Das Erste, was ich wahrnahm, waren die Geräusche von draußen. Ganz ohne Zweifel war unten auf der Cleveland Street schon reger Betrieb und das Klappern der Hufe sowie das Poltern der Räder auf dem Kopfsteinpflaster echote in meinem Kopf. Wo war ich bloß hineingeraten? Eine Antwort auf diese Frage konnte mein noch immer benebeltes Bewusstsein nicht formen. So versuchte ich ein Blinzeln. Erst nur zögerlich, denn schon ein wenig Licht in meinen Augen verursachte ein schmerzhaftes Zucken. Es war also bereits helllichter Tag. Ich hörte mich selbst ächzen und versuchte zu ertasten, was ich noch nicht zu sehen wagte. Zerwühlte Laken und ein schlafender Körper gleich neben mir, der sich kurz im Schlaf regte, bestätigten meine wiederkehrenden Erinnerungen: meine Freunde aus dem Club hatten mich überredet, mit ihnen in dieses berüchtigte Bordell zu gehen. Wie um alles in der Welt war ihnen das gelungen? Ich holte tief Luft und malte mir aus, wie der Butler im Haus meines Vaters mein Zimmer unbenutzt vorfand und diesen Umstand seinem Herrn, dem Earl erklären musste. Schon von klein auf hatte man mir beigebracht, dass Adel verpflichtet.
Unüberlegte Taten konnten dazu führen, dass am Ende ein anderer für etwas geradestehen musste. Diese Lektion hatte ich gelernt, nachdem mir als Knabe eine Porzellanfigur zerbrochen war. Anstatt es meiner Mutter zu sagen, hatte ich die Figur im Kamin versteckt. Erst als ich das Hausmädchen bitterlich weinen hörte, weil man sie des Diebstahls verdächtigte, wusste ich, was ich damit angerichtet hatte. Und jetzt das hier. Nun, wenigstens war ich inzwischen alt genug, um meinem Mann zu stehen und so außergewöhnlich war es nun doch wieder nicht, wenn ein Sohn über Nacht fortblieb, um sich irgendwo im Westend zu vergnügen. Meine Freunde taten so etwas öfter als sie sich zum Pool verabredeten. Für mich hatte es allerdings bisher keinen besonderen Reiz. Warum sollte es mich so brennend interessieren, meine sogenannte Unschuld zu verlieren? Warum sollte ich riskieren, was immer man riskierte, wenn man sich in solch ein Etablissement begab?
Ich verfluchte innerlich meine Schwäche, die mich hat nachgeben lassen. Ganz gewiss war es dem Champagner geschuldet, den wir am Kamin getrunken hatten, um auf meine Verlobung anzustoßen. Beinahe musste ich bei dem Gedanken lachen. Es war Champagner, kein Absinth. Und doch war ich nun hier.
Endlich schlug ich die Augen auf und blickte zuerst an die gegenüberliegende Wand, wo auf einem Kaminsims verschiedene Figuren von griechischen Göttern standen. Darüber hing ein Bild, offenbar die Kopie eines Rubens mit üppigen Frauengestalten, die sich in einer arkadischen Landschaft verlustierten. Ob ich mit so einer die Nacht verbracht hatte? Noch immer konnte ich mich daran nicht erinnern. Draußen ertönte mit einem Mal ein Lärm wie von zwei Pferdekarren, die ineinander fuhren, gefolgt von einem lauten Gezeter der Kutscher. Dies ließ die Gestalt neben mir sich drehen.
„Verdammt!“
Das eine Wort nur, halb erstickt von einem Kissen, ließ mich zusammenfahren. Es war ganz eindeutig die Stimme eines anderen Mannes neben mir in den Laken. Zu entsetzt, um einen klaren Gedanken zu fassen, rollte ich fluchtartig von ihm weg und landete unsanft vor dem Bett, das uns als Lager gedient hatte. Ich stöhnte laut auf, gleich darauf erschien er über mir an der Bettkannte. Was für ein Gesicht!
„Fuuuck, eure Lordschaft. Könnt Ihr nicht leise aus dem Bett fallen?!“
Zu Unrecht des Getöses unten vor dem Fenster beschuldigt, konnte ich nicht anders, als mich zu wehren.
„Mein Sturz, egal wie laut, geht dich gar nichts an, Bursche!“
„Ach nein? Ihr weckt das ganze Haus!“
Seine Worte enthielten ganz klar noch einen Vorwurf, aber auf seinem Rubensgesicht zeichnete sich ein freches Grinsen ab, das mich um Fassung ringen ließ.
„Das ist allein meine Sache, wen ich wecke und wann.“
Meine Antwort, ebenso belanglos wie belustigend, machte mich ärgerlich wie sie ihn noch mehr amüsierte.
„Ihr seid ganz schön neben Euch, my Lord.“
Verbal war die Sache für ihn damit offenbar erledigt und als Nächstes schwang er seine Beine aus dem Bett heraus und stand einfach auf. So wie er war. Vollkommen nackt. Vollkommen.
Ich dagegen begann zu begreifen, was geschehen war. Was ich getan hatte. Wir getan hatten.
Wie sollte es jetzt nur weitergehen?