Kapitel 4 – Ungewohnte Erkenntnis
Das Nächste, was Paul hörte, war der Klang von Männerstimmen, Lachen, Gläser, leise Musik. Der Geruch von Alkohol und Schweiß lag in der Luft. Wo war er? Neugierig versuchte er, sich aus Alans Griff zu befreien. Der ließ ihn sofort los. Doch kaum war Paul frei, traute sich er nicht, sich von dem Pfleger zu lösen.
Seine Hände krallten sich weiter in Alans Hemd. Der schob Paul erneut vorwärts, bis er irgendwo gegen stieß. Nach kurzem Tasten war er sich sicher, dass es ein relativ hoher Stuhl war. Etwas umständlich – und mit Alans Hilfe – gelang es ihm, sich zu setzen.
„Hey! Das ist doch ...! Mein Gott, Paul! Dich habe ich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen!“
Diese Stimme ... Paul kannte sie, aber er konnte sie zunächst nicht zuordnen. Wo war er hier? Dieser Geruch, die Musik, die Leute? Was hatte das zu bedeuten? Ein Klub? Aber Paul war selten in solchen Läden gewesen. Eigentlich nur wenn Jannik darauf bestanden hatte.
Eine Bar? Moment! Etwa ...
„Ein Helles, oder? Na wie wär’s. Geht aufs Haus, weil du dich so lange nicht hast blicken lassen!“
„Alex ...“, keuchte Paul überrascht.
Ohne zu antworten, drehte er den Kopf und horchte weiter in den Raum. War er echt im Rush-Inn? Wieso hatte Alan ihn hierher gebracht? Wusste er, dass Paul schwul war? Er konnte sich nicht erinnern, es erwähnt zu haben, aber am Anfang seiner Zeit dort, war Jannik ja vorbei gekommen. Redete man über ihn im Heim?
Kalter Schweiß bildete sich unter Pauls Händen. Hastig wischte er sie an der Hose ab. Wieso tat Alan das an? Jetzt würde ihn Alex so sehen. Womöglich andere. Was, wenn Jannik hier auftauchte?
Der hatte Paul ja schon kurz nach seiner Einlieferung in das Pflegeheim verlassen. Das war inzwischen Monate her. Wahrscheinlich hatte Jannik längst einen anderen. Zumindest würde er sich irgendwo amüsieren. Seinen Spaß haben, ein Leben leben, das Paul sich auch einst ausgemalt hatte. Vor endlos erscheinenden vier, vielleicht fünf Monaten.
„Und du, Alan?“
„Eine Cola, wie immer.“
Moment, woher kannte Alex denn Alans Namen? Der irre Pfleger war doch gerade erst im Heim aufgetaucht. Außerdem hatte er gesagt, dass er nicht lange in der Stadt war.
‚Noch nicht lange wieder‘, korrigierte Pauls Geist ihn umgehend.
Ehe er dazu kam doch endlich eine der tausend Fragen, die ihm durch den Kopf gingen zu stellen, legte Alan Paul eine Hand auf die Schulter.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du wieder mehr unter Menschen gehen solltest. Und nachdem du dich nicht gerade gewehrt hast ... Nun, ich muss zugeben, das war der einzige einigermaßen passende Ort, der mir einfiel.“
Paul hörte das verhaltene Lachen, das ihn den ganzen Vormittag begleitet und am Nachmittag so schmerzlich gefehlt hatte.
„Warum?“
Es war die erste Frage, die Paul von den Lippen kam, die einzige, die ihn in diesem Augenblick interessierte. Wieso war er hier? Warum hatte Alan ihn hergebracht? Er hatte hier nichts zu suchen. Oder irgendwo sonst, wo ihn fremde Menschen sehen konnten.
Beschämt tastete Paul vor sich und drehte sich herum, bis er den Tresen genau vor seinem Bauch spürte. Er senkte den Kopf. Wenn die Leute ihn sahen, erschraken sie garantiert. Die Narbe an Pauls Schläfe, das grauenvolle Auge in seinem Schädel. Das alles wirkte sicher furchtbar auf die Gäste, auf Alex.
„Weil du endlich damit aufhören musst, dich zu verkriechen“, antwortete Alan. „Auch wenn du das vielleicht bedauern solltest. Du bist immer noch am Leben.“
Paul kniff die Lippen zusammen. So direkt hatte ihn bisher niemand darauf angesprochen. Nicht einmal die dämlichen Ärzte, mit denen er immer wieder reden musste. Trotzdem schwieg er. Woher wollte der Blödmann da drüben denn bitte wissen, wie Paul sich fühlte?
„Ich kann mir nicht vorstellen, was du durchgemacht hast“, fuhr Alan fort, als würde er auf Pauls unausgesprochene Frage antworten. „Dein ganzes Leben ist auf den Kopf gestellt worden, das ist mir klar.“
Und das hier sollte helfen, das wieder in Ordnung zu bringen? Wer hatte den Irren ins Heim gelassen?
„Aber du lebst noch, Paul. Gib dich nicht auf. Es gibt garantiert einen Weg, wie du wieder auf die Beine kommen kannst. Wir müssen nur daran arbeiten. Und ich würde dir gerne dabei helfen.“
Alans Stimme war wesentlich ernster. Diesmal machte er keinen Spaß, versuchte nicht Paul nur aus der Reserve zu locken.
„Du hast recht. Du weißt gar nichts. Sieh mich doch an!“, zischte Paul wütend zurück. „Ich bin jedem nur eine Last. Ich kann mich nicht einmal mehr alleine waschen. Wer will diese Abscheulichkeit denn sehen?“
Paul keucht und schlug sich die Hand vor den Mund, während er versuchte, seine aufbrausenden Emotionen unter Kontrolle zu bringen.
„Ich bin abstoßend“, presste Paul gequält heraus. „Dieses beschissene Auge. Wozu brauch ich es schon? Es sieht furchtbar aus. Nur dazu gut, um die Entstellung ein Stück weit zu verbergen. Damit die Leute nicht sofort das Kotzen kriegen, wenn sie das Loch in meinem Schädel sehen. Sondern erst, nachdem sie drei Sekunden länger darauf gestarrt haben.“
„Das stimmt nicht. Und Verbitterung bringt dich nicht weiter.“
Das hatte gesessen. Paul zuckte getroffen zusammen. Verbittert? Etwa weil ihn alle verlassen hatten? Weil er allein war und es immer bleiben würde? Wo waren denn bitte die Arme seines Freundes, wenn er abends ins Bett kletterte? Wo waren die Sicherheit seiner Familie, die Freude und die Geborgenheit, die vor sechs Monaten zu seinem Alltag gezählt hatten? Wo war die Zukunft, von der er geträumt hatte? Wie konnte dieser Kerl es wagen?! Alan wusste nichts von ihm. Er kannte Paul nicht, hatte ihn heute zum ersten Mal gesehen.
„Arschloch!“, fauchte Paul wütend zurück.
„Dieses Arschloch hat dich angesehen, Paul. Und im Gegensatz zu dir kann dieses Arschloch noch sehen. Was dieses Arschloch jedoch nicht sieht, ist ein grauenhaft entstelltes Auge oder furchterregende Narben. Paul, du kannst dich selbst nicht sehen – noch nicht. Vielleicht wirst du das auch nie wieder. Aber wieso glaubst du nicht jemandem, der es nur gut mit dir meint, dass du eine völlig falsche Vorstellung hast?“
Einen Augenblick hielt Alan inne, dann ergriff dieser Pauls Oberarm und fuhr fort: „Warte, ich beweise es Dir! Alex?! Alex, sieh dir Paul bitte mal an. Fällt dir an seinem Gesicht was auf?“
„Hm ... Nö. Ah ... doch, jetzt. Da ist eine kleine Narbe an der Schläfe oder? Hast du dich verletzt? Warst Du deshalb nicht mehr da? Ich hoffe, nichts Schlimmes.“
Paul antwortete nicht, war zu verunsichert, um ein Wort herauszubekommen.
„Na, zum Glück scheint’s dir besser zu gehen! Moment, ich komme! Einen Augenblick, bin gleich wieder da, Leute!“
Offenbar verschwand Alex erneut. Paul schüttelte den Kopf. Nein, das war abgesprochen. Alan war vorher hier gewesen und hatte Alexander aufgetragen, das zu sagen. Der musste sein grässliches Auge sehen. Wie könnte er das nicht?
„Bitte hör mir wenigstens zu“, versuchte es Alan erneut eindringlich aber mit sanfter Stimme. „Wir sind nicht mehr im Mittelalter, wo man den Leuten Murmeln in den Kopf gesteckt hat. Die heutige Technik ist viel weiter. Bitte glaube mir. Wenn man es nicht weiß, muss man schon zehn Mal genau hinsehen, um etwas zu entdecken.“
Paul schwieg. Alex hatte keinen Grund, ihn zu belügen. Trotzdem fiel es ihm schwer an die Worte der beiden Männer zu glauben, zumal er Alan nicht kannte.
„Ich will nicht ...“, flüsterte Paul leise.
„Was willst du nicht?“ Alans Stimme war wieder weich und sanft. Er legte eine Hand sich auf Pauls Schulter und strich ihm beruhigend darüber.
Diesem fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Wieso war der Kerl so verdammt freundlich? Warum tat er das? Sie kannten sich doch gar nicht. Paul wollte das nicht. Der Typ sollte aufhören, so nett zu sein, sonst würde er tatsächlich noch anfangen, ihn zu mögen. Aber irgendwann würde Alan verschwinden, ihn verlassen, so wie alle anderen.
„Ich will allein sein. Ich will nicht, dass du nett bist. Ich will nicht, dass du mit mir befreundet bist.“
„Warum?“
Paul seufzte. Alan verstand es offenbar nicht, ohne dass er es klar und eindeutig sagte.
„Ich will keine Freunde mehr“, antwortete er schließlich mit heiserer Stimme. „Irgendwann sind sie sowieso weg.“
Paul senkte den Kopf ein Stück weiter. Sollte Alan ihn doch für einen Trottel oder einen Jammerlappen halten. Das war ihm egal. Dann würde er zumindest sein Interesse verlieren und aufhören, ihn so zu umsorgen.
„Ich erwarte nicht, dass du in mir einen Freund siehst“, erwiderte Alan leise.
Paul zog sich der Magen zusammen. Was war es dann? Warum hatte Alan ihn hierher gebracht, sollte er nicht irgendetwas davon erwarten?
„Aber ich würde mich freuen, wenn du mich wenigstens ein stückweit akzeptierst. Im Übrigen habe ich nicht vor, so schnell zu verschwinden. Bin schließlich gerade erst zurückgekommen.“
Schweigend hockte Paul auf seinem Stuhl. Was sollte er darauf sagen? Alan war es offenbar egal, was er wollte. Und von hier kam er alleine nicht weg. Zusammengesunken saß er da und nippte von Zeit zu Zeit an seinem Bier. Paul war den Alkohol aber nicht mehr gewohnt und so reichte das eine Glas aus, um ihn die Wirkung spüren zu lassen.
Alan bemerkte das scheinbar. Jedenfalls sagte er Paul, nachdem der sein Glas geleert hatte, dass sie gehen würden. Ein Gespräch war nicht mehr aufgekommen. Auch die Rückfahrt verlief schweigend.
Die ganze Zeit über wiederholten sich Alans Worte in seinem Kopf. Wie ein Endlosschleife, die Paul immer wieder dazu aufforderte, irgendwo in diesem jämmerlichen Leben einen Sinn zu sehen. Aber der war nicht da. Zumindest reichte die Ablenkung, damit Paul von der Rückfahrt kaum etwas mitbekam.
Erst kurz vor ihrer Ankunft wurde ihm wieder bewusst, wo er sich befand. Sofort krallte er die Hände in den Sitz. Doch da hielt Alan den Wagen bereits an und erklärte ihm, dass sie das Heim erreicht hätten.
Paul wusste nicht, wie spät es war, als sie wieder in seinem Zimmer ankamen. In gewisser Weise war er aber froh, dass der Tag endlich ein Ende haben würde.
Als sein Pfleger half Alan Paul dabei, sich auszuziehen, und steckte ihn dann ins Bett.
„Kommst du für heute Nacht klar?“, fragte Alan leise.
Paul biss die Zähne zusammen, bevor er trotzig den Kopf in Richtung der Wand drehte.
„Lass mich in Ruhe.“
„Schlaf gut“, flüsterte Alan, bevor er zurücktrat. Kurz darauf fiel die Tür ins Schloss.
„Gute Nacht ...“, murmelte Paul verhalten und kuschelte sich in seine Decke.
Es war vorbei. Mit seiner Ablehnung hatte er Alan hoffentlich endlich davon überzeugt, dass jeder weitere Versuch unnütz war. Eigentlich müsste Paul zufrieden sein. Schließlich hatte er das, was er wollte.
Doch die erhoffte Erleichterung stellte sich nicht ein. Stattdessen war da nur noch Leere, Enttäuschung und Einsamkeit – mehr als je zuvor. Denn diesmal war Paul nur zu bewusst, dass ihm diese nicht ungewollt aufgezwungen worden war. Er hatte sie sich freiwillig ausgesucht.
„Es ist besser so“, flüsterte Paul leise, versuchte sich selbst davon zu überzeugen.
Aber es half nicht. Je länger er in der Dunkelheit lag, desto klarer wurde ihm, wozu seine Ablehnung führen würde. Alan würde noch eher verschwinden. Wer wollte schon mit jemandem arbeiten, der einen dermaßen ablehnte? Das hieß: Keine Hände mehr, die Paul über den Arm strichen. Niemand, der ihn auffing, sollte er stolpern. Die Hilfe war weg, genau wie Alan.
Viel später als sonst schlief Paul schließlich ein. Aber der Schlaf war unruhiger als ohnehin schon. Das ungute Gefühl im Magen wurde stetig stärker. Vor allem blieb die Sorge, dass er womöglich doch einen Fehler damit gemacht hatte, Alan so vehement abzuweisen.
„Hey. Herr Feldmann! Sie sind ja noch gar nicht wach.“, riss Paul Stunden später eine Stimme aus dem Schlaf.
Erschrocken fuhr er herum, brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Erst danach wurde Paul bewusst: Er hatte geschlafen. Ohne Albtraum. Stirnrunzelnd versuchte er, sich daran zu erinnern, was er geträumt hatte. Nichts. Keine Bilder vom Unfall.
Mit festem Griff zog eine Hand Paul nach oben. Er ächzte vor Überraschung auf. Da war nichts Weiches oder Sanftes in dieser Berührung, nur Routine und Effizienz. So ganz anders als es am Vortag gewesen war.
Eine ungewohnte Stimme, eine fremde Hand. Ein weiterer Unbekannter, der an Paul zog und ihn ungeduldig herumschubste, bis er endlich im Bad war. Dort drückte er ihm eine Zahnbürste in die Hand. Danach sollte Paul sich waschen. Doch er roch noch immer den Alkohol und Schweiß an seinem Körper und bestand auf eine Dusche.
Der Pfleger war gar nicht begeistert und murrte. Trotzdem ließ Paul sich nicht davon abbringen und bekam seinen Willen. Dafür zerrte der Kerl ihn anschließend regelrecht durch den Gang bis zum Speisesaal.
„Bitte beeilen Sie sich etwas mehr. Wir sind spät dran.“
„Wofür?“, fragte Paul erstaunt.
Er hatte nicht gewusst, dass heute irgendwelche Termine anstanden. Oder hatte er es nur vergessen? Seit er blind war, wurde die Terminplanung zu einem größeren Problem. Es waren seine Pfleger, die wussten, wann Paul wo zu sein hatte. Da ihm die Termine normalerweise ohnehin egal war, hatte Paul seinerseits sich auch nie wirklich bemüht, daran etwas zu ändern.
„Psychotherapie.“
Ein Irrenarzt? Das war neu. Vor allem hatte Paul noch nie davon gehört, dass er zu einem gehen sollte. Angewidert verzog er den Mund. Er brauchte keinen Seelenklempner, der ihm sagte, dass alles wieder gut werden würde. Wurde es ja eh nicht. Wozu der Aufwand?
„Steht auf Ihrem Plan. Also bitte schnell, ich habe eigentlich einen anderen Patienten und der wartete auf mich.“
Was hatte das jetzt zu bedeuten? Eine Aushilfe? Wieso das denn? Wie ein Schlag in den Magen wurde Paul bewusst, dass er selbst für diese kurzfristige Planänderung verantwortlich war. Wahrscheinlich wäre jemand anderer hier, wenn er den nicht am Vorabend dermaßen harsch abgewiesen hätte.
„Wo ist Alan?“, fragte Paul, nachdem ihn der fremde Pfleger direkt nach dem Frühstück erneut anfing, ihn durch die Gänge zu drängen.
Da der Mann zu schnell lief, stolperte Paul ständig. Das ungute Gefühl, jederzeit hinfallen zu können, war beunruhigend. Am liebsten hätte er sich losgerissen und wäre stehen geblieben, doch die Hand des Fremden umklammerte seinen Oberarm mit solcher Kraft, dass es beinahe schmerzte.
„Alan? Kenn ich nicht. Aber das hier ist eigentlich nicht meine Station.“
Na toll, was für eine so gar nicht hilfreiche Antwort. Der Kerl war augenscheinlich nicht einmal aus dieser Abteilung. Sie schicken ihm einen Trottel, der nichts über Paul wusste, der ihn zu irgendeinem Irrenarzt schleifte und der Kerl kannte nicht mal die Pfleger von dieser Station.
‚Du wolltest es so‘, hämmerte es einmal mehr durch Pauls Schädel.
Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Der Pfleger öffnete eine Tür und schob Paul so lange vorwärts, bis der an einen Sessel stieß. Vorsichtig tastend ließ er sich hineinfallen und wartete ab.
„Ah, hallo, Herr Feldmann!“
Die Stimme kannte er. Das war irgendeiner aus der Verwaltung von dem Laden hier. Der Mann hatte schon öfter versucht, mit Paul zu sprechen, dieser sich jedoch jedes Mal verweigert. Genauso wie er es jetzt tun würde. Er brauchte keinen Irrenarzt.
Er brauchte niemanden. Das hatte er Alan schließlich letzte Nacht gesagt. Und genau deshalb war der in diesem Augenblick nicht hier.
‚Besser gleich als später‘, versuchte er sich einzureden, konnte aber das Zittern, das durch seinen Körper wandern wollte kaum noch aufhalten.
Paul presste die Lippen aufeinander und verschränkte die Arme vor der Brust. Er musste sich zusammenreißen! Ganz sicher würde er zu diesem dämlichen Spiel, was die mit ihm hier trieben, nicht auch noch etwas sagen.
„Ich habe mich mit Ihren Ärzten beraten und wir sind der Meinung, dass Sie mehr Hilfe brauchen, als wir Ihnen bisher haben geben können“, erklärte der Mann, nachdem der fremde Pfleger gegangen war.
Zumindest nahm Paul an, dass er weg war, als er hörte, wie jemand die Tür schloss.
„Deshalb habe ich einen weiteren Kollegen hinzugezogen.“
„Was?“
Der Typ vom Heim ignorierte Paul und fuhr fort: „Doktor Koch ist Psychotherapeut. Er hat sich Ihre Unterlagen genau angesehen und Sie auch schon ein paar Wochen beobachtet. Jetzt hat er mich angesprochen, dass er die Sitzungen mit Ihnen gern offiziell beginnen würde. Bitte versuchen Sie wenigstens, mit ihm zusammen zu arbeiten, Herr Feldmann. Es ist ehrlich nur zu Ihrem Besten.“
Der wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Etwas anderes, als es fürs Erste zu akzeptieren, konnte er eh nicht machen. Also gab Paul nach und nickte. Konnte ihn immerhin niemand zwingen, mit dem Typen mehr zu reden als mit den anderen Ärzten. Selbst, wenn man ihn offenbar für verrückt hielt, musste er weder mit diesen Leuten zusammenarbeiten, noch ihnen überhaupt auf irgendeine Art und Weise entgegenkommen.
Letztendlich würde sich an seiner Situation nichts ändern lassen. Er saß hier fest. Auf die Müllhalde geschmissen, wo er für den Rest seiner Tage dahinvegetieren konnte. Zu mehr war Paul ja ohnehin nicht in der Lage.
Für einen Moment wünschte er sich, dass es gestern doch nicht Alan gewesen wäre, der ihn aus dem Heim geholt hatte. Dass er in der Hinsicht nicht auf Jannik hoffen konnte, war klar. Insofern war Paul sich nicht sicher, was er sich stattdessen gewünscht hätte. Der Gedanke, dass nicht nur sein geplantes Leben, sondern seine ganze Existenz einfach aufhören würde, war beängstigend. Aber immerhin hätte er es so endlich hinter sich.
„Herr Feldmann?“, fragte der Typ vom Heim leise. „Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?“
Paul runzelte die Stirn, während er stumm nickte. Was sollte daran so schwer zu verstehen sein? Ein weiterer Arzt, noch ein Therapeut, ein sinnloser Versuch das hier zu einem Leben zu deklarieren. Lächerlich.
Doch bei dem Gedanken musste er schon wieder an Alan denken. Dieser viel zu fröhliche und nette Kerl, der auf seine eigene irre Weise versucht hatte, Paul zumindest für einen Abend aus all dem hier herauszureißen.
‚Und du hast ihn dafür weggejagt.‘
Scheinbar erfolgreich genug, dass der Kerl heute Morgen nicht einmal mehr zum Dienst gekommen war. Zumindest hatte er sich nicht weiter um Paul kümmern wollen. Genau wie Jannik und seine Großeltern das nicht gewollt hatten. Weil es niemandem zuzumuten war. Nicht einmal, wenn man dafür bezahlt wurde.
Paul hörte, wie die Tür erneut ins Schloss fiel. Offenbar hatte der Typ vom Heim ebenfalls den Raum verlassen. War der Psychofreak bereits hier? Beobachtete er ihn? Hatte der Doktor nicht sogar irgendetwas davon gesagt, dass der Typ das schon eine Weile getan hätte? Wie lange genau? Einige Tage, Wochen, Monate? Wo war der Kerl? Weshalb sagte er nichts?
Paul wurde nervös und knetete an seinen Händen herum. Warum war es so still?
„Hallo?“, fragte er vorsichtig.
Dabei hätte Paul sich am liebsten selbst in den Arsch dafür getreten, dass seine Stimme dermaßen jämmerlich klang.
„Sind Sie hier? Doktor Koch? Uhm ... Könnten Sie bitte was sagen?“
Doch das Schweigen hielt an. Vielleicht war der Kerl ja gar nicht hier. Die Unruhe wuchs in Paul. Warum war er allein? Sollte nicht zumindest ein Pfleger hier bei ihm bleiben? Was, wenn er auf Toilette musste? Wer kümmerte sich denn jetzt um ihn? So sehr Paul sich normalerweise wünschte, dass ihn alle in Ruhe ließen, diese mit einem Mal greifbar werdende Einsamkeit war beängstigend.
„Hallo?“
Die Unsicherheit und die Angst waren jetzt deutlich in seiner Stimme zu hören. Allein, ganz allein. Niemand war hier, keiner würde ihm helfen. Der Mann, der das gestern versucht hatte, war von Paul postwendend weggeschickt worden.
‚Idiot!‘
Wäre er netter gewesen, würde Alan womöglich hier neben ihm sitzen und ihn beruhigen. Und ja, Paul wollte in diesem Moment jemanden hier haben, der ihm wie einem kleinen Kind die Hand hielt.
Er schlang die Arme um seinen Körper und versuchte, mit tiefen Atemzügen die Panik herunterzudrücken. Nein, er hatte Alan weggeschickt und das war gut so! Dummerweise fühlte es sich überhaupt nicht richtig an. Paul schluckte und schüttelte den Kopf.
‚Hör auf!‘, versuchte er sich immer wieder zu sagen. ‚Reiß dich zusammen! Besser jetzt, als in ein paar Wochen oder vielleicht auch Monaten.‘
Die bleierne Leere fing an, sich weiter in Paul auszubreiten und die Verzweiflung aus den ersten Stunden seiner Dunkelheit kehrte immer stärker zurück. Er wollte jemanden an seiner Seite haben. Einen Menschen, bei dem er zumindest das Gefühl hatte, als würde er es ehrlich meinen. Aber der einzige, der Paul dabei in den Sinn kam, war dieser unwirklich gut gelaunte und fröhliche Kerl vom Vortag. Der, der gesagt hatte, er würde ihn nicht einfach aufgeben.
„Schon gut“, flüsterte eine tiefe, freundliche Stimme.
Die Hand eines anderen Mannes streichelte sanft über Pauls linken Handrücken. Diesmal konnte der das Zittern nicht unterdrücken. Er öffnete den Mund, um zu sagen, dass er nicht mehr einsam sein wollte. Selbst auf die Gefahr hin, dass sich das irgendwann ändern würde. Aber kein Wort schaffte es über seine Lippen.
„Ich bin hier. Bleib ruhig. Du bist nicht allein. Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht mir nichts dir nichts verschwinde. So einfach wird man mich nicht los.“
Er keuchte, konnte aber das erleichterte Auflachen nicht unterdrücken. Alan! Er war hier. Und zum ersten Mal seit Monaten war Paul bereit, jemandem zu glauben.