Teil I - Einsame Dunkelheit
Kapitel 1 – Ungewohnte Alltäglichkeit
Blut, Schmerz, ein drängendes Pochen, das seinen Kopf zu sprengen drohte. Angst erfüllte Pauls ganzen Körper und lähmte ihn vollkommen. Die Unfähigkeit, sich zu bewegen, führte nur zu weiterer Panik. Das Dröhnen in seinem Kopf schien sich immer mehr zu steigern, wurde zu einem Bohren – anschließend zu einem Stechen.
Über Pauls linke Wange floss eine warme Flüssigkeit. Tränen? Blut? Ein Kribbeln durchfuhr den Arm auf der gleichen Seite. Was war das? Suchend tastete er nach der Hand seiner jüngeren Schwester. Aber es war unmöglich, sich zu bewegen. Er versuchte sie rufen, seinen Vater, seine Mutter, doch kein Ton kam aus Pauls Hals. Ihm war schlecht, der endgültige Würgereiz setzte dennoch nicht ein.
Panik, Angst und die Ungewissheit, was gerade passierte. Wo war seine Familie? Was war geschehen? Der Schmerz drängte sich wieder in Pauls Bewusstsein. Erst jetzt registrierte er, warum er seine Schwester Elisa nicht sehen konnte.
Dunkelheit hatte ihn umfangen. War es Nacht? Wo waren die Straßenlampen? Erneut versuchte Paul, nach seiner Familie zu rufen. Seine Lippen gehorchten jedoch keinem Befehl.
Schweißgebadet schnellte er hoch. Keuchen, Atemlosigkeit und weiterhin der dröhnende Schmerz im Kopf. Vorsichtig tastete Paul über die linke Schläfe. Seine Finger fuhren eine Narbe entlang.
‚Kein Blut.‘
Er seufzte. Der Autounfall, der ihm so viel genommen hatte, war inzwischen fast ein halbes Jahr her. Alles, was ihm von diesem elenden Tag geblieben war, waren nicht enden wollende Schmerzen – und dieser grauenhafte Albtraum, der Paul jede Nacht genau das vor Augen führte, was er am liebsten vergessen wollte. Aber nicht konnte.
Er hob den Kopf und starrte in die Dunkelheit – eine grausame, beklemmende Finsternis, die Paul seit diesem Tag fest im Griff hatte.
Müde und erschöpft ließ er sich nach wenigen Sekunden zurück in das Kissen fallen. Durch das gekippte Fenster drang Winterluft ins Zimmer. Sie strich sanft über seinen nackten Oberkörper, nicht unangenehm, aber kühl genug, dass sie ihn wach hielt.
Mit starr auf die Zimmerdecke gerichteten Augen wartete Paul. Doch es passierte nichts. Die Angst davor wieder einzuschlafen und den Albtraum erneut zu erleben war zu groß, als dass er sich diesem Risiko heute Nacht ein weiteres Mal aussetzen wollte.
Langsam fing er an zu frieren. Aber lieber fror Paul und wusste, dass er wach war, als dass er die Bettdecke nach oben zog und in der trügerischen Wärme womöglich wieder einschlief. Manchmal versetzte es Paul regelrecht in Panik, dass er nicht mehr in der Lage war, zu unterscheiden, ob er wach war oder schlief.
Die Dunkelheit war immer die gleiche. Beinahe. Es gab Nuancen, wenn er munter war. Manchmal. Momente, in denen er sich einbildete, da wären Schatten in seiner Finsternis. Anstatt ihm Hoffnung zu geben, beunruhigten sie ihn allerdings meistens sogar noch mehr. Denn leider stimmte in seinem Fall alte Weisheiten nicht. Um seine Schatten herum gab es kein Licht.
Deshalb wartete Paul geduldig – darauf, dass der Morgen kam. Jemand würde hereinkommen, um ihn zu wecken, ins Bad führen, beim Waschen helfen, Anziehen. Und danach? Würde er immer noch warten. Im Mindesten darauf, dass ein weiterer Tag in dieser Verwahranstalt vorüberging.
Manchmal wartete er auf andere Dinge: Den Zeitpunkt, wann er zur Psychotherapie musste, auf den Physiotherapeuten, auf das Mittagessen, das Abendessen, das Waschen vor dem Zubettgehen. Paul hatte schon vor Wochen aufgehört, darüber nachzudenken, worauf er jetzt im Moment gerade wartete.
Der Grund war am Ende egal. Jedenfalls seit er eingesehen hatte, dass es keinen Sinn mehr machte, darauf zu warten, dass ihn jemand hier besuchte. Wer sollte jetzt noch kommen? Niemand wollte sich mit einem entstellten Krüppel wie ihm abgeben. Nicht einmal er selbst.
Langsam hob Paul eine Hand über den Kopf. Irgendwo da oben war sie. Das Wissen, dass seine Hand dort war, half ihm trotzdem nicht, sie zu sehen. Manchmal, wenn Paul nur lange genug in die Dunkelheit starrte, bildete er sich ein, ihre Konturen zu erkennen. Dann war die Hand einer der Schatten und er redete sich ein, dass er sie eines schönen Tages wahrlich wieder sehen würde. Nur um ein paar Sekunden später zu begreifen, dass das Unsinn war. Selbst wenn die Ärzte ihm nicht alle Hoffnung nahmen, die Realität sprach für sich. Fast ein halbes Jahr seit dem Unfall und es hatte sich nichts geändert.
Trotzdem redete Paul sich jeden Tag aufs Neue ein, dass es wahr werden könnte, dass die Schatten eine Vorahnung dessen waren, was eines Tages wieder sein würde. Eine irrsinnige Hoffnung. Und dieser Tag war offenkundig nicht heute. Enttäuscht ließ er die Hand auf seine nackte Brust zurückfallen.
Einer der Bufdis (*1) hatte Paul einmal gefragt, wie das war, wenn man nichts mehr sah – ob für ihn jetzt alles Schwarz war. Zu dem Zeitpunkt hatte er verneint. Es gab schließlich diese Abstufungen, Pauls Schatten – Grautöne, verschwommene Flecken.
Die Ärzte hatten gemeint, dass dies ein gutes Zeichen sei. Pauls rechtes Auge versuchte, die ihm zugewiesene Aufgabe wiederaufzunehmen, aber es gelang offenbar nicht. Aus welchem Grund auch immer.
Langsam strich Paul mit der Hand über die nackte Brust. Zumindest war er in der Lage das zu spüren. Aber was nützte es ihm, wenn niemand mehr da war, der ihn etwas fühlen ließ.
Betrübt starrte Paul wieder in sein düsteres Gefängnis. Es war gar nicht so lange her, da hatte es jemanden gegeben. Einen Menschen, der ihn auf genau diese Art und Weise über die Brust gestrichen hatte. Eine warme Hand, die zärtlich die zu undefinierten Linien seiner Brustmuskeln nachgezogen hatte. Die ihm den Bauch streichelte – tiefer bis zum Schritt.
‚Wie konnte es so plötzlich enden?‘, fragte Paul sich selbst, nur um prompt erneut von den Erinnerungen eingeholt zu werden.
Er war zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester auf dem Weg nach Hause gewesen. Paul konnte sich erinnern, dass er aus dem Autofenster in die Dunkelheit der Nacht gestarrt hatte. Und mit einem Mal, bevor es ihm bewusst wurde, war die Finsternis zum schmerzhaften Teil seiner selbst geworden.
Die ersten Tage nach dem Autounfall hatte Paul im Krankenhaus verbraucht. Er war wie in Trance gewesen. Ein Zustand, an den er sich heute kaum erinnern konnte. Aber er wusste noch, wie er unfähig sich zu bewegen oder zu sprechen in diesem Bett gelegen hatte. Der Geruch von Desinfektionsmittel, der ihm den Magen umdrehte – leise Stimmen, deren Worte er bis heute nicht hätte rekonstruieren können.
Die Kopfschmerzen hatten ihn damals fast in den Wahnsinn getrieben. Das bis heute stetig zurückkehrende Pochen war harmlos dagegen. Paul erinnerte sich dunkel daran, dass jemand ihn besuchte, aber er war inzwischen nicht mehr sicher, ob er es sich eingebildet hatte. War Jannik wirklich da gewesen? Oder war das lediglich ein Wunschtraum?
Der erste Besuch, an den Paul sich bewusst erinnerte, war ein Polizist, der kam um mit ihm zu sprechen. Hatte ihn befragt, was passiert war. Aber er wusste es nicht mehr.
Alles, an was Paul sich erinnern konnte, war Schmerz in der Dunkelheit. Und die panische Angst, die nach der Erkenntnis kam, dass er nichts sehen konnte. Es dauerte etliche Tage, bis er im Krankenhaus realisiert hatte, dass es kein Verband war, der ihn in der Dunkelheit festhielt. Dass da nichts war, das seine Augen bedeckte und sie davon abhielt etwas zu sehen. Jedenfalls nicht beide.
Nur der linke Teil seines Gesichts samt dem dortigen Auge war bandagiert gewesen. Das rechte war jedoch frei. Dennoch war da bis heute nichts als Dunkelheit um ihn herum.
Diese Erkenntnis hatte Paul erneut in Panik versetzt. Hastig hatte er nach etwas Vertrautem getastet – fand jedoch nichts. Das sterile und kalte Krankenzimmer kannte er nicht. Die Orientierungslosigkeit war neben der Dunkelheit bis heute das Schlimmste.
Paul zitterte, während er sich daran erinnerte, wie er zum ersten Mal aufgestanden war nach dem Unfall. Unbewusst fuhr er mit der linken Hand über den rechten Handrücken, während er in seiner Erinnerung einen stechenden Schmerz dort verspürte.
Genau an der Stelle, an der die Infusion herausgezogen worden war, während Paul aufstand. Damals hatte ihn der Schmerz nicht interessiert. Heute war er ein weiterer Teil der Erinnerung daran, wie verwirrt er gewesen war. Alles, woran Paul hatte denken können, war die Dunkelheit, die ihn gefangen hielt – und wie sehr er dieser entkommen wollte.
Der Versuch aufzustehen hatte damit geendet, dass ihm die Beine unter dem Körper weggeknickt und Paul der Länge nach auf dem Boden gelandet war. Dabei war der Schmerz vom Sturz vergleichbar gering – zumindest verglichen mit den Qualen, die in seinem Kopf getobt hatten.
Mehr kriechend denn laufend hatte Paul sich über den Boden geschoben, bis er gegen eine Wand stieß. Er war daran weiter vorwärts gekrochen und hatte so eine Tür erreicht. Aber kaum war er auf dem Gang gewesen, wurde er von einem Pfleger aufgegriffen. Sie hatte ihn zurück in sein Bett gebracht.
Paul hatte geschrien, getobt und versucht zu entkommen. Er wollte seine Familie sehen, zumindest sprechen. Denn ‚sehen‘ konnte er ja nicht mehr. Und wenn nicht seine Eltern oder seine Schwester Elisa, dann wenigstens seinen Freund Jannik, irgendjemanden, den Paul kannte und dem er vertraute. Aber es war niemand da.
Es kam auch keiner.
Sie hatten ihn unter Beruhigungsmittel gesetzt. Nach der Spritze mit Schlafmittel war Paul in die Traumwelt zurückgefallen. Diese Nacht war die Erste gewesen, in der er den Unfall erneut miterlebte. Seitdem kehrte das Grauen dieses Abends zurück, sobald Paul sich ins Bett legte, um zu schlafen.
Die folgenden Wochen wechselten zwischen der Dunkelheit des Tages und den grausamen Bildern der Nacht. Immer wieder Beruhigungsmittel, Schmerzmittel. Die Hälfte der Zeit verbrachte er im Rausch der Medikamente, die übrige wünschte Paul, diese Qual wäre ihm genauso erspart geblieben, wie dem Rest seiner Familie. Seine Eltern und seine jüngere Schwester waren bei dem Unfall gestorben. Eine Erkenntnis, die Zeit gebraucht hatte, bis Paul sie hatte akzeptieren können.
Seine Großeltern hatten ihn nur einmal im Krankenhaus besucht. Beide hatten schon seit etlichen Jahren nichts mehr für ihn übrig und so blieb es bei diesem einen Anstandsbesuch. Um fair zu sein, gestand Paul sich ein, dass er sie ohnehin nicht treffen oder gar bei ihnen leben wollte. Die Abneigung bestand lange genug auf beiden Seiten. Nein, der Mann, auf den Paul die drei Wochen im Krankenhaus gewartet hatte, kam erst am Tag seiner Verlegung ins Pflegeheim wieder.
„Hey ...“, hatte ihn eine vorsichtige Stimme angesprochen, während ein Pfleger Paul im Rollstuhl nach draußen zum Krankenwagen gebracht hatte.
Sofort waren Pauls Hände an die Räder geschnellt, um die Vorwärtsbewegung zu bremsen. Zum Glück bemerkte der Pfleger, die Reaktion und stoppte, sonst hätte er sich vermutlich die Hände in den Speichen des Rollstuhls verletzt.
„Jannik!“
Endlich war er da gewesen. Pauls Herz hatte geradezu gebebt vor Erleichterung. Das Glück, das er in diesem Moment gespürt hatte, überstieg jeden Schmerz, der sich in ihm breitzumachen drohte. Doch Jannik hatte zunächst nichts weiter gesagt. Lange genug, dass Paul bereits anfing an sich selbst zu zweifeln. Hatte er sich die sanfte Stimme nur eingebildet?
„Jannik? Bist du noch da?!“
Selbst in seiner Erinnerung konnte Paul die Panik in sich spüren, als er nach seinem Freund gerufen hatte. Diese Leere und Ungewissheit, wo die Realität aufhörte und der Albtraum begann.
„Ja, ich bin noch da. Ich ... kann nicht mitfahren, aber ... also ich komme dich heute Nachmittag besuchen“, hatte Jannik schließlich gemurmelt.
Und dann war es wieder still um Paul herum geworden. Ein bedrückendes Schweigen, das mit jeder weiteren Sekunde schmerzhafter wurde, bis es sogar das Pochen und Dröhnen im Schädel übertrumpfte. Er hatte nach seinem Freund gerufen – geradezu panisch. Aber es kam keine Antwort. Bis Paul tatsächlich nicht mehr sicher war, ob Jannik jemals an diesem Vormittag vor dem Krankenhaus aufgetaucht war.
An manchen Tagen war diese Ungewissheit noch schlimmer als der Schmerz und die Dunkelheit, die Paul gefangenhielten. Die Unsicherheit, was gerade passierte, die Sorge, dass es ein weiterer Albtraum war und die damit einhergehende Angst, dass der Albtraum längst zu seiner Realität geworden war.
Die Dunkelheit war nicht nur die Abwesenheit von Licht. Erst nachdem er nicht mehr sehen konnte, war Paul wirklich bewusst geworden, wie sehr normale Menschen kommunizieren und erfassen, ohne dass dabei Worte oder Geräusche im Spiel waren. Vor allem aber war ihm inzwischen klar, wie hilflos ihn die Dunkelheit gemacht hatte.
Und wie sehr er sie fürchtete – nachdem sie sich offenbar weigerte, sein Leben wieder zu verlassen.
Noch immer starrte er in der Gegenwart an die Decke seines Zimmers. Als Paul das klar wurde, entkam ihm ein leises Schnauben. Vorsichtig tasteten seine Finger über das rechte Augenlid. Erst als er feststellte, dass es tatsächlich offen war, ließ er die Hand wieder sinken.
„Wie lange?“, murmelte er leise und kramte erneut in seinen Erinnerungen.
Der Unfall war gut sechs Monate her. Zu dem Zeitpunkt war er noch kein ganzes Jahr mit Jannik zusammen gewesen. Trotzdem hatten sie damals bereits darüber gesprochen, dass sie zusammenziehen wollten, wenn Paul sich erst einmal an der Uni eingelebt hatte.
Nach seinem Geburtstag – sein zwanzigster. Und der erste, den Paul vollkommen allein verbracht hatte. Vermutlich würden alle zukünftigen ebenso aussehen. Da war niemand mehr, der ihn in den Arm nehmen würde – keiner, der ihm über die blonden Locken strich.
Dabei konnte er manchmal noch Janniks warme Hand spüren, wie sie auf seiner eigenen lag. Diese flüchtigen, beinahe scheuen Berührungen, als der Paul im Pflegeheim besucht hatte. Immerhin ... Jannik hatte sein Wort gehalten und war noch an seinem ersten Nachmittag hier vorbeigekommen. Sie hatten ... ‚geredet‘.
Zumindest hatte Jannik das getan – darüber, wie er Paul im Krankenhaus besucht hatte und wie verwirrt der gewesen wäre. Er selbst konnte sich nicht erinnern und die Unsicherheit schnürte ihm noch immer die Kehle ab.
„Die Medikamente“, hatte Jannik gemeint. „Du warst nie wirklich bei Dir.“
Paul wollte ihm glauben, also hatte er genickt und sich darauf konzentriert, dass endlich wieder alles gut werden würde. Selbst wenn er seine Familie nie wiedersehen und womöglich sogar für immer blind bleiben würde ... Paul war sich sicher gewesen, dass er das alles schaffen konnte, weil Jannik an seiner Seite und er somit nicht alleine war.
Aber Hoffnung war etwas für Träumer und hatte offenbar mit der Realität nicht viel zu tun.
Eine Woche lang kam Jannik jeden Tag. Und täglich wurde das, was er sagte leiser, die Berührungen weniger – vorsichtiger. Fast ein Jahr Beziehung schien sich innerhalb nur einer Woche in Luft aufzulösen. Bis Jannik Paul schließlich am letzten Tag die Hände auf die Knie gelegt hatte und meinte, dass er sich trennen würde.
Manchmal fragte Paul sich, ob es etwas geändert hätte, wenn er gefleht und gebettelt hätte, dass Jannik ihn nicht verließ. Immerhin waren sie glücklich gewesen – vor dem Unfall. Aber kaum war ihm eben das bewusst geworden, hatte Paul kein Wort mehr herausgebracht. Das Glück war vorbei – zumindest für ihn. Denn mit einem blinden Freund, um den er sich ständig kümmern musste, der in einem Heim zwischen lauter alten Menschen lebte … Mit so einem konnte Jannik nicht zusammen sein.
Er wollte nicht.
Wenigstens war er ehrlich, als er Paul sagte, dass sie in diesem Krankenhausverschnitt ja nicht einmal miteinander schlafen konnten. Und dass Jannik ihn hier rausholte, war offenbar ebenso unmöglich.
„Ich bin noch mitten im Studium, Paul. Ich ... kann mich nicht rund um die Uhr um dich kümmern.“
Der Stich in Pauls Brust war heute noch genauso schmerzhaft wie damals, als Jannik die Worte aussprach – oder an jedem anderen Morgen, an dem sie ihn verfolgten. Immer dann, wenn er wach in seinem Bett lag, in dem verzweifelten Versuch, dem Albtraum des Unfalls zu entkommen. Es waren jedes Mal die gleichen Gedanken, stets dieselben Worte, die Paul hörte. Jannik, der ihm erst neue Hoffnung gab, um sie dann jäh zu zerreißen.
Und seitdem? Nichts. Da war niemand mehr. Alles, was von seinem einst glücklichen Leben geblieben war, versank in Schmerz, Dunkelheit und Stille. Bis Paul irgendwann klar geworden war, dass es wohl schlichtweg nicht die Blindheit war, die Jannik verschreckt hatte. Sondern der entstellte Anblick, den Paul mit den Narben des Unfalls abgab.
Vorsichtig tastete seine Hand wieder zum Kopf hinauf. Die Ärzte waren von Anfang an sehr direkt, was Pauls Zustand anging. Das linke Auge war unwiederbringlich verloren. Ein großer Splitter war in die Schläfe eingedrungen, hatte den Knochen durchschlagen und den Sehnerv verletzt. Eine Entzündung am Auge hatte dazu geführt, dass sie ihm den Augapfel herausgenommen hatten. Seitdem klaffte, wenn man den Verband abnahm, ein großes Loch in Pauls Gesicht. Diese Tatsache ließ ihm noch immer einen Schauer über den Rücken laufen. Und zumindest in diesen Momenten, war er froh nichts mehr zu sehen. Wenigstens blieb ihm selbst dieser grauenhafte Anblick so erspart.
Wobei sich das derweil ja geändert hatte. In der linken Augenhöhle befand sich inzwischen eine Prothese. Ein Glasauge. Die Ärzte hatten gemeint, es sähe genauso aus wie das andere. Aber Paul konnte es nicht glauben. Nein, er sah garantiert abartig entstellt aus. Ein Auge aus Glas ... Wie könnte das jemals echt wirken?
„Guten Morgen, Herr Feldmann“, ertönte die vertraute Stimme seines Pflegers, als die Tür aufgerissen wurde.
Paul verzichte darauf, dem Neuankömmling zu sagen, dass der Morgen genauso wenig zu den ‚guten‘ zählte, wie der gestrige. Der Mann machte nur seinen Job. Lustlos richtete Paul sich auf und wartete darauf, dass der Pfleger um das Bett trat und seine Hand ergriff, damit er ihn zum Bad zu führen konnte. Es war erniedrigend, wie ein Baby herumgeführt zu werden, aber ohne die Hilfe würde er nur hinfallen und sich lächerlich machen.
„Vorsicht“, warnte ihn der Mann leise wie jeden Morgen vor der Ecke, um die er herumgehen musste, wenn er ins Badezimmer wollte.
Zähneputzen konnte – und durfte – Paul inzwischen allein, aber der Pfleger war die ganze Zeit da. Vermutlich um darauf zu achten, dass er beim Ausspucken auch wirklich das Becken traf. Nicht einmal selbst waschen durfte er sich. Immer war der Mann da, führte Pauls Hand, wenn er den Lappen eintauchte.
In den ersten Tagen hatte er sich so sehr geschämt, dass er sich kaum bewegen konnte. Inzwischen war es für Paul kein Problem mehr, dass jemand da war. Und die Blindheit ersparte ihm den genervten oder mitleidigen Blick, den er garantiert täglich für seine Unselbstständigkeit erntete.
Nach Pauls Einweisung ins Heim hatte der Arzt gemeint, dass er sich selbst waschen dürfte, sobald der Pfleger sah, dass er sich nicht im Bad verletzen würde und alles alleine fand. Danach hatte er sich tagelang angestrengt. Paul hatte versucht, so schnell wie möglich selbstständig zu werden. Dieser Wille war zusammen mit Jannik verschwunden.
Wozu sich anstrengen?
Es war nicht so, dass Paul hoffte, durch irgendeinen Funken Selbstständigkeit jemals aus dieser Verwahrstation wieder rauszukommen. Garantiert würde ihn niemand alleine in eine eigene Wohnung ziehen lassen. Nachdem Jannik ihn verlassen hatte, war abgesehen von Pauls Großeltern keiner mehr da. Und selbst wenn die sich mit ihm hätten abgeben wollen, wären sie zu alt und zu gebrechlich, um die Sorge für ihn zu übernehmen.
Nein, er war allein, das war Paul inzwischen klar.
Alle hatten ihn verlassen, zurückgelassen. Manchmal wünschte er, er wäre mit seiner Familie gestorben. Stattdessen musste er sich mit diesem Witz von Leben abgeben. Nichts konnte oder durfte er allein erledigen. Wenn er spazieren ging, war immer ein Pfleger dabei, im Bad am Morgen, am Abend, beim Essen. Wenigstens wurde er inzwischen nicht mehr gefüttert.
Nachdem die morgendliche Wäsche abgeschlossen war, führte der Pfleger Paul zurück ins Zimmer und reichte ihm nach und nach die frischen Sachen. Wenn es Probleme gab, half er hier ebenso wie im Bad. Aber das Anziehen war etwas, das Paul inzwischen einigermaßen sicher beherrschte. Bei den Hosen setzte er sich zunächst hin, um nicht bei dem sinnlosen Versuch, das zweite Hosenbein zu finden, auf die Nase zu fallen. Nur beim Zubinden der Schuhe half der ständige Begleiter erneut nach.
Sie sprachen kaum ein Wort. Wenn, dann war es der Pfleger, der ihm leise Hinweise gab. Paul war es egal, ihm war alles egal. Jeden Tag die gleiche Routine, aus der es nachdem Jannik weggegangen war, kein Entkommen mehr zu geben schien. Nur zu gern wäre er mal ausgegangen, hätte sich amüsiert.
Aber welchen Sinn hatte das? Und wie sollte er sich überhaupt amüsieren? Er konnte ja schlecht blind auf der Tanzfläche herumirren in der Hoffnung, nicht zwanzig Leuten gleichzeitig auf die Füße zu treten – oder über seine eigenen zu stolpern. Ganz davon abgesehen, dass Paul alleine ohnehin nirgendwo hinfinden würde. Und so weit, dass ihn ein Pfleger wenigstens auf ein Bier irgendwo hinbringen würde, ging die Fürsorge hier im Heim dann doch wieder nicht.
Jannik fehlte ihm - in mehr als nur einer Hinsicht. Ja, er vermisste die Küsse, die Berührungen, den Sex. Aber vor allem fehlte ihm jemand, der ihn in den Arm nahm und mit dem er auf der Couch vor dem Fernseher saß. Inzwischen lag Paul jeden Abend in seinem Bett und hörte die immer gleichen zehn Lieder auf dem MP3-Player.
Weil das die Einzigen waren, die ihn nicht an Jannik oder seine Familie erinnerten.
Der Pfleger führte Paul zum Speisesaal und holte das Frühstück. Anhaltendes Schweigen. Er redete grundsätzlich selten mit irgendjemandem. Weder mit dem Pflegepersonal noch den Ärzten. Sie hatten ihm ja genauso nichts Neues zu erzählen. Und so aufregend war diese Existenz ohnehin nicht mehr, als dass Paul groß etwas darüber zu berichten hätte. Jeden Tag passierte exakt dasselbe, ohne irgendwelche Veränderungen. Da er schwieg, schwiegen alle anderen inzwischen ebenso.
Während er vorsichtig den Toast mit beiden Händen in Richtung Mund navigierte, kehrten Pauls Gedanken erneut zu Jannik zurück. Jede Ermahnung seinerseits, das sein zu lassen, half nichts. Er dachte in letzter Zeit sogar häufiger an seinen Ex als in den ersten Wochen nach der Trennung.
Zunächst war er verbittert, danach wütend. Inzwischen war er nur noch einsam.
Aber etwas, ganz weit hinten in Pauls Kopf, machte ihm stetig mehr zu schaffen. Dort war eine winzig kleine Stimme, die in den letzten Wochen immer lauter geworden war. Sie sagte ihm beständig, dass Jannik zu Recht gegangen war, dass Paul es einfach nicht verdiente, dass sein Freund zu ihm hielt. Schlimmer … Diese Stimme flüsterte ihm zu, dass sein Anblick zu abscheulich war. Der Unfall hatte ihn innerlich wie äußerlich entstellt und das konnte man offenbar nur dem Personal im Pflegeheim zumuten.
Das war einer der Gründe, warum Paul an diesem Tag, wie schon an so vielen zuvor, zwischen den Mahlzeiten gelangweilt im Aufenthaltsraum saß. Eigentlich sollte er irgendwelche therapeutischen Übungen machen. Aber wozu der Aufwand? Paul war sich sicher, egal wie sehr er sich bemühte, er würde hier ohnehin nie wieder rauskommen.
Wer würde sich schon für einen entstellten Krüppel wie ihn interessieren? Und ohne jemanden, der sich um ihn kümmert, würde er das Heim niemals verlassen können.
Wenn er auf die Straße lief, starrten ihn die Menschen garantiert an. Einmal hatte er es versucht, aber ständig hatte ihn das sichere Gefühl beschlichen, dass alle Leute auf sein Glasauge glotzten, dass sie sich voller Abscheu von ihm abwandten, über ihn tuschelten. Ja, er konnte sie nicht sehen, aber das Gefühl war permanent da. Deshalb kehrte Paul nach wenigen Schritten wieder um. Seitdem spazierte er maximal in den Garten – beziehungsweise ließ sich führen – wenn es warm genug dafür war.
Heute war offensichtlich nicht so ein Tag. Niemand kam, um ihn zu fragen, ob er rausgehen wollte. Deshalb saß Paul nur da, lauschte der leisen, klassischen Musik, die den ganzen Tag über aus dem Lautsprecher dudelte und versuchte, an etwas anderes als seine tote Familie und die begrabenen Zukunftspläne zu denken.
Doch das Denken fiel Paul zunehmend schwerer. Was war denn übrig, über das er grübeln konnte? Außer darüber wie scheiße sein Leben hier war. Und wie sehr er sich wünschte, es würde enden. Was gab es denn sonst für ihn? An seine Familie wollte er nicht denken, genauso wenig wie an Jannik. Die Schule interessierte ihn nicht mehr, seit er im Sommer, kurz vor dem Unfall, seinen Abschluss gemacht hatte. Das geplante Studium konnte er vergessen, genauso wie jeden Berufswunsch, den er einst als Kind gehabt haben mochte. Seine alten Freunde hatten ihn hier auch nie besucht.
Woran hätte er demnach denken können?
Etwa an seine unerfüllte Liebe? Oder sein nicht mehr existentes Sexualleben? Daran wollte er sicher nicht erinnert werden. Er war inzwischen 20 und selbst wenn er sich nicht manchmal wünschte, sein Leben würde enden, fühlte es sich verdammt oft so an, als hätte es das längst.
Leider war er immer noch hier. Verurteilt dazu ständig vor sich hinzugrübeln, ohne je ein Ende zu finden. Alles wäre so viel einfacher, wenn er den Unfall nicht überlebt hätte. Wenigstens würde er dann nicht permanent darüber nachdenken, wie lange es her war, dass er das letzte Mal mit Jannik geschlafen hatte.
Nein, in diese Richtung sollten seine Gedanken besser nicht abdriften. Denn das könnte zu anderweitig unangenehmen Träumen führen. Und nichts wäre peinlicher, als am Morgen mit einer Latte aufzuwachen, wenn der Pfleger kam. Wobei … Im Aufenthaltsraum einen Steifen zu kriegen, wäre für die übrigen Patienten mit Sicherheit mal ein anderer Anblick.
Die meisten waren über 70, das hatte er selbst ohne sein Augenlicht inzwischen herausgefunden. Mittags und am Abend kam ein weiterer Pfleger und brachte ihn zum Essen. Ab und an fragte der, ob alles in Ordnung sei, das war es aber schon. Allein an seiner Stimme konnte Paul erkennen, welcher Pfleger es war. Wenn sie nicht ab und an etwas von sich geben würden, wäre es für ihn unmöglich, zu wissen wie oft sie ihre Schichten wechselten.
Als es spät wurde, brachte der nächste Mann ihn zurück in sein Zimmer. Er half ihm beim Ausziehen und Zähneputzen, dann war sein Dienst zu Ende. „Morgen Abend bin ich nicht mehr hier“, sagte er plötzlich, als er Paul aus dem Bad zurück in sein Zimmer brachte. „Mein BuFDi-Vertrag ist ausgelaufen.“
Die Stimme des Mannes klang ruhig und gelassen. Offenbar hielt er den Job als Kindermädchen für einen Jungen, der genauso alt war wie er, für eine leichte Arbeit. Paul schwieg. Es war ihm egal, ob dieser Kerl oder ein anderer sich um ihn kümmerte. Wahrscheinlich war der trotz seiner Gelassenheit froh, dass er Paul Anblick fortan nicht mehr ertragen musste.
Ihr ‚Gespräch‘ war damit beendet. Er blieb eine Weile auf der Bettkante sitzen, nachdem er die Tür ins Schloss hatte fallen gehört. Wieder ein neuer Pfleger. Inzwischen war es der Vierte, der ging und einen Nachfolger ankündigte. Sie alle hatten recht gelassen geklungen, bei keinem hatte er Ekel oder Ablehnung herausgehört. Und dennoch ... das nagende Gefühl, dass sie schlichtweg seinen Anblick nicht mehr ertragen hatten und deshalb verschwanden, blieb stets zurück.
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Anmerkung: (*1) BufDi = Bundesfreiwilligendienst. Man kann es sich als Freiwilliges Soziales Jahr vorstellen, auch wenn es im Detail sicherlich etwas anders ist.