Kapitel 9 – Unangemessene Bitte
Obwohl er Paul im Grunde nur fröhlich und zufrieden sehen wollte, kam Alan nicht umhin sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, wenn er mit Paul zusammenkommen könnte. Dann wäre es okay, hier zu sitzen. Aber so, wie es stand, war er eben Pauls Therapeut. Dass sie hier saßen, war schon falsch genug. Sich da immer weiter hinein zu steigern, würde nichts helfen, denn letztendlich änderte das die Tatsachen nicht.
Und die Realität war nun einmal, dass das hier kurz davor unethisch zu werden. Erst jetzt, nach dem Gespräch mit André wurde Alan klar, wie sehr sein Tanz auf der Grenze der Professionalität inzwischen zum Drahtseilakt geworden war. Egal wie sicher er sich war, dass es Paul half und seiner Heilung eher förderlich als abträglich sein würde. Es war dennoch nicht in Ordnung und es wäre besser, damit aufhören, bevor es zu spät war.
„Du musst dich entscheiden, was dir wichtiger ist“, hallten Andrés Worte noch immer durch seinen Kopf.
Die Frage war leichter zu beantworten, als er sich eingestehen wollte. Es war Paul. Aber ohne den Job im Heim würde er den nicht mehr sehen, könnte Alan ihm nicht helfen. Es gab nichts zu entscheiden.
Langsam lief Alan zurück zu ihrem Tisch und zog sich seinen Stuhl heran. Er saß inzwischen so nah neben Paul, dass er die Wärme von dessen Körper förmlich spüren konnte. Hastig griff Alan nach seiner Cola. Er durfte sich nichts anmerken lassen. Weder Rick noch Paul gegenüber. Trotzdem spürte er die ganze Zeit Andrés stechenden Blick auf sich.
Das Gespräch lief weiter und zum Glück verhielt sein alter Studienfreund sich vollkommen normal, sodass auch Alan schnell wieder in lockerer wurde. Aber irgendwann wurde es spät.
André und Rick verabschiedeten sich lachend von ihnen und meinten, dass es Zeit für sie würde aufzubrechen. Zwar musste André erst zur Spätschicht im Krankenhaus sein, aber offenbar wollte Ricky am folgenden Morgen pünktlich auf Arbeit erscheinen. Das Angebot, sie nach Hause zu fahren, lehnten sie trotzdem ab.
Paul verabschiedete sich zwar zurückhaltend von den beiden Männern, schwieg sich ansonsten aber aus, wie er es die meiste Zeit des Abends gemacht hatte. Trotzdem hatte er während der vergangenen Stunden auf Alan einen zufriedenen, beinahe glücklichen Eindruck gemacht.
Auf der Fahrt zurück, saß Paul allerdings zusammengesunken neben ihm auf dem Beifahrersitz. Nichts mehr da von der vermeintlichen Fröhlichkeit. Von einer Sekunde auf die andere schien sein Schützling von der sprichwörtlichen Manie in die Depression zu fallen. Dabei hatte Paul bisher nie manisch-depressive Anzeichen gehabt. Zugegeben, der war meistens zurückgezogen und zeigte mitunter ein deprimiertes Verhalten. Aber von klinischer Depression wollte Alan in diesem Fall nicht sprechen.
Trauer und Resignation – beides nur zu verständlich. Paul hatte seine komplette Familie verloren, seinen Freund, das Augenlicht, sein ganzes soziales Leben, wenn man es genau nahm. Dieser plötzliche Stimmungsumschwung sorgt Alan. Er war versucht zu fragen, zweifelte aber daran, dass er eine Antwort erhalten würde.
Also behielt er seinen Schützling lediglich im Auge – konnte allerdings nicht verhindern, dass der Therapeut in ihm mehr und mehr herausbrach. War es ein Fehler gewesen Paul mit ins Rush-Inn zu nehmen? Alan hatte den Eindruck gehabt, dass es dem jungen Mann gefallen hatte, dass er zwischenzeitlich sogar unbefangener und freier geworden war. Der Ausflug hatte ihm gutgetan, selbst wenn es im Augenblick womöglich nicht so erschien. Diese Wandlung musste andere Gründe haben. Fragte sich nur welche.
Frustriert rieb Alan sich mit der linken Hand über die Stirn. Normalerweise hatte er keine Probleme, die Gedankengänge seiner Patienten nachzuvollziehen. Im Gegenteil. Genau das wurde ihm meistens eher als Stärke ausgelegt. Selbst bei André oder auch nur flüchtigen Bekannten wusste Alan oft instinktiv, was in deren Kopf gerade vorging. Aber bei Paul schien ihm das zunehmend schwerer zu fallen.
‚Du bist zu nah dran‘, ermahnte Alan sich und konzentrierte sich erneut auf den Verkehr.
Glücklicherweise war die Fahrt zurück zum Pflegeheim nicht sehr lang. Dort angekommen, stieg Alan sofort aus und atmete erst einmal tief durch. Es war Zeit, dass er wieder als Arzt handelte, und zwar zu Pauls Bestem.
Noch immer schweigend liefen sie die Gänge des Sanatoriums entlang. Die anderen Bewohner lagen längst in ihren Betten. Das erinnerte Alan jedoch daran, dass sie diesen Ausflug nur durch die Erlaubnis des Heimdirektors hatten machen können.
Um niemanden aufzuwecken bemühte sich Alan, extra leise zu sein, als er die Tür zu Pauls Zimmer öffnete. Vorsichtig schob er diesen anschließend in den dunklen Raum hinein und schaltete für sich selbst das Licht an.
Alan legte seine Hände auf die schmalen Schultern und dirigierte seinen Schützling zum Bett. Danach schloss er die Tür und kehrte zu Paul zurück, um dem beim Umziehen zu helfen.
Dieser stand vor dem Bett, so wie Alan ihn stehen gelassen hatte. Normalerweise hätte Paul sich hingesetzt, damit Alan ihm die Schuhe auszog. Aber etwas hielt ihn augenscheinlich davon ab. Wieder waren da Zweifel, ob er mit dem Ausflug an diesem Abend nicht mehr kaputt gemacht, als geholfen hatte.
„Alan? Was ist die Aufgabe eines Pflegers hier?“, fragte Paul mit einem Mal zögerlich.
Alan stutzte. Wie kam sein Schützling denn auf so eine merkwürdige Frage? Pauls Stimme klang ungewohnt neutral. Die Zweifel, ob dieser Ausflug womöglich doch ein Fehler gewesen war, wurden stärker.
‚Zu müde‘, musste Alan sich aber gleichzeitig eingestehen.
Wahrscheinlich fiel es ihm deshalb heute besonders schwer, Paul einzuschätzen. Schließlich hätte Alan bei jedem anderen behauptet, dass er die für seinen Job äußerst hilfreiche Fähigkeit, dass er meistens wusste, was Leute dachten und fühlten, bevor es diesen selbst klar wurde. Doch Paul war da immer öfter eine Ausnahme. Im Moment war dieser für Alan ein weißes Blatt, auf dem rein gar nichts mehr zu erkennen war. Fast wie es ihm meistens mit seinen eigenen Gefühlen ging.
‚Geradezu ironisch.‘
„Alan?“
Der räusperte sich, zwang seine Gedanken zurück zu Pauls Frage. Der wartete noch immer auf eine Antwort.
„Die Aufgabe eines Pflegers?“, fragte verhalten zurück. „Hm. Sich um die Patienten zu kümmern, schätze ich. Ihnen zu helfen, bei den Sachen, die sie nicht mehr selbst können.“
Paul schwieg. Scheinbar nicht die Antwort, die der sich erhofft hatte. Alan überlegte. Was für Aufgaben hatte ein Pfleger?
„Ich weiß nicht. Im Grunde wohl, das zu tun, wofür der Patient sie braucht.“
Diesmal hob Paul den Kopf. Nervös drehte er sich um. Seine Beine waren wacklig. Alan sah, dass Paul Angst hatte, sich ohne eine führende Hand zu bewegen, aber er machte keine Anstalten, nach Alan zu greifen. Also bot der seine Hilfe bewusst nicht an. Alles, was Paul alleine schaffte, war ein Schritt in die richtige Richtung.
„Das tun, wofür der Patient sie braucht ...?“, wiederholte er Alans Worte.
Der nickte, bevor ihm wieder bewusst wurde, dass sein Gegenüber es nicht sah. Manchmal war es leicht, zu vergessen, dass Paul ihn gar nicht mehr sehen konnte.
„Aber du bist nicht wirklich ein Pfleger“, murmelte Paul verhalten, bevor er wieder den Kopf hob. „Würdest du es trotzdem tun?“
Verunsichert und zunehmend besorgt, verschränkte Alan die Arme vor der Brust. Der Drang, diese stattdessen auszustrecken und Paul in den Arm zu nehmen, wurde allmählich zu groß, als dass er irgendein Risiko eingehen wollte.
Alan räusperte sich und fragte noch einmal nach: „Was meinst du?“
„Wenn ich dich für etwas wirklich bräuchte ... würdest du es für mich tun?“
Wieder warf Alan Paul einen besorgten Blick zu. Eine dunkle Angst erfasste mit einem Mal Alans Herz und quetschte es zusammen. Nachdem er sich so gut amüsiert hatte, würde Paul doch nicht auf dumme Gedanken kommen! In den letzten Monaten war der zwar quasi durchgehend niedergeschlagen, aber Suizidgefahr hatte Alan zu keiner Zeit bei ihm gesehen. Das passte so gar nicht zu Paul. Auch wenn der oft resigniert und sich womöglich irgendwann gewünscht hatte, er wäre mit seiner Familie gestorben, waren da nie Anzeichen dafür, dass Paul sich deshalb das Leben hätte nehmen wollen.
„Würdest du?“
„... Ja ...?“ Es war mehr eine Frage, keine wirkliche Antwort als Alan das einzelne Wort herauspresste. Ohne zu wissen, was Paul von ihm verlangte, wollte er aber nicht definitiv zusagen. „Ich denke schon.“ Eine kleine, ebenso verunsichert gestammelte Einschränkung. Sie würde seinen Schützling nicht vor den Kopf stoßen und notfalls konnte Alan sich so herauswinden.
Nervös trat Paul von einem Bein auf das andere, bevor es förmlich aus ihm herausplatzte: „Schlaf mit mir.“
„Was?!“
„Schlaf mit mir.“
Pauls Stimme war unerwartet gelassen. Er stand direkt vor Alan, den Kopf erhoben, nichts deutete die Scheu an, die er sonst an den Tag legte. Wo war der Mann, mit dem Alan die letzten Monate den Großteil seiner Zeit verbracht hatte?!
Nervös ließ er seinen Blick an Paul auf- und abgleiten. Irgendjemand schien den Geist seines Schützlings mit dem von Rick vertauscht zu haben. Sein Paul war doch sonst nicht so direkt! Schon gar nicht wenn es um so etwas ging. Davon abgesehen, hatte Alan nie das Gefühl gehabt, als hätte Paul irgendein Interesse an ihm gehabt, dass auf so eine Entwicklung hindeuten würde.
„Ich ... das ... das geht nicht. Ich meine ... ich bin ...“
Was eigentlich? Pauls Arzt? Sein Pfleger? Der Kerl, der ihn unter anderen Umständen schon vor ein paar Wochen hätte flachlegen wollen, obwohl es absolut unethisch war auch nur daran zu denken? Nicht zu vergessen, der Wichser, der viel zu feige war, das bis zu dieser Sekunde wenigstens sich selbst gegenüber zuzugeben.
„Du stehst auf Männer. André hat gesagt, dass du keine Beziehung hast. Und bei der Zeit, die du mit mir verbringst, kannst du nicht gerade oft dazu kommen auszugehen.“
Fuck! Warum zum Teufel klang Paul mit einem Mal dermaßen emotionslos. Es ging hier nicht um ein paar Pillen zum Einschlafen. In Alans Brust hämmert es derweil heftiger, als es sollte. Sein Blick hing auf Pauls Gesicht. Keine Regung – jedenfalls konnte Alan keine mehr erkennen. Aber das ging ihm ja schon den halben Abend so.
‚Bleib auf der richtigen Seite!‘, ermahnte ein Teil von Alan ihn laut schreiend.
Während ein anderer Teil von ihm leise und verführerisch flüsterte, dass niemand je davon erfahren würde. Es war Paul, der danach fragte. Es wäre keine Vergewaltigung, kein Missbrauch. Schon vor Monaten hatte Paul seinen 20. Geburtstag ‚nicht gefeiert‘. Erwachsen war er und nach Alans bisher stets gegenüber der Heimleitung vertretenen Ansicht ebenso im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.
„Das ...“, setzte Alan erneut an, konnte den Satz aber ein weiteres Mal nicht beenden.
Der Mann war sein Patient und das macht die ganzen anderen Argumente rasendschnell zunichte. Es wäre nicht nur idiotisch sich auf so etwas einzulassen, es würde diese ominöse Grenze so weit überschreiten, dass Alan sie nicht mal mehr aus der Ferne erkennen würde.
Der Mann vor ihm hatte gerade einmal zwei Bier getrunken. Es konnte nicht der Alkohol sein, der da aus ihm sprach. Ganz abgesehen davon, wirkte Paul wesentlich ruhiger und gefasster, als Alan sich im Augenblick fühlte. Ein Zittern lief durch dessen Körper, als er für einen Sekundenbruchteil, den Gedanken zuließ, dass es irgendeinen Weg gab, um dieses Gespräch alleine zu rechtfertigen.
„Du hast gesagt, Du würdest mir helfen, wenn ich dich für etwas brauche“, meinte Paul jedoch ruhig. „Ich brauche das.“
Kein Flehen, kein Betteln, kein Funke Leidenschaft. Alan fuhr sich mit der Hand über die Augen. War es das, was Paul wollte? Nur Sex, ohne jede Form von Emotionen?
Scheiße, er wusste doch selbst nur zu gut, was das hieß. Jemanden suchen, mit dem man sich adressieren konnte, ohne über irgendwelche Konsequenzen nachdenken zu müssen. Ein Wunder, dass bei Wikipedia unter dem Stichwort ‚Sexbuddy‘ noch kein Bild von ihm prangte. Wozu hatte Alan so ziemlich jede halbwegs brauchbare Datingapp auf seinem Handy? Doch nur dazu, um jemanden zu finden, mit dem er sich für eine Nacht treffen konnte. Dampf ablassen und in der Regel nicht wiedersehen. Unverfänglicher, anonymer Sex – der Inbegriff von Alans Sexuallebens.
Aber wenn er Paul ansah, wenn er daran dachte, was er von dem über seine Beziehung zu diesem Arsch ‚Jannik‘ gehört hatte, dann war das nicht das, was Paul suchte. Nicht das, was zu ihm passte und schon gleich gar nicht das, was Alan sich für ihn wünschen würde. Also, was würde passieren, falls er Pauls diesen einen Wunsch abschlug?
Würde er die gleiche Frage einem anderen Pfleger stellen, sobald er sich bei jemandem auch nur halbwegs sicher fühlte? Die Vorstellung drehte Alan den Magen um.
„Ich ... das geht nicht, Paul. Du bist mein ... Patient“, presste Alan trotzdem heraus.
Doch kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, erinnerte er sich an das, was André ihm an diesem Abend gesagt hatte: „Wenn nur dieser Job zwischen euch steht, musst du dich entscheiden, was dir wichtiger ist.“
Als ob es da irgendetwas gäbe, worüber Alan überhaupt hätte entscheiden können. Ohne seine Arbeit hier im Heim würde er Paul nicht mehr helfen können.
Dem schien Alans Einspruch hingegen vorerst ziemlich egal zu sein. Zumindest zögerte Paul nicht, den obersten Knopf des Hemdes, das dieser trug, zu ergreifen und zu öffnen. Wie gebannt starrte Alan auf die filigranen Finger, die sich zögerlich zum nächsten Knopf vorwagten.
„Nein. Nicht! Ich ...“, setzte Alan an, brachte allerdings auch diesen Satz nicht zu Ende. Er hätte nicht einmal sagen können, wen von ihnen er damit ermahnte. Sich selbst, weil er überhaupt darüber nachdachte oder Paul, der sich dermaßen untypisch verhielt.
Alan schluckte. Ein Teil von ihm wollte, durfte aber natürlich nicht. Dabei erschiene es doch nach dieser Nicht-Verabredung beinahe unpassend, zu zögern. Es war schließlich den halben Abend über nur zu einfach gewesen, sich vorzustellen, dass sie wirklich auf einem Date waren.
Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem André ihn – berechtigterweise – auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte. Alan starrte auf den immer sichtbarer werdenden Bereich blasser Haut, als Paul einen Knopf nach dem anderen öffnete. Gott, der Mann musste aufhören! Aber das tat er nicht. Das Hemd fiel zu Boden und Paul stand mit nacktem Oberkörper vor ihm.
Täglich hatte er im Bad beobachtet, wie Paul den Lappen über seine Haut gleiten ließ. Wie oft hatte Alan nachts die Augen geschlossen und die eigene Hand dort gesehen? Heimliche, verbotene, absolut untragbare Gedanken und trotzdem waren sie immer wieder aufgestiegen. In den Stunden, in denen Alan zu müde war, um das Handy zu zücken und sich jemanden zu suchen, der ihm diesen Wahnsinn aus dem Hirn trieb.
Also hatte er sie zugelassen – in der irrigen Hoffnung, dass sie so verschwinden würden. Die Fragen danach, ob es jemals hätte anders laufen können. Wenn Paul sich nicht so abkapseln würde, hier rauskam und sie irgendwann nicht mehr Arzt und Patient waren.
Alan schloss die Augen und trat plötzlich einen zögernden Schritt vor. Seine Hände legten sich auf Pauls nackte Schultern. Die Wärme der Haut schien sich förmlich in seine Handflächen zu brennen. Als wäre es eine Warnung, die Grenze nicht doch noch zu überschreiten. Aber gleichzeitig war es genau die Form von Wärme, nach der Alans eigener Körper verlangte.
André hatte es gesehen, es ausgesprochen. Diese Wahrheit, die Alan nicht hatte akzeptieren wollen, obwohl sie eindeutiger nicht hätte sein können.
„Bitte! Nur dieses eine Mal.“
Diesmal klang Pauls Stimme nicht neutral. Sie war gebrochen und erstickt. Er hob die Hand und klammerte sich nach kurzer Suche an Alans Hemd. So als wollte er diesen festhalten, damit der ihm nicht entkam.
„Ich ... ertrage das nicht mehr, Alan. Und du bist der Einzige, den ich fragen kann.“
Erschrocken sah dieser wieder auf. Eine Träne schimmerte an Pauls rechtem Auge. Sie weigerte sich jedoch, zu fallen. Vorsichtig hob Alan seine Hand und wischte sie weg, nur um kurz darauf über Pauls Wange zu streichen. So glatt, beinahe weich. Der Tag hatte nicht gereicht, um raue Stoppeln hervorzubringen. Alan löste sich von Pauls Wange und umfasste nun dessen Hand, die sich noch immer in sein Hemd krallte. Er musste das hier beenden. Jetzt!
„Bitte, Alan ...“
Das Flehen in Pauls Stimme war zu viel. Alan brachte die Worte nicht über die Lippen. Der Gedanke, dass Paul sich morgen dem nächstbesten Typen an den Hals warf, nur für ein bisschen Sex war nicht zu ertragen. Paul hatte ihn gefragt. Weil er Alan vertraute, ihn brauchte. Hierfür.
‚Woher kommt das auf einmal?‘, fragte ein Teil von ihm, während der andere ihn für den halbherzigen Versuch sich abzulenken, schallend auslachte.
Er war schon viel zu nah an dieser beschissenen Grenze, die zwischen ihnen stehen sollte. Eine verdammte rote Linie, die im Dunkel der Nacht leider zu oft nicht mehr zu erkennen war. Spielte es überhaupt noch eine Rolle, warum Paul danach fragte?
Langsam zog Alan Pauls Hand nach unten, sah wie sich dessen Kopf, im gleichen Maße enttäuscht senkte.
‚Nein‘, dachte Alan. ‚Machte es nicht.‘
Es war so leicht, sich einzureden, dass es nur eine Verlängerung des Weges war, den er bis hierher bereits mit Paul gegangen war. Der sollte die Lust am Leben wieder finden. Ganz offensichtlich wurde dafür noch eine andere Sorte von ‚Lust‘ benötigt. War ja nicht so, als würde er Paul ausnutzen. Schließlich hatte der danach gefragt.
‚Heuchler‘, zischte sein Verstand, doch Alan ignorierte ihn. ‚Als ob das hier etwas mit einer Therapie zu tun hat.‘
Und wenn er nicht Pauls Therapeut wäre? Im Grunde doch eine ganz einfache Entscheidung. Oder nicht?
Ehe ein weiterer Einwand in Alans Kopf erhoben wurde, beugte dieser sich vor. Der Moment als er seine Lippen sich sanft auf Pauls legten, musste der Augenblick gewesen sein, an dem Alans Vernunft endgültig das Handtuch warf und sich dafür entschied den Rest der Nacht auszusetzen. Hier hatte Logik offenbar ohnehin nichts mehr zu melden. Um die Konsequenzen würde sein Verstand sich am nächsten Morgen kümmern.