Kapitel 8
Ich riss mich abrupt von ihm weg.
>>Oh mein Gott<<, sagte ich, als ich erkannte, dass Celeste bestimmt schon seit Stunden auf mein kommen wartete.
>>Du kannst mich ruhig Evan nennen<<, grinste er, seine Augen glühten und strahlten Wärme aus. Ich konnte doch nicht jetzt einfach gehen; er würde bestimmt denken, dass ich wieder Panik bekam und von ihm weg wollte, dabei steckte doch ein ganz anderer Grund dahinter.
>>Was ist los?<<, fragte er besorgt. Er fuhr sich unsicher mit der Hand durch die Haare. >>War es so schlimm?<<
>>Nein! Nein.<<, widersprach ich. >>Auf gar keinen Fall. Es war... es war... mir fehlen einfach die Worte<<, ich konnte kaum einen vernünftigen Satz raus bringen. Hoffentlich dachte er nicht, dass es mir nicht gefallen hatte. >>Es war wunderbar unbeschreiblich<<, antwortete ich wahrheitsgemäß.
>>Zum Glück weiß ich, dass du eine schlechte Lügnerin bist<<, fing er an. >>Weil ich mir so sicher sein kann, dass du gerade die Wahrheit sagst<<
Ich stand auf und wischte mir gleichzeitig mit zittrigen Fingern den Dreck von der Hose ab. Er tat es mir gleich.
Wie konnte ich Celeste einfach nur so sitzen lassen? Ich musste jetzt noch unbedingt zu ihr, und es irgendwie wieder gut machen...
>>Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen<<, meinte er, während er die Kamera abbaute. Wie viel Uhr war es denn überhaupt? Zehn?
>>Ich denke nur nach<<, sagte ich, als ich ihm half, das Stativ zusammenzufalten.
>>Scheint aber nichts sonderlich Erfreuliches zu sein<< Ich konnte ihm jetzt nicht die Laune vermiesen, vor allem, da die letzten Momente mit ihm so schön waren.
>>Es ist wirklich nicht wichtig<<
>>Wenn du reden willst, kannst du reden<< Ich beobachtete die Art, wie sich die Linien seines Mundes bewegten während er sprach. In mir kam unweigerlich der Wunsch auf, ihn wieder zu küssen. Und wieder. Und immer und immer wieder.
Ich lief Gefahr, der Versuchung nicht widerstehen zu können. Weg waren alle Erinnerungen, die meine Gedanken trüben konnten.
Den Kampf gegen mich selbst verlor ich, zugegebenermaßen ohne Widerstand, und lief zu ihm. Er sah so wunderschön aus, sogar mit seinen zerzausten Haaren und einer kleinen Spur von Erde auf seiner Nase.
Ich schaute ihm kurz ihn die Augen, um sicher zu sein, dass er mich nicht abweisen würde. Dann stellte ich mich auf meine Zehenspitzen, nahm sein Gesicht in meine Hände und küsste ihn. Er platzierte seine Hände auf meiner Taille, sanft und forschend, und ich drückte mich näher an ihn, sodass nicht einmal ein Windzug zwischen unsere Körper passieren könnte. Unsere Münder bewegten sich im perfekten Einklang, und ich lief Gefahr, mich selbst und jegliches Zeit- und Orientierungsgefühl zu verlieren.
Irgendwann wanderten meine Hände wie von alleine zu seinen Haaren, und als ich mich kurz von ihm löste, um nach Luft zu schnappen, sahen sie einem Vogelnest nicht unähnlich. Ich versuchte, sie wieder in Ordnung zu bringen, doch ich gab auf, denn sie sahen fast noch unordentlicher aus als zuvor. Er grinste mich mit seinem typischen schiefen Lächeln an, welches mich sofort wieder einlud, meine Lippen auf seine zu pressen, was ich auch tat.
Etwas später stapften wir gemeinsam den Wald wieder hinunter; während des Gehens streifte seine Hand des öfteren meine. An der Stelle seiner Berührung kribbelte es warm. >>Sag mal, kann es sein, dass du meine Hand halten willst?<<, zog ich ihn auf. Er schnaufte, nahm meine Hand als wäre das natürlichste auf der Welt und sagte >>Erwischt<<.
Etwas später hatten wir uns verabschiedet, und mein Hochgefühl wurde langsam aber sicher von Schuldgefühlen überschattet. Ich konnte nicht fassen, dass ich Celeste tatsächlich vergessen hatte. Ich hastete zur Garage und holte mein Fahrrad heraus, denn so würde ich sie schneller erreichen. Ein aufgeregtes Kribbeln machte sich in meinem Bauch breit.
Evan hatte mich tatsächlich geküsst. Ich hatte ihn tatsächlich geküsst – und er hatte es erwidert. Ich konnte es kaum fassen. Mir kam das alles wie ein einziger, unglaublich schöner Traum vor.
Bei dem Supermarkt, der am nächsten bei Celeste war, machte ich einen kurzen Halt. Ich konnte von Glück reden, dass er um die späte Uhrzeit noch geöffnet hatte. Suchend hastete ich durch die Gänge, darauf erpicht, das zu finden, was Celeste am liebsten mag: Ben & Jerry's Eis!
Bald hatte ich es auch schon gefunden, und war wieder auf dem Weg zu ihr. Ich hoffte nur, dass sie nicht arg sauer war, was ich aber auch verstehen konnte. Celeste wohnte im Erdgeschoss eines großen Hauses mit griechischen Vibes. Die Türen und Fenster waren in einem Blaubeerton gestrichen, die Hauswand dagegen besaß ein schlichtes weiß.
Nur in dem Zimmer meiner besten Freundin leuchtete eine kleine Lampe, was mich freute, denn das hieß, dass sie noch nicht schlief.
Ich stellte mein Fahrrad im Hinterhof des Hauses ab, dann lief ich zu ihrem Zimmer und klopfte an das Fenster. Ihre Silhouette erschien, ich konnte zwar ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber ich war mir fast sicher, dass sie eine Augenbraue nach oben gezogen hatte; wie immer wenn sie sauer war. Hoffentlich würde sie mich nicht hier draußen stehen lassen, denn es war echt kalt.
Sie schob die Fensterscheibe hoch, sodass ich rein klettern konnte.
Zuerst stieg ich mit einem Bein über die Kante, dann mit dem anderen. Die Tatsache, dass ich ziemlich klein war, erleichterte es mir auch nicht gerade.
>>Lilly, was machst du denn hier, es ist halb 12<< Sie gähnte und rieb sich verschlafen die Augen. Ups, also war sie doch schon am Schlafen gewesen. Ihre Stimme war nasal und kratzig, sie klang echt angeschlagen. Sie trug ihren niedlichen Pyjama mit den kleinen Bärchen drauf, den sie von ihren Eltern zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, als sie 13 war.
Ich holte aus meiner Tasche das Eis raus und hielt es in den Händen, als wäre es ein Schatz.
>>Ich hab dir was mitgebracht<<, sagte ich entschuldigend. Sie verschränkte die Arme vor ihrem Oberkörper.
>>Und du meinst wirklich, dass mich ein Eis dazu bringen wird, nicht mehr sauer auf dich zu sein?<< Celeste schaute mich abwartend an.
>>Es ist Cookie Dough.<<
>>Bin gleich wieder da<< Sie schlich sich raus aus ihrem Zimmer, und ich setzte mich schon mal auf ihr Bett. Kurze Zeit später kam sie wieder rein, zwei große Löffel in der Hand haltend und setzte sich neben mich aufs Bett. Mir fiel ein Stein vom Herzen, dass sie offensichtlich nicht mehr sauer war.
>>Wieso um Himmels Willen bist du noch so spät wach, vor allem noch unterwegs! Was hast du dir dabei gedacht, ich...<< sie stoppte, und verzog ihr Gesicht. Dann nieste sie, während ich gleichzeitig leiste sagte:
>>Ich habe jemanden kennengelernt<< Aus irgendeinem Grund hörte sie es trotzdem.
>>Du hast jemanden kennengelernt? Wie? Um halb 12 nachts?<< Ich musste mir ein Lächeln verkneifen, währendem sie laut in ein Taschentuch schnäuzte. Dass ihre Familie durch diesen Lärm nicht wach wurde, konnte ich beim besten Willen nicht verstehen.
>>Er heißt Evan er ist ein bisschen älter als wir ich kenne ihn seit einer Woche er hat braune Augen und braune Haare er studiert ist gebildet schlau und einfühlsam und er hat mich heute Abend geküsst<<, ich beendete meinen Wortschwall ohne Punkt und Komma und stopfte mir gleich darauf einen großen Löffel Eis in den Mund. Ihr Mund war zu einem großen 'O' geformt, als ich fertig war mit meiner wirklich sehr kurzen und hektischen Zusammenfassung.
Das einzige, was sie rausbringen konnte, war ein nasales >>Wow!<< Sie machte eine kurze Pause. >>Küsst er gut?<< Ich lachte laut auf, war aber froh, dass sie es mir nicht übel nahm, dass ich ihr noch nichts von Evan erzählt hatte.
>>Ernsthaft, Celeste? Du hättest so um die 1000 Fragen stellen können, und entscheidest dich ausgerechnet für diese?<< Das brachte sie nun auch zum Lachen.
>>Na hör mal, das ist die wichtigste Frage<<, meinte sie prustend und mit vollem Mund.
>>Die Wichtigste? Wie wäre es mit 'Bist du glücklich mit ihm Lily?'<<, schlug ich vor.
>>Nah. Die Frage schafft es auf der Wichtigkeitsskala nur auf Platz drei.<<
>>Was sind dann Platz eins und zwei?<< Sie lächelte süffisant.
>>Platz zwei habe ich dich gerade eben gefragt und Platz eins kannst du noch nicht wissen<< Ich schlug mir die Hände vors Gesicht.
>>Celeste, du bist schrecklich<<, sagte ich, woraufhin meine beste Freundin maliziös lachte, wie ein Superbösewicht. Ihr schien es psychisch viel besser zu gehen, was meine Abneigung gegen Tony aber nicht linderte.
>>Und falls du es wirklich wissen möchtest: Er küsst nicht nur gut, sondern unheimlich gut. Evan küsst so gut, dass ich wie Schokolade an einem heißen Sommertag dahinschmelze wenn er mich küsst<<
>>Ohooo, das hast du jetzt aber wirklich schön formuliert.<<
>>Die Worte kamen auch direkt aus meinem Herzen<<, witzelte ich.
>>Würdest du sagen, dass du schon in ihn verliebt bist? Erzähl mir doch mal genauer alles! Du weißt, wie sehr ich nach Details verrückt bin. Wie habt ihr euch kennengelernt?<< Es war nur noch wenig Cookie Dough übrig, den ich ihr aber überließ. Dankbar schaute sie mich an, und schaufelte sich dann den Rest in den Magen.
>>Also zuallererst: Ich habe keine Ahnung ob ich in ihn verliebt bin. Rein vom Gefühl her würde ich noch nicht sagen. Ich kenne ihn ja kaum. Es kann ja sein, dass er auch so einer ist wie Finn...<< Sie schüttelte sofort vehement den Kopf , was lustig aussah, denn ihr ganzer Mund war mit Eis verschmiert.
>>Lily, du weißt, dass Finn eine Ausnahme war. Der ist einfach ein Vollarsch, nicht jeder Junge ist so wie er.<< Bei dem Gedanken, dass Evan mich auch verlassen könnte, wenn er meine Narben sieht, zog sich mein Herz zusammen. Überhaupt, was hieß verlassen? Nur weil er mich geküsst hatte und wir Händchen gehalten hatten, waren wir noch nicht automatisch zusammen. Oder?
>>Jetzt beantworte mal meine anderen Fragen! Und jetzt noch mal: Wie habt ihr euch denn kennengelernt?<< Ich ließ mich auf den Rücken fallen.
>>Ich hab ihn in der Bücherei kennengelernt, indem ich Kaffee auf ihn geschüttet habe.<< Sie prustete los.
>>Das kann auch echt nur dir passieren! Und wie ging es weiter?<< Und so erzählte ich Celeste alles, vom ersten Treffen, das Gedicht, das er mir geschrieben hatte, bis hin zu dem Kuss von heute. Während meiner Erzählung quietschte sie immer mal wieder auf und kommentierte mit Ausrufen wie: >>Nein!<<, >>Wie süß ist das denn bitte?!<< oder >>Behalte ihn unbedingt!<<. Am Ende boxte sie mir fest auf den Arm. Ich schnappte empört nach Luft und rieb mit meiner Hand über die schmerzende Stelle >>Aua! Wofür war das denn?<<
>>Das war dafür, dass du mir nicht schon früher etwas erzählt hast.<<