Triggerwarnung: Erwähnung brutaler häuslicher Gewalt
Auf Socken, ganz langsam und vorsichtig, um ja kein Geräusch zu machen, schlich Kai durch den dunklen Flur zur Wohnungstür. Der Weg dorthin erschien ihm endlos und angstvoll malte er sich aus, was geschehen würde, wenn es ihm nicht gelänge, sie zu lautlos öffnen. Noch einen Wutaubruch Jörgs würde er vielleicht nicht überleben. Es grenzte sowieso an ein Wunder, dass der letzte Sturz nach hinten an die Fensterbank ihm nicht den Schädel gespalten hatte. Die Erinnerung daran ließ ihn schwindeln und er lehnte sich seitlich für einen Augenblick an die Wand. Nur jetzt nicht umfallen!
Als es wieder ging, richtete Kai seinen Blick fokussiert auf sein Ziel: die Tür. Nur noch wenige Schritte. Hinten im Schlafzimmer verriet sein Schnarchen, dass Jörg tief und fest schlief. Hoffentlich blieb es so. Doch, das wird es!, beruhigte sich Kai. Die Schläge erschöpfen ihn nicht weniger als mich! Als er die Garderobe erreicht hatte, griff Kai behutsam nach seiner Jacke. Er konnte nicht sicher sein, ob seine Geldbörse darin war, oder wenn ja, ob Jörg nicht das Geld herausgenommen hatte. Das war nur eine seiner Angewohnheiten, um Kai zu kontrollieren. Auch dieser Gedanke bereitete dem jungen Mann körperlich Schwindel und Übelkeit. Welch ein Wahnsinn, dass Jörg trotzdem, trotz allem, immer wieder von Liebe sprach. Seine Tränen der Reue hatten so echt gewirkt und vielleicht waren sie das auch. Doch damit war jetzt Schluss; wenn Kai die Tür durchquert hätte, dann wäre es vorbei. Endgültig. Endlich!
Wie in Zeitlupe schlüpfte Kai erst in den einen Ärmel, dann in den anderen. Er biss die Zähne zusammen und unterdrückte ein Ächzen, so sehr schmerzten diese Bewegungen. Auch der Druck des Sweaters auf seinen Schultern war unerträglich. Wahrscheinlich war alles, Rücken und Schultern eine einzige große Blessur. Nie wieder!, schoss es ihm in den Sinn und gab ihm Kraft. Nie wieder wollte er so hilflos sein. Lieber sterben, irgendwo auf den Straßen Berlins, als noch einmal auf die falschen Versprechungen Jörgs hereinfallen. Lieber einen Arm abreißen, als in der Schlinge verenden.
Kai holte tief Luft, als er die Türklinke mit zitternden Fingern fasste und mit der anderen Hand Millimeter für Millimeter den Schlüssel drehte. Hatte das Schnarchen gestoppt? – Nein! Für einige Sekunden versuchte Kai, bewusst ein und auszuatmen, um sich zu beruhigen. Da fiel ihm ein, dass er keine Schuhe trug, aber das war egal. Hauptsache raus, Hauptsache weg! Als das Schloss sich öffnete, klickte es ganz leise. In Kais Kopf dröhnte es. Das war Einbildung. Noch immer war kein Geräusch zu hören, nur das Schnarchen des Monsters. Mit klopfendem Herzen schlüpfte Kai schließlich durch die Tür. Im Flur schaltete der Bewegungsmelder Licht an, das den jungen Mann blendete, als würden sich tausend Nadeln in seine Augäpfel bohren. Doch er gab keinen Schrei von sich. Er war jenseits davon. Nur ganz sachte zog er die Tür hinter sich zu und verschloss sie von außen. Ganz so, als sei das die einfachste Sache von der Welt, jetzt wo er auf der anderen Seite stand. Er atmete tief durch. Dann, ohne weitere Zeit zu verlieren, machte er sich auf den Weg nach unten. Drei Etagen bis runter zur Straße und jede Stufe brannte in seinem geschundenen Leib wie Feuer. Aber was machte das? Er wollte endlich frei sein. Er wusste nicht wohin, doch halten konnte ihn nun nichts mehr. Nie wieder!