Die Frau hielt gespannt ihre Hand über die Augen und blickte gegen den pfeifenden Wind in die Ferne. Irgendwo weit am Horizont ragte etwas auf, das sie nicht recht erkennen konnte. War es eine Siedlung der Menschen oder eine seltsame Felsformation? Die dunkle unförmige Masse wirkte unheilvoll, doch das mochte täuschen. Nach mehr als einem Mond auf der Flucht, wäre Siglinde eine menschliche Behausung sehr willkommen. Sie blickte neben sich, zu dem riesigen Wolf, der sie mit silbergrauen Augen fragend ansah. Auch er hatte das Gebilde am Streifen zwischen Himmel und Erde erspäht. Aufmunternd leckte er die andere Hand der Frau.
„Du findest, wir sollten es wagen?“, fragte sie und erwartete keine Antwort. Sigmund sprach nicht einmal in Menschengestalt viel. Wenn er der Wolf war, mussten ihr solche Gesten und seine Blicke genügen. Er ließ sie ohne weitere Umschweife aufsitzen und kaum hatte sie ihm die Arme um den starken Hals gelegt, da lief er auch schon los. Siglinde war inzwischen eine geübte Wolfsreiterin. Sie schmiegte sich dicht an und vertraute voll und ganz auf die Instinkte ihres Liebsten, der jeden Satz sicher einschätzte und in wildem Lauf auch das unwegsamste Gelände durchqueren konnte, gegen jede Widrigkeit. Schon schwang er sich über einen reißenden Fluss hinweg, indem er von einem aus dem Wasser ragenden Fels zum nächsten sprang, bis sie das andere Ufer erreicht hatten. Er schlug immer wieder Haken, um Dornen und Gestrüpp auszuweichen, wobei seine Pfoten auf dem Boden kaum Geräusche machten und nicht einmal ins Straucheln gerieten.
Siglinde duckte sich tiefer, legte ihren Kopf an den Hals des Werwolfs, dort, wo sie seinen Puls schlagen spürte. Im dichten Fell machte ihr der kalte Wind nichts aus, der um sie beide herum lärmte und an ihrem Umhang riss, als wolle er ihn rauben. Ein lautes ausgedehntes Heulen, lauter noch als das Tosen der Lüfte, verkündete die unbändige Freude Sigmunds an der rasenden Hatz. Und es wirkte ansteckend. Aus voller Kehle stimmte die Frau mit ein und ließ einen Jubelruf erklingen, der gemeinsam mit der Stimme des Wolfes über die Ebene schallte. Wenn dort am Ende der Welt Menschen lebten, in Höhlen oder Behausungen, dann konnten sie das Kommen des Paares vernehmen, lange bevor dieses den Horizont erreichte.
Als der Wolf seinen Lauf verlangsamte, erkannte Siglinde eine Ansammlung von Hütten, aus deren Abzügen der Rauch von Feuerstellen aufstieg. Es roch nach Holz und Essen. Vielleicht wären die Menschen hier gastfreundlich und würden sie für ein oder zwei Nächte aufnehmen, eine warme Herberge und Nahrung mit ihnen teilen. Sie saß ab und sogleich begann die Verwandlung ihres Liebsten. Sein Rücken bäumte sich auf, seine Glieder krachten, reckten und streckten sich. Das Wölfische verschwand, mit Fell und Schweif und Zähnen und das Menschliche formte sich zu dem, was Sigmund ebenfalls war. Der blonde Hüne mit dem silbernen Blick und dem starken Leib. Aus ihrem Bündel, das sie auf dem Rücken gebunden trug, reichte Siglinde ihm Kleidung, um sich zu bedecken und das Schwert seines Vaters, des grauen Wanderers.
„Also gehen wir dort hinein?“, fragte sie leise.
„Wir gehen. Du brauchst Ruhe für dich und das Ungeborene“, antwortete er sanft.
Ihr stockte kurz der Atem. Wie konnte er das nur wissen, wenn selbst sie es noch nicht bemerkt hatte?