magische Zentrum der Welt war. Nicht Isay, nicht die Nachwehen der sterbenden Götter in den Winden des Skarjetals, nein, er, ein Krieger aus Fleisch und Blut.
Eyndor folgte meinem Blick und versteifte sich, als er den Kerub den Hügel hinabschreiten sah. Seine kindlichen Augen sagten so viel mehr, als Worte konnten. Ja, er fürchtete sich. Mehr, als er zugeben wollte. Doch man hatte ihn sein Leben lang auf diesen Tag vorbereitet und er wusste, was ihn erwartete. Ein Kind mit einem Schicksal, doppelt so groß, wie es selbst.
Ein Hauch von Trauer durchwehte meine Glieder. Tief in mir wusste ich genau, was er empfand. Als ich im Kindesalter auf Anders getroffen war, und das Schicksal mich sofort umfing, war ich wütend, traurig und unvorbereitet. Ich wusste, dass es ehrenhaft war, dass die Götter mir eine wichtige Aufgabe stellten, und ich stolz und ehrfürchtig diesen Pfad beschreiten sollte, aber insgeheim war ich wütend. Mein Leben hätte völlig anders verlaufen sollen. Hinter mir stand ein Thron. Ich hätte eine Familie und Kinder haben können, eine Familie. Aber das Schicksal hatte nur ein wenig Glück für mich vorgesehen: das, was ich empfand, wenn ich in seine Augen blickte.
Ich senkte den Blick, als der Krähenprinz näher kam, aus Angst, meine Augen würden meine Gefühle verraten und legte eine Hand auf die Schulter des Jungen. Auf den letzten Metern verlangsamte Anders seine Schritte, und blieb etwa zwei Meter vor uns beiden stehen. Ehrfürchtig musterte er den Jungen von oben bis unten. Die bewusstlose Kreatur an meiner Seite streifte er nur flüchtig. Dann knickten seine Knie ein. Er ging in die Hocke und streckte die Hände aus, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Eine einladende, sanfte Geste, die weder zu seinem harten Gesicht, noch seiner schwarzen Gestalt passen wollte. In seinen Augen brannte ein Feuer, heller und wilder als je zuvor. Ein Hauch von Schicksal umwehte ihn.
Einen Blick wie diesen hatte ich nie zuvor gesehen. Entschlossen und stark, wissend und schicksalhaft. Zwei Giganten des Schicksals, verbunden durch das Leid der Welt und den Schimmer einer nahenden Hoffnung. Ein stolzer Krieger, der für ein Kind kniete und ein kleiner Junge, der das Weltengefüge zu Fall bringen konnte.
Es war mir unbegreiflich, was sie empfinden mochten. Dieses erste Aufeinandertreffen stellte die Weichen für die Zukunft Andheras. Für ihrer beider Überleben.
Ich hielt den Atem an und betrachtete sie. Sanftheit legte sich über diese bizarre Szene. Anders Zorn, den seine Gestalt ausgestrahlt hatte, als er aus dem Tempel gekommen war, verrauchte. Nun dominierte Ehrfurcht sein Gesicht und.. Ruhe?
Vielleicht zum allerersten Mal in meinem Leben, sah ich Frieden seine Sorgenfalten glätten.
»Ich habe keine Angst vor dir«, flüsterte Eyndor in den Wind und näherte sich dem knienden Engel, dessen Schwingen bis zu jenem Moment verborgen waren, bis der Junge den Schleier durchquerte. Wie eine Pflanze, die Blätter und Äste streckte und dehnte, sprossen Federn aus dem Rücken des Krähenprinzen und reckten sich dem Licht entgegen. Eyndors Gesicht zeigte keinerlei Erstaunen. »Immer noch nicht.«
»Eyndor.« Anders schmunzelte. »Vesna hast du bereits kennengelernt, wie ich sehe?«
Der Junge blickte zu mir auf. »Du hast es versprochen«, erinnerte er mich fordernd und ich seufzte abermals.
»Ich habe es nicht vergessen.«
»Mh.« Anders Blick wechselte zwischen und beiden hin und her. »Haben fünf Minuten ausgereicht, um euch Pläne hinter meinem Rücken schmieden zu lassen? Und wer ist das?«
»Tharin.« Mit einem Schritt überbrückte der Junge die letzten Schritte zwischen ihnen und gestattete dem Kerub, die Hände an sein Gesicht zu legen. »Er hat es für mich getan.«
»Und deshalb werden wir ihn nicht bestrafen.« Ich musterte den Krähenprinzen vielsagend. »So ist es doch, nicht wahr? Schließlich war es keine Entführung. Tharin wollte lediglich helfen.«
Mit einem Schlag verfinsterte sich die Miene des Kerubs wieder. Während sich seine Augenbrauen zusammenzogen, sah ich ihm an, wie unbefriedigend meine Worte für ihn waren. Da war ein Mann, der versucht hatte, den Hüter zu verschleppen, und um seinetwillen war es nötig, ihn ungeschoren davonkommen zu lassen. Ein Sieg, der ihm verwehrt wurde, eine Schlacht, die er nicht schlagen konnte. In diesem Moment wurde er dazu gezwungen, Gnade walten zu lassen, und dieser Zug entsprach ganz und gar nicht seinem Wesen.
»Natürlich«, knirschte er. »Vesna, würdest du dich um ihn kümmern? Eyndor und ich brauchen einen Augenblick für uns.« Er nahm die Hand des Jungen und richtete sich auf. Eyndors Augen glänzten. Er schien nun nicht mehr nur noch unerfreut, sondern auch ein wenig stolz.
»Werde ich in deinem Schloss leben?«, fragte der Junge aufgeregt. Seine Stimme wurde leiser, als sie gegen den Wind in Richtung des Tempels davonschritten.
»Das wirst du. Ich verspreche dir, dass alles fortan besser wird für dich.«
Nachdem der Wind ihre letzten Worte verschlungen hatte, ließ ich mich neben dem niedergestreckten Fremden in die Hocke gehen und drehte ihn herum. Unter langen pechschwarzen Haaren, etwas tiefer als bis zur Schulter, die teilweise zu daumendicken Zöpfen geflochten waren, lag ein sanftes Gesicht. Seine Züge waren weich. Weder Krieg, noch Hass hatten sie je zerfurchtet und erfrieren lassen. Ein weiches, gutes Herz klopfte ebenmäßig in seiner Brust. Tharin. Ich senkte die Finger, um nach seinem Puls zu tasten und hielt inne.
Gab ich dem Drängen nach, erwachte möglicherweise meine Gabe. Und wollte ich wirklich wissen, wer er war, welche Wendungen sein Leben nehmen und wo er sterben würde? Wollte ich mit einem Blick sein ganzes Leben vor mir ausgebreitet sehen und ein Teil seines Schicksals werden?
Ich zog die Hand zurück. Nein, das wollte ich nicht. Einer der Gründe, weshalb ich auch Eyndor nicht berührt hatte. Und ich würde es auch nicht tun, erst, wenn Anders mir den ausdrücklichen Befehl dazu gab. Erst, wenn-
Der Mann vor mir bewegte sich stöhnend. Ich hielt den Atem an und beschloss zu spät, zurückzuweichen. Schon klappten seine Augen auf, seine Hand schoss in die Höhe und umklammerte panisch mein Handgelenk.
Unsere Blicke trafen sich, Augen verschmolzen, die Welt verebbte.