Kapitel 12 – Angemessenes Verhalten
Wieder einmal fühlte Paul sich unwohl. Nervös zog er seine Knie an die Brust und versuchte zu hören, was um ihn herum vorging. Aber es war unmöglich. Zu viele Menschen, zu viele Nebengeräusche. Paul hasste es, wenn es so laut wurde. Die Orientierungslosigkeit, die daraus resultierte, machte ihn mitunter irre.
„Alles klar?“, fragte eine sanfte Stimme neben ihm. Doch Paul zuckte nur mit den Schultern. „Soll ich Alan holen?“
Diesmal schüttelte er den Kopf. „Nein, schon gut. Es … ist nur so laut hier.“
Ein leises Lachen an seiner Seite. Kurz darauf hörte Paul das Rascheln eines Handtuches, als sich der Mann neben ihm wieder auf den Rücken legte. Vermutlich genoss Rick die Sonne und für eine Sekunde wunderte Paul sich, wie der aussah, was er anhatte.
„Ist Dir das nicht zu heiß?“, fragte Rick mit einem Mal und riss Paul erneut aus seinen Gedanken.
Der legte den Kopf schief und schüttelte ihn schließlich verhalten.
„Es hat gefühlte fünfundvierzig Grad und Du hockst als einziger hier in langärmligen Hemd und langer Hose. Du kriegst noch einen Hitzschlag, Paul.“
Ebendieser senkte den Kopf und drückte seine Knie fester gegen die Brust. „Ich … will nicht, dass mich alle anstarren“, gab er irgendwann flüsternd zu.
Ein herzhaftes Lachen zusammen mit weiterem Rascheln. Paul konnte nur vermuten, dass Rick sich erneut aufrichtete und sich diesmal hinsetzte. Ein Finger stupste Paul in die Seite und der musste ein Lachen unterdrücken. Er hatte schon mehrfach am eigenen Leib erfahren, dass Rick eine Vorliebe dafür hatte selbst Menschen, die er wie Paul kaum kannte, zu kitzeln, wenn die sich nicht nach seinen Vorstellungen benahmen.
„Die Leute schauen dich eher an, weil Du die Klamotten anhast. Ziehst Du die aus, wird bestimmt keiner mehr starren. Vertrau mir.“
Paul seufzte und schüttelte erneut den Kopf. „Ich … Nein, lieber nicht.“
„Na warte, Du Mistkerl!“, hörte er da weiter entfernt Alans Stimme lauthals schreien.
Verwundert legte Paul seinen Kopf zur Seite und versuchte, diesen erneut durch das Gewirr der anderen Leute herauszuhören. Als es ihm nicht gelang, drehte er seinen Kopf in Richtung Rick und fragte: „Was ist da los?“
Das Handtuch raschelte unter ihm, als Rick sich scheinbar zum See hindrehte. „André und Alan benehmen sich mal wieder wie Zehnjährige …“
Paul lachte. In den letzten zwei Monaten, seit Alan nicht mehr im Pflegeheim arbeitete, hatten sie sich mehrmals mit Rick und André getroffen. Paul mochte die beiden und wahrscheinlich war das einer der Gründe, warum Alan diese immer wieder fragte, ob sie mit ihnen zusammen etwas unternahmen.
Jedenfalls nahm Paul an, dass dieser Ausflug zum Badesee auf Alans Mist gewachsen war. Der hatte doch ständig so blöde Ideen, von denen er hinterher behauptete, sie wären nur dazu da, um Paul endlich aus seinem Schneckenhaus zu locken.
Im Moment fühlte der sich in besagtem Schneckenhaus aber pudelwohl und hatte sicher nicht vor, es in den nächsten Stunden zu verlassen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich vorstellte, wie ihn die Leute hier anstarren würden, wenn sie seine Narben sahen.
Plötzlich lachte Rick laut und Paul zuckte erschrocken zusammen. Sofort legte sich eine beruhigende Hand auf seine Schulter und drückte sie sanft.
„Entschuldige“, feixte Rick. „Alan hat André gerade voll ins Wasser gestoßen. Die beiden sind echt wie die Kinder.“
Einmal mehr wünschte Paul sich, dass er noch sehen könnte. Zwar hatte er inzwischen eine vage Vorstellung davon, wie sein Freund aussah, aber er wollte nicht nur wissen, wie dessen Körper geformt war. Nein, er sehnte sich danach, Alans Gesicht zu sehen, wenn der lachte, glücklich war – wenn sie zusammen im Bett waren.
Ohne dass er es merkte, wanderte Pauls linke Hand zu seiner Wange und legte sich vor das fehlende Auge. Immer wieder hatte Alan ihm versichert, dass man die Prothese unter normalen Umständen nicht als solche erkannte. Im Heim hatten die anderen Ärzte ihm das ebenso gesagt. Aber es fiel Paul weiterhin schwer, es zu glauben.
„Warum denkst Du, dass die Leute dich anstarren würden?“, fragte Rick plötzlich.
Paul zuckte mit den Schultern und senkte den linken Arm. „Meine Narben …“, flüsterte er kaum hörbar zurück.
Er spürte, dass Rick näher zu ihm heranrückte. „Ich … ich will mich nicht aufdrängen, aber ... bist Du sicher, dass sie so schlimm aussehen?“
Wieder zog Paul die Arme fester um seine Knie. „Wie könnten sie nicht?“
„Lässt Du mich sie sehen?“, fragte Rick vorsichtig und Paul meinte ein Lächeln in den leisen Worten hören.
Einen Moment lang zögerte er, doch er vertraute diesem lustigen jungen Mann. Er mochte Rick und der war bisher immer ehrlich zu Paul gewesen.
‚Genau wie Alan‘, ermahnte er sich. ‚Und trotzdem glaubst du dem nicht.‘
Zögerlich und langsam löste Paul seine Arme und öffnete sein dünnes Hemd. Als er es zur Seite zog, konnte er das Zittern seiner Hand kaum verbergen.
„Hm“, murmelte Rick. „Also, man sieht sie schon“, gab er zu. „Aber sie sind echt hell und ich glaube von weiter weg bemerkt man sie fast gar nicht.“
Verunsichert zog Paul das Hemd wieder zu. Hatte Alan also wirklich recht? Rick sagte solche Sachen nicht einfach nur, damit er sich besser fühlte? Aber der Mann würde ihn nicht anlügen, da war Paul sich sicher. Wenn Rick eins war, dann ehrlich – egal in welcher Hinsicht. Von André kassierte er dafür regelmäßig ein Schnauben. Gefolgt von einer gemurmelten Bemerkung, dass Ehrlichkeit zwar eine Tugend war, aber Ricky sonst schließlich auch nicht gerade tugendhaft wäre.
„Ich habe noch ein Trägershirt bei“, bemerkte Rick. „Wir haben etwa die gleiche Größe, Paul. Willst du das haben? Damit sieht man die am Rumpf gar nicht mehr und die am Arm fallen ohnehin kaum auf.“
Unsicher senkte Paul den Kopf.
„Jetzt komm schon. Unter dem Hemd gehst Du bei der Hitze doch ein“, setzte Rick jedoch sofort nach.
Eine Mischung aus Nervosität und Neugier begann sich in Paul auszubreiten, als er überlegte, wie Alan wohl reagieren würde, wenn er tatsächlich diesen Schritt wagen könnte.
„Ich schwöre Dir, falls jemand hierher starrt, dann ganz sicher nicht wegen Dir“, versuchte Rick es mit einem erneuten Lachen, während er Paul ein weiteres Mal in die Seite pikste.
„Lass das, Ricky …! Warum sollte jemand sonst hierher starren?“
So etwas Albernes! Als ob irgendjemand einen anderen Grund haben könnte, zu ihnen zu sehen. Doch die Neugier wuchs, je länger Paul darüber nachdachte.
Wieder rückte Rick näher und kurz darauf spürte Paul dessen warmen Arm direkt neben seinem eigenen.
„Ich wollte nichts sagen weil … na ja, ich weiß es ist fies, aber Du siehst es ja zum Glück nicht. Und irgendwie ist es echt mega peinlich …“
Jetzt war Paul doch interessiert: „Was ist los?“
„Meine Haare …“, murmelte Rick. Die Verlegenheit war nicht zu überhören. „Sie sind blau.“
Schallendes Lachen ertönte, als Paul vor seinem geistigen Auge mit einem Mal eine der Trollfiguren mit knallblauen Haaren, die seine kleine Schwester als Kind geliebt hatte, sah.
„Warum um alles in der Welt hast Du blaue Haare?!“
Rick lachte ebenso und stieß mit der Schulter sanft gegen Pauls, währen der antwortete: „Lach nicht … Was glaubst Du denn warum …“
„Du hast schon wieder mit André gewettet.“
Ob Rick nickte, hätte er nicht sagen können, aber es kam keine direkte Antwort.
„Um was ging es?“, versuchte Paul es erneut.
„Ich näh den ganzen Tag irgendwelchen Fitzelkram an Brautkleider. Meine Finger können die kleinsten Sachen präzise platzieren“, fuhr Rick schließlich murrend und eine Spur beleidigt fort. „Ich habe mit ihm gewettet, dass ich ihn bei Jenga schlage …“
Paul lachte erneut. „Und?“
„Na ja, Kinderchirurgen haben offenbar ruhigere und geschicktere Hände als Schneider …“
Sein Grinsen wurde breiter, das glucksende Lachen lauter, als Paul versuchte, sich vorzustellen wie Rick aussah. Da er dessen Gesicht nicht kannte, war das keine sonderlich leichte Aufgabe, aber vermutlich hatte der Mann mit einer Sache recht: Wenn er tatsächlich blaue Haare hatte, würde das von Pauls eigenen Narben erfolgreich ablenken.
„Okay“, flüsterte er von plötzlichem Mut beseelt.
„Okay?“
„Gib mir das Shirt, Ricky.“
Ebendieser quiekte. Schon hörte Paul ein heftiges Rascheln, das wenige Sekunden darauf von einem leisen Triumphruf beendet wurde.
Als Paul sein Hemd auszog, zögerte er nur kurz, aber jetzt hatte er sich entschieden, da wollte er es durchziehen. Außerdem war er stetig heftiger gespannt, wie Alan darauf reagieren würde, wenn er sah, dass Paul zumindest ein Stück weit über seinen Schatten gesprungen war. Zufrieden klopfte Ricky ihm auf die Schulter, nachdem er umgezogen war.
„Hier ist noch Sonnencreme. Soll ich Dir helfen?“, fragte er und Paul nickte schnell, bevor er es sich anders überlegen konnte.
Ricks Hände waren warm und zu seiner eigenen Überraschung fühlte Paul sich gar nicht unwohl von jemand anderem als Alan berührt zu werden. Vor allem war der Mann effizient, denn es dauerte nur einige Augenblicke bis Arme, Nacken und Hals gegen die Sonne geschützt waren.
Anschließend setzte sich Rick wieder neben ihn und seufzte leise. Weiter weg hörte Paul erneut die Stimmen von Alan und André, die sich scheinbar noch immer durchs Wasser jagten.
„Weißt Du …“, sagte Rick mit einem Mal nachdenklich und unterbrach damit Pauls Versuch, sich die beiden Männer im See vorzustellen. „Jetzt, wo meine Haare diese wirklich furchtbare Farbe haben, bist Du von uns vieren eindeutig der letzte, den die Leute hier anstarren würden.“
Verwirrt runzelte Paul die Stirn. „Wieso das denn?“
„Na ja … ich weiß ich bin befangen, immerhin ist André mein Freund und so, aber … ganz ehrlich, wenn der kein Arzt wäre, hätte er auch Unterwäschemodel oder so etwas werden können. Gut neunzig Prozent der Damenwelt an diesem Strand starrt ihm gerade was ab. Und der Rest ist vermutlich lesbisch und starrt auf den Topmodelverschnitt, die seit ungefähr zehn Minuten erfolglos versucht die Aufmerksamkeit unserer Männer, auf sich zu ziehen.“
Paul grinste. „Das denkst Du Dir nur aus …“
„Nein, leider nicht.“ Rick schwieg einen Moment. „Aber!“, rief er plötzlich und schlug Paul leicht gegen den Arm. „André gehört mir alleine! Und da können alle anderen hier schauen so viel sie wollen. Ha!“
Erneut musste Paul lachen und bewunderte Rick insgeheim für dessen immerwährende gute Laune. „Hast Du nicht mal gesagt, André würde wie ein Schläger aussehen?“
„Nur, wenn er böse guckt“, schoss Rick sofort zurück.
„Schwer vorzustellen“, murmelte Paul verdrossen, weil er das Bild eines Unterwäschemodels so gar nicht mit dem eines Schlägers in Einklang bringen konnte.
„Es sind die Muskeln“, flüsterte Rick verschwörerisch und mit einem nicht zu leugnenden verträumten Unterton. „Bizeps, Trizeps, was weiß ich für ‚zeps‘. Wohin man schaut. Da nehmen sie sich beide nichts.“ Erneut schwieg Rick und wollte sich offenbar nicht weiter dazu erklären.
„Und Alan?“, fragte Paul, jetzt noch neugieriger geworden.
Rick schien kurz zu überlegen. „Na ja, er ist, glaube ich, eher nicht der Typ Unterwäschemodel. Aber wer von uns ist das schon?“
Paul runzelte die Stirn und wusste nicht so recht, was er von der Antwort hielt. Warum hatte Rick dann gemeint, dass man Alan eher anstarren würde als ihn selbst? Da spürte er plötzlich Rickys Lippen an seinem Ohr, als dieser ihm kaum hörbar zuflüsterte: „Aber Alan fällt zweifellos sofort ins Auge.“
Bevor Paul die Chance hatte nachzufragen, wurde er schlagartig nach hinten umgeworfen, dass er keuchend zusammenzuckte. Prompt legten zwei weiche Lippen auf seine und Hände, die über seine Brust nach unten Richtung Hüfte glitten. Paul konnte gar nicht anders als bei der Berührung vor Vorfreude zu zittern.
„Hübsches Shirt“, murmelte Alan mit rauer Stimme, sodass es fast wie ein Schnurren klang.
Paul grinste und zog dessen Kopf zu einem weiteren Kuss nach unten. Dabei ignorierte sein Hirn gekonnt, dass Alan klitschnass vom See war und folglich jetzt seine Klamotten ebenso völlig durchnässt wurden.
„Danke“, antwortete Rick stattdessen. Das kilometerbreite Grinsen war deutlich aus dessen Stimme herauszuhören.
„Finger weg, von meinem Freund, Ricky!“, fauchte Alan gefährlich, bevor er sich wieder Paul widmete.
„Tonfall, Alan!“, ermahnte André, der scheinbar inzwischen ebenfalls aufgetaucht war, streng.
Ebendieser murmelte nur etwas Unverständliches und zog seine Arme fester um Paul herum, während er dessen Beine auseinanderschob, um sich bequemer dazwischen zu legen.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, bevor Rick sich nicht sonderlich dezent räusperte. „Nur, falls Du es wissen willst, Paul … Jetzt starren euch so ziemlich alle an.“
Ende Teil 2