Kapitel 25 – Neue Familie
Nervös stand Paul mitten im Wohnzimmer und wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte. Es war eine merkwürdige Mischung aus Furcht und Vorfreude. Dabei hatte er doch überhaupt keinen Grund, sich zu sorgen.
„Ich kann André immer noch anrufen und absagen“, versuchte Alan ihn zu beruhigen.
Hastig schüttelte Paul den Kopf: „Nein! Ich … ich würde heute gern weggehen.“ Er überlegte einen Augenblick, bevor er schelmisch grinste. „Außerdem will ich wissen, ob Alex sein Versprechen gehalten hat.“
Da lächelte Alan ebenfalls. Paul trat sofort auf ihn zu und schlang seine Arme um den vertrauten Körper. Er schloss seine Augen und atmete tief ein. Dieser unverkennbare Geruch, die angespannten Muskeln. Man sollte meinen, es hätte sich nichts geändert und trotzdem wirkte das alles wieder neu und unbekannt. Eine vertraute Neue Welt, die Paul nicht einmal ansatzweise begonnen hatte zu erkunden.
Er öffnete seine Augen und sein Lächeln wurde breiter, als sein Blick auf die blauen Linien auf dem Arm neben seinem Kopf fielen. Auf seine Bitte hin hatte Alan darauf verzichtet, sich ein langärmliges Hemd anzuziehen. Jeans und T-Shirt – noch nie hatte Paul den Look an jemandem so sexy gefunden. Und er konnte sich daran gar nicht sattsehen.
Dabei konnte er weiterhin, so gut wie nichts erkennen. Bei mehr als ein paar Zentimetern Abstand begann alles zunehmend zu verschwimmen und ab einem halben Meter war es zu verschwommen um überhaupt irgendwelche Konturen ausmachen zu können.
Der erste Morgen war am schlimmsten gewesen. Etwas zu sehen, ohne irgendetwas tatsächlich zu erkennen, war genau genommen verwirrender, als blind zu sein. Dadurch dass Paul ihre Wohnung bisher nur in der Dunkelheit durchwandert hatte, brachte ihn seine neu gewonnene und dennoch mehr als unzureichende Sehkraft ständig aus dem Tritt. Immer wieder war er gegen irgendetwas gelaufen, weil er nicht gewohnt war nach unten zu sehen und sein Kopf von den Eindrücken, die sein Auge schickte, augenscheinlich zu sehr vom automatischen Zählen der Schritte abgelenkt wurde.
Es war frustrierend gewesen. Allmählich fing Paul jedoch an, sich daran zu gewöhnen, dass er zwar irgendetwas erkennen konnte, im Grunde aber noch immer ‚blind‘ durch die Welt stolperte.
Paul grinste. Das war nicht mehr wichtig. Dieses Weihnachtsfest hatte ihm alles geschenkt, was er sich gewünscht hatte. Zärtlich strich er über die scheinbar aufgebrochene Haut an Alans rechten Arm. Die Farben waren leuchtender als die am anderen Arm, aber insgesamt hatte dieses Tattoo dafür wesentlich mehr Details.
„Wie lange hast du das schon?“
Alan zuckte mit den Schultern. „Ein paar Jahre.“
„Erzählst Du mir irgendwann, warum du sie hast stechen lassen?“
Wieder ein Schulterzucken. Alan lächelte aber warm, während er Pauls Kopf zu sich heranzog und ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen hauchte. In den so unwirklich unterschiedlichen Augen konnte Paul ein neckisches Grinsen erkennen und die Tatsache, dass er es sah, ließ ihn erneut innerlich aufblühen.
„Wahrscheinlich.“
Das Klingeln an der Wohnungstür riss beide aus ihren Gedanken und erinnerte sie daran, dass sie an diesem Abend mit ihren Freunden verabredet waren. Zwar hatte Alan ihn mehrmals gefragt, ob er absagen sollte, aber Paul wollte auf keinen Fall verzichten. Zum einen war er viel zu gespannt darauf, endlich André und Ricky zu sehen. Zum anderen freute er sich ins Rush-Inn zu gehen und zu schauen, ob Alex sein Wort gehalten und die Weihnachtsdekoration angebracht hatte. Da heute schon der zweite Weihnachtsfeiertag war, wollte Paul auf keinen Fall riskieren, dass Alex alles wegräumte, bevor er es sah – denn sehen würde er es ja endlich. Irgendwie jedenfalls.
„Und ich soll wirklich nichts sagen?“, fragte Alan vorsichtshalber zum dritten Mal nach.
„Nein!“, rief Paul lachend.
Alan Freund grinste und küsste ihn noch einmal sanft, bevor er sich abwandte, um die Tür zu öffnen.
Paul rückte ein Stück beiseite, sodass er nun neben der Tür im Wohnzimmer nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Wäre es nicht sinnvoll, wenn er sich stattdessen schon einmal seine Jacke anzog? Er konnte sich nicht entscheiden und mit jeder verstreichenden Sekunde, wurde sein Herzschlag schneller.
Es dauerte glücklicherweise nur kurz bis André und Ricky die Stufen zum ersten Stock erklommen und hereingetreten waren, sodass Paul es nicht schaffte, ernsthaft über diese Frage nachzudenken.
„Oh, Mann, ich bin ja so gespannt“, feixte Ricky und stürmte bereits durch die Tür, während er sich die Wintermütze vom dunkelblonden Wuschelkopf zog.
Mit aufgerissenen Augen blickte der Rick zur Zimmerdecke und von da auf den Baum zu seiner Linken, anschließend zu den Fenstern, ein weiteres Mal auf die Decke. Das ganze Wohnzimmer war von den Lichterketten allein erleuchtet. Paul konnte nur zu gut nachvollziehen, wie Ricky sich fühlte. Ungefähr so war es ihm selbst ergangen, als er sich den Anblick das erste Mal nur vorgestellt hatte – ihn am Ende zu sehen, war um einiges phänomenaler gewesen.
„Wow …“, hauchte Ricky andächtig.
Paul lächelte und schmiegte sich an Alans linken Arm, nachdem der mit André zu ihm getreten war.
„Ja, ist echt super geworden. Hast du gut gemacht“, lachte Letzterer zufrieden. Seine Hand landete auf Alans Schulter und Nacken, wo sie beherzt zudrückte.
Noch immer lächelte Paul stumm, während er den Flummi, der durch ihr Wohnzimmer sprang, gespannt beobachtete. Zwar konnte er Rickys Gesicht auf die Entfernung nicht erkennen, aber das war Paul in diesem Moment nicht mehr wichtig. Er wusste auch so, wie hell Rickys Augen leuchteten, während er sich langsam mit offenem Mund unter dem Sternenhimmel an der Decke drehte. Es war einfach zu schön, was Alan da für ihn gezaubert hatte.
„Geradezu magisch“, seufzte Ricky verträumt.
„Ja“, flüsterte Paul und konnte nicht widerstehen eine der halb verblassten Feder, die unter Alans T-Shirt hervorlugte, nachzuzeichnen. „Hat ja auch mein Weihnachtsengel gezaubert …“
Paul spürte und hörte das Ächzen seines Partners, als der Griff in dessen Nacken offenbar schlagartig schmerzhaft fest wurde.
„Nein …“, flüsterte André und sein Kopf schnellte zu Alan herum.
Der sah überall hin, aber bestimmt nicht zu seinem alten Studienfreund.
Dessen Stimme war kaum noch zu verstehen, als er zischte: „Echt jetzt?!“
Vorsichtig beugte André sich ein Stück vor, sodass er um Alans breite Brust herum zu Paul sah. Der schaute direkt zurück. Ein eigenes Lächeln schob sich auf seine Lippen, während er zum ersten Mal, das graublau in Andrés Augen schimmern sah. Wie automatisch glitt Pauls Blick von den kurzen braunen Haaren über die Nase hinab zu einem immer breiter werdenden Mund. Ricky hatte nicht übertrieben, als er meinte, dass André sich als Model gut machen würde.
„Ha!“ André grinste einmal im Kreis, richtete sich auf und schlug Alan mit kräftiger Hand gegen die Brust, sodass der mit einem weiteren Ächzen zusammenzuckte. „Dann lasst uns feiern!“
„Was? Wie?“, verwirrt sah Ricky zu ihnen hinüber.
„Na komm schon!“, rief André zu diesem zurück und rieb sich noch immer breit grinsend die Hände, als er sich auf den Weg zur Wohnungstür. „Alan gibt einen aus!“
„Echt? Cool!“ Ricky hüpfte förmlich zu ihnen hinüber und umarmte Paul kurz. Damit kam das strahlende, leicht rundliche Gesicht mit einer durchaus niedlichen Stupsnase und zwei vor Weihnachtsfreude funkelnden grünblauen Augen endlich in den Bereich, den Paul halbwegs klar erkennen konnte. Quasi im Vorbeihüpfen gab Ricky ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und lächelte.
„Frohe Weihnachten, Paul!“ Schon hastete er André laut rufend hinterher, dass der gefälligst auf ihn warten sollte.
„Er hat’s nicht gemerkt, oder?“, fragte Paul feixend.
„Ricky? Ich glaube nicht“, antwortete Alan lachend. „Aber er hat ja noch den ganzen Abend Zeit. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass André es ihm eher früher als später unter die Nase reiben wird.“
Paul lächelte erneut und drehte Alan zu sich herum. Er zog seinen Kopf zu sich heran und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Sein Daumen streichelte sanft über Alans linke Wange, zeichnete die raue Kante des Mals nach, das dieser, soweit Paul bisher hatte erfahren können, sein Leben lang gehasst hatte.
„Mein großer Weihnachtsengel…“, flüsterte er erneut, lachte dabei verhalten. „Lass uns gehen. Ich will noch Alexanders Dekoration sehen.“
Gespielt theatralisch seufzte Alan auf, reichte Paul trotzdem kurz darauf dessen Jacke. „Da habe ich hier extra die beste Weihnachtsdeko ever aufgebaut und du gehst lieber ins Rush-Inn, um dir die von Alex reinzuziehen?“
„Nur, damit ich deine noch viel mehr zu schätzen weiß“, lachte Paul und zog sich nach der Jacke ebenso seine Schuhe an. „Natürlich ist das hier“, dabei deutete er in Richtung Wohnzimmer, „durch nichts zu toppen.“
Alan stellte sich ein Stück aufrechter hin und streckte den Rücken durch, fast so, als wolle er extra betonen, wie toll er seine Sache gemacht hatte. Dafür erntete er prompt eines dieser wunderbaren Lächeln, die Paul seit er vor zwei Tagen das erste Mal in seine Augen gesehen hatte, nur allzu freigiebig verteilte.
„Lass uns gehen“, wisperte Paul nach einem weiteren kurzen Kuss. „Sonst wird Ricky noch ungeduldig.“
„Und André erst!“
Lachend verließen sie die Wohnung und Paul setzte sich hastig seine Mütze auf. Nachdem sie vor die Tür getreten waren, stellen sie fest, dass es in den letzten Minuten angefangen hatte zu schneien. Glücklich lächelnd sah Paul zum Himmel.
Vor einem Jahr war ihm Weihnachten egal gewesen und er hatte geglaubt, dass er nie wieder froh sein würde. Er senkte seinen Blick und ließ ihn über die drei Männer gleiten, die seitdem sein Leben grundlegend verändert hatten, die ihm überhaupt erst ein neues Leben gegeben hatten. Allen voran: Alan.
„Das ist echt unglaublich …“, lachte André erneut und schüttelte den Kopf, während er zu ihnen hinüberblickte. „Schon fast zu sehr Klischee, um wahr zu sein.“
Alan zog Paul zu sich und sie schlenderten gemeinsam los in Richtung Auto. Selbst wenn er jetzt wieder etwas erkennen konnte, traute dieser sich deshalb noch lange nicht, zu jemand anderem einzusteigen – und letztendlich gab es dafür sowieso keinen Grund, schon gar nicht heute.
„Was ist denn so unglaublich?“, fragte Ricky, der offenbar noch immer nicht verstand, warum André seit sie bei Alan und Paul in der Wohnung waren, grinste, als hätte er einen Halbmond verschluckt.
„Dass Du dermaßen begriffsstutzig bist“, bemerkte dieser prompt und streckte Ricky die Zunge raus.
„Mann, dann sag’s halt!“, fauchte der allmählich beleidigt zurück.
Da löste Paul sich von Alan und hakte sich stattdessen bei Ricky ein. Lächelnd klopfte er diesem gegen den Oberarm und sofort wurde Rickys aufbrausendes Gemüt etwas heruntergedreht.
„Weißt Du was?“, meinte Paul flüsternd, während er seinen Kopf näher zu Ricky hinüber lehnte, um dem ins Ohr flüstern zu können. „Du hattest recht.“
Irritiert blinzelte dieser. Doch umgehend zeichnete sich ein breites Grinsen in Rickys Gesicht ab. „War’s das richtige Geschenk?“, forschte er sofort nach.
Paul versuchte, nicht rot anzulaufen, bevor er leise lachte. „Ja, aber das meine ich nicht.“
Etwas beleidigt, weil er den Witz, den offenbar alle kapiert hatten, nicht verstand, verzog Ricky den Mund. „Was dann?“
„André könnte wirklich sehr gut als Unterwäschemodel herhalten. Aber ich finde ja, er hat eher was von Bradley Cooper als Brad Pitt. Und Alan sieht Hemsworth abgesehen von den Muskel kein Stück ähnlich.“
Ricky wäre beinahe vornübergekippt, weil er mitten in der Bewegung seiner Schritte stoppte. Schlagartig schnellte sein Kopf zu Paul herum. Er beugte sich so nah zu ihm hinüber, dass er damit sogar in den Bereich kam, in dem dessen Blick kaum noch verschwommen war. Grünblauen Augen bohrten sich förmlich in Paul.
„Du kannst sehen?“, fragte er heiser und wurde mit einem breiten Grinsen und einem zaghaften Nicken belohnt.
„Wenn man es so nennen will. Es ist alles reichlich verschwommen. Aber immerhin.“
„Oh mein Gott! André! Paul kann was sehen!“
„Blitzmerker!“
Für die Frechheit landete keine zwei Sekunden später Ricky Mütze mit erstaunlich hoher Geschwindigkeit und Präzision direkt in Andrés Gesicht.
„Du bist so doof! Warum hast du mir nichts gesagt?!“, keifte Ricky wütend, bevor er sich mit einem breiten Lächeln und deutlich sanfterer Stimme zu Paul umdrehte. „Wie? Wann?“
Der zuckte mit den Schultern. „Als ich gestern aufgewacht bin, ging es einfach. Die Helligkeit am Tag ist noch etwas unangenehm, aber das scheint besser zu werden.“
Rickys Arme schlangen sich um Pauls Körper und er drückte ihn mit Tränen in den Augen an sich. „Das ist so wunderbar! Ein Weihnachtsmärchen! Ich freue mich so für dich!“ Nach einem Blick auf Alan fügte er ein: „Für euch!“, hinzu und grinste zufrieden.
Irgendwann erreichten sie unter weiterem Lachen, Grinsen und Glucksen Alans Auto und mit diesem zwanzig Minuten später das Rush-Inn. André hatte es in dieser Zeit geschafft, Rickys aufgebrachtes Gemüt zu beruhigen. Wenigstens drohte der inzwischen nicht mehr damit, dass André die folgende Nacht auf der Couch würde verbringen müssen. Während sie die unscheinbare grüne Tür öffneten und in das orangene Dämmerlicht von Alexanders Heiligtum stolperten, lachten sie noch immer.
Doch kaum, dass er den ersten Fuß in die kleine Kneipe gesetzt hatte, hielt Paul plötzlich inne und sein Lachen erstarb, um stattdessen einem breiten Grinsen Platz zu machen. Er konnte zwar kein einziges Stück der Dekoration wirklich erkennen, aber von überall her schien ihn irgendetwas anzublinken und die Wände wirkten, als würden sie leuchten.
„Wow …“, murmelte er und schritt langsam zum Tresen hinüber, während er noch immer versuchte, die Dekoration zwischen all den bunten glitzernden Lichtflecken ausmachen zu können.
Alex war nirgendwo zu sehen, wobei Paul nicht sicher war, ob er ihn auf die Entfernung überhaupt erkannt hätte. Nachdem er direkt vor dem Tresen stand, erschien vor ihm nur ein breiter Kerl mit dunkelbraunen, raspelkurz geschnittenen Haaren. Selbst dessen Gesicht konnte Paul kaum ausmachen. Alex war es aber sicher nicht, dafür war der gier zu kräftig gebaut.
Da sich bisher nur wenige Gäste des Abends hierher verirrt hatten, war nicht wirklich etwas zu tun und so schien der Fremde mit dem Abtrocknen der Gläser mehr als ausgelastet zu sein. Den Kerl kannte Paul trotzdem nicht und sah ihn entsprechend irritiert an.
„Hi Paul! Alan, Ricky, André …“, grüßte der Fremde jedoch sofort, grinste sie alle vier gut gelaunt an.
Komisch. Die Stimme hatte er schon einmal gehört, dessen war Paul sich sicher. Er konnte sie allerdings so gar nicht einschätzen. Auch sonst kam ihm der Typ nicht im Geringsten bekannt vor. Mit geschätzten um die dreißig Jahren, war der Kerl nicht gerade im Alter von Alexanders üblichen Aushilfen.
„Was ist los?“, fragte der Fremde und sah zwischen seinen vier Gästen hin und her.
Pauls Freunde grinsten schweigend, während sie diesen dabei beobachteten wie er die Stirn kraus zog und krampfhaft versuchte, den Mann hinter der Bar einzuordnen.
Da schlug der sich plötzlich mit der flachen Hand an den Kopf. „Sorry! Total Vergessen, dass du es ja gar nicht sehen kannst. Also, ich soll dir jedenfalls von Alex ausrichten, dass er sein Versprechen gehalten hat und hier alles wirklich sehr weihnachtlich dekoriert ist. Wenn du mich fragst, etwas zu viel. Viel zu viel Kitsch vor allem. Aber okay. Er ist immer noch der Chef.“
Wieso fiel ihm nicht ein, wessen Stimme das war? Es war genauso wie zu Hause. Der Versuch die neuen sehenden Eindrücke mit den vertraut gewordenen Geräuschen und anderen Sinnen in Einklang zu bringen schien Paul nur noch mehr zu verwirren. In den letzten Monaten hatte er sich so daran gewöhnt, Menschen an der Stimme erkennen zu müssen, dass ihn der unbekannte Anblick dieses Mannes völlig aus der Bahn warf.
„Er erkennt dich nicht“, antwortete Alan feixend.
„Echt nicht?!“ Der Typ schien enttäuscht. „Jetzt bin ich aber beleidigt. Normalerweise vergisst mich keiner so schnell.“
„Hör auf, den Kleinen schon wieder anzumachen!“, giftete mit einem Mal ein ebenso großer und kräftig gebaut, allerdings rothaariger Kerl, der von der Tür zu den Lagerräumen her zu ihnen getreten war. „Du hast gesagt, Du musst arbeiten, also schaff gefälligst auch was.“
„Klappe, Remi! Ich Chef. Du Aushilfe.“ Mit einem bösartigen Grinsen und einem kurzen Augenzwinkern drehte er sich zu Paul und seinen Freuden, sagte aber nichts weiter.
„Noch ein Wort und du kannst den Mist alleine machen, Torin“, fauchte der wütend zurück und stellte eine Kiste mit frisch gewaschenen Gläsern auf den Tresen.
Pauls Augen weiteten sich. Das war Torin? Den hatte er sich ganz anders vorgestellt. Aber jetzt, wo er ihn sah – und vor allem auch dessen scheinbar immer streitsüchtigen Kumpel Remi, war ihm klar, wieso die beiden sich ständig in die Haare bekamen. Zwei Alphatiere auf Konfrontationskurs.
„Du bist manchmal so’ne Zicke …“, zischte Torin, als Remus sich abwandte. „Ich hoffe nur, Alex kommt bald mal“, fügte er brummend hinzu.
Das dreckige Grinsen des Rotschopfes als der erneut zu ihnen hinüber kam und Torin seinen Arm über die Schulter legte, entging nicht einmal Pauls fast blinden Augen. „Ach lass mal. Ich helf dir doch so unglaublich gern, Tor. Du weißt ja ... eine Hand wäscht die andere.“
„Also kommt Alex heute noch?“, fragte Paul und riss Torin damit aus seinen Gedanken. Der nickte zögerlich, vermutlich dankbar über die Ablenkung: „Die Aushilfe hat abgesagt, deshalb wollte er dann doch noch kommen. Hoffentlich bald. Sieht aus, als würde es demnächst voll werden.“
Paul sah ein weiteres Mal in den Raum und lächelte. Selbst wenn er nicht alles klar erkennen konnte, war deutlich zu sehen, dass Alex sich große Mühe mit der Dekoration gegeben hatte. Alan beugte sich kurz nach vorn und erklärte ihm flüsternd, was seine Augen nur schemenhaft wahrnehmen konnten:
Neben einigen Lichterketten war reichlich Tannengrün an den Wänden verteilt, welches von Christbaumkugeln in den verschiedensten Farben durchsetzt war. In einer Ecke stand ein blinkender Weihnachtsmann, in einer anderen ein Schneemann mit leuchtender Nase. Die Hälfte der Deko war unheimlich gekünstelt, aber alles zusammen wirkte trotzdem fröhlich und fügte sich ineinander. Als Gesamtbild war es nicht mehr schlicht kitschig, sondern passte zu Alex und seiner Kneipe. Nicht teuer, dennoch umso wertvoller für alle, die sich die Mühe machten, an diesen Feiertagen herzufinden.
„Kannst Du mir einen Gefallen tun, Torin?“, fragte Paul plötzlich und sah zu diesem zurück.
Der blinzelte kurz irritiert, nickte dann aber hastig „Logisch, immer raus damit.“
„Falls ich ihn verpasse ... sagst Du Alex bitte danke von mir?“
„Wofür denn?“
Pauls Lächeln wurde breiter, trotzdem er zuckte mit den Schultern. So genau wusste er nicht, warum er sich bedankte. Alex hatte im Grunde nur dekoriert. Aber er hatte sich die Mühe für ihn gemacht. Ebenso wie Alan. Oder wie André und Ricky, die sich in diesen Monaten, seit sie sich kannten, darum bemüht hatten, ihm eine Familie zu sein. Womöglich war es anmaßend, trotzdem hatte Paul das Gefühl, als würde es hier deutlich langweiliger und ‚normaler‘ aussehen, wenn er Alex nicht darum gebeten hätte für Weihnachten zu schmücken.
Vielleicht war das ja ein Teil von ihrem Weihnachtswunder. Selbst wenn weder Alex, noch er oder Alan vor ein paar Wochen in Weihnachtsstimmung gewesen waren, so hatten sie alle sich dennoch Mühe gegeben, das Fest für jemanden zu etwas Besonderem zu machen. Und genau das war passiert.
„Dafür, dass er Weihnachten wahr gemacht hat“, meinte Paul lächelnd.
Torin grinste und nickte. „Klar doch, Kleiner!“
Da trat Remus ein weiteres Mal neben seinen immerwährenden Streitpartner und klopfte dem auf den Rücken. „So. Nachdem ihr euer Plauderstündchen durch habt … Das hier ist immerhin eine Kneipe und wir haben noch den ganzen Abend Zeit, um Weihnachten zu feiern! Also, was wollt ihr trinken, Jungs? “