Kapitel 15 – Andere Unsicherheit
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Als Alan das Haus verließ und zu seinem Wagen zurücklief, fühlte er sich mieser als bei der Ankunft. Das Gespräch mit André hatte ihm rein gar nichts gebracht, außer an mühsam verschlossenen Wunden zu ziehen, die Alan sicher nicht aufzureißen gedachte. In einer Sache hatte sein alter Freund allerdings recht: Er musste mit Paul ü reden.
Aber der heutige Abend erschien ihm mehr als unangemessen. Paul wollte schließlich ausgehen, um sich abzulenken. Nur fühlte Alan sich im Augenblick zu aufgewühlt, um dem jungen Mann überhaupt gegenüberzutreten. Nervös fuhr er sich durch die Haare und fluchte leise. Eine alte Dame, die eben an ihm vorbeiging, zuckte erschrocken zurück und funkelte Alan grimmig an. Mit einem Lächeln versuchte er sie zu beruhigen, doch sie hastete weiter und vermied es, ihn erneut anzusehen.
„Scheiße …“, murmelte Alan und stieg dann endlich in seinen Wagen.
Für eine Sekunde sah er Paul vor sich, wie der ihn mit dem gleichen Blick ansah, den die Alte ihm eben entgegengebracht hatte. Der Gedanke schnitt Alan in seine Eingeweide wie ein heißes Messer in Butter.
„Scheiße!“, schrie er erneut und schlug aufs Lenkrad.
Frustriert und mit zitternder Hand zog Alan das Handy aus der Tasche und entsperrte den Bildschirm. Sein Finger schwebte über dem Display, doch dann ließ er die Hand in den Schoß fallen und legte den Kopf aufs Lenkrad. Verflucht noch mal! Wie konnte er behaupten, er würde Paul lieben, wenn der weiterhin diese beschissenen Impulse hatte, etwas ganz anderes zu tun? So ein verdammtes Arschloch war er nicht!
Wozu hatte er bitte vor Monaten beim Arzt den Scheiß Test gemacht? Doch nur um Paul gegenüber unbefangen zu sein und kein so verflucht schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil Alans Leben nun einmal nicht diesem Bilderbuchklischee von Ärzten entsprach, das der sich vorstellte.
Wütend über sich selbst, schmiss er das Handy auf den Beifahrersitz und ließ den Motor an. Eine kalte Dusche, das brauchte er! Alan plante ohnehin, nach Hause zu fahren und sich umziehen, bevor er Paul vom Heim abholte. Danach, das nahm er sich fest vor, würde er diesen Abend mit seinem Freund genießen.
‚Jawohl!‘
Zwei Stunden später fühlte Alan sich etwas besser. Drei Runden um den Block, Rumpfbeugen, Liegestütze und das Eindreschen auf den Sandsack hatten geholfen, um ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen. Anschließend hatte er geduscht, was gegessen und sich vom Fernseher berieseln lassen.
Die düsteren Gedanken waren zum Glück aus seinem Kopf verschwunden und er freute sich schlicht auf einen schönen Abend mit Paul. Alan nahm sich fest vor, dass er während ihrer Verabredung kein einziges Mal über diese blöde Operation reden oder nur darüber nachdenken würde. Stattdessen würde er dafür sorgen, dass sich Paul rundum wohlfühlte. Schließlich wollte Alan nichts mehr, als dass sein Freund endlich wieder glücklich wurde.
Entsprechend aufgekratzt war Alan, als er eine Viertelstunde zu früh vor dem Pflegeheim hielt. Einen Moment lang überlegte er, ob er hier unten warten sollte, doch dann entschied er sich dagegen. Paul kam inzwischen gut genug allein zurecht, dass er den Weg nach draußen finden würde. Aber Alan mochte den Gedanken, dass er seinen Freund auf ihrer Verabredung, quasi an der ‚Wohnungstür‘ abholte anstatt wie sein Fahrer vor der Tür zu warten.
„Paul?“, fragte Alan zögerlich, während er an die Tür zu dessen Zimmer klopfte und sie gleichzeitig öffnete. „Bist Du schon fertig?“
Überrascht hob dieser den Kopf und lächelte in Richtung der Tür.
„Einen Moment!“, rief er von dem kleinen Tisch aus, an dem er saß.
Eine Schüssel mit Wasser stand an seiner rechten Hand und ein Handtuch lag mehrmals gefaltet vor ihm. Alan nickte und schloss die Tür hinter sich. Er wusste, was jetzt kommen würde und ebenso, dass Paul es überhaupt nicht mochte, wenn ihm andere dabei zusahen. Wobei Alan hierbei eine Ausnahme darstellte, denn vor ihm war es Paul inzwischen weder peinlich noch unangenehm.
„Tut mir leid“, entschuldigte ebendieser sich dennoch. „Bin ich so spät dran?“
„Nein, schon gut“, beeilte Alan sich ihm zu versichern. „Ich bin etwas zu früh, entschuldige.“
Paul grinste schief, wand sich anschließend wieder dem Tisch zu. „Nur noch einen Moment, ich bin gleich so weit.“
Das Lächeln blieb auf Pauls Lippen, während dieser sich nach vorn beugte. Er hob seinen Kopf und zog am linken Auge das Unterlid runter. Mit einem routinierten Griff schob Paul die Spitze seines Zeigefingers unter den Rand des Glasauges, während sich sein Mittelfinger davorlegte. Die Bewegung war inzwischen so eingespielt, dass es keine zwei Sekunden dauerte, bis er die Prothese in seiner Hand hielt. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, tastete Paul nach der Wasserschüssel und wusch den Glaskörper gründlich ab. Nachdem er diesen genauso sorgfältig getrocknet hatte, war er mit einem ebenso geübten Griff schon wieder neu eingesetzt.
Mit einem weiteren Lächeln drehte Paul sich zu Alan. „Sieht es ordentlich aus?“
„Natürlich“, antwortete dieser und lächelte zurück, selbst wenn sein Gegenüber das nicht sah. „Du siehst doch immer gut aus.“
Paul lachte und stand auf. „Charmeur.“
Hier in den eigenen vier Wänden war dieser inzwischen mit allen Wegen und Gegebenheiten so vertraut, dass man ihm manchmal gar nicht anmerkte, dass er blind war. Lediglich die Tatsache, dass er einem beim Sprechen nicht mal mehr ansatzweise ins Gesicht sah, erinnerte daran. Alan schüttelte den Kopf. Darüber hatte er doch heute Abend nicht nachdenken wollen!
„Ich sage nur die Wahrheit“, antwortete er und beobachtete Paul weiter, wie der das Wasser im Waschbecken ausschüttete und anschließend Handtuch und Schüssel auf eine kleine Anrichte platzierte, wo er sie am nächsten Tag wiederfinden würde.
„Ja, ja …“, flüsterte Paul mit einem leisen Lachen.
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Lächelnd lief Paul die zwei Schritte bis zu dem kleinen Tisch zurück. Wenn er sich nicht täuschte, würde Alan daneben stehen. Sein Zimmer war nicht groß und Paul hatte schon vor einer Weile festgestellt, dass sein Freund die Gewohnheit hatte sich direkt neben den kleinen Tisch zu stellen, damit er die Laufflächen freihielt. Tatsächlich spürte Paul kurz darauf den glatten Stoff von Alans Softshelljacke unter seinen Fingern.
Sie war offen, deshalb folgten seine Hände der Einladung und schoben die Seiten nach links und rechts weg. Als er die Finger höher wandern ließ, fühlte er Knöpfe und Baumwollstoff. Alan trug ein Hemd, folgerte Paul und lächelte erneut. Nur zu gern würde er wissen, welche Farbe es hatte und wie gut es seinem Freund tatsächlich stand. So eng, wie es anlag, war das garantiert ein verführerischer Anblick.
Doch Paul konnte nichts sehen, also beschränkte er sich darauf seine Hände über die breite Brust vor ihm gleiten zu lassen – und anschließend an den Seiten hinab und wieder zur Hüfte zurück. Ein kurzer Impuls wollte Paul dazu bringen, diese Lage Stoff zwischen seinen Händen und Alans Haut zu beseitigt, aber dafür war der nicht hier.
Aufgeschoben war nicht aufgehoben, oder so ähnlich sagte man doch?
„Ich dachte, Du wolltest ausgehen“, bemerkte Alan mit hörbar belegter Stimme.
Diesmal grinste Paul kurz, bevor er sich gegen den deutlich größeren und kräftigen Körper lehnte und seine Arme um ihn legte. „Ja, dachte ich auch …“, murmelte er und wünschte sich erneut, er hätte andere Pläne für den Abend gemacht.
Alan antwortete nicht, schlang stattdessen seine Arme um Pauls Schultern. Sanft strich er diesem über den Rücken. „Wenn Du doch nicht willst …“
„Nein!“ Lachend schüttelte Paul den Kopf. „Ich meine: ja.“
Er atmete tief durch und hob scheinbar seinen Blick, als wolle er Alan ansehen. Doch seine Augen blieben geschlossen und hätten, wenn sie denn sehen könnten, maximal bis zu dessen Brusthöhe gereicht.
„Ich möchte wirklich gern heute mit dir ausgehen“, brachte er ohne Stammeln hervor.
Pauls rechte Hand wanderte höher, bis sie Alans linke Wange erreichte und sanft darüber streichelte. Der zuckte kurz zusammen, ließ die Berührung aber geschehen. Unter seinem Daumen konnte Paul ein leichtes Flattern fühlen, als Alan die Augen schloss. Ein verhaltenes Seufzen war zu hören. Irgendetwas stimmte nicht. Ging es um die OP? Oder war da noch etwas?
„Was ist los?“, fragte Paul verunsichert, als Alan weiterhin nichts sagte.
Der schüttelte den Kopf und zog die Hand von seiner Wange herab. Er hauchte einen Kuss auf deren Handinnenfläche und beugte sich anschließend zu ihm hinüber.
„Darf ich?“, fragte Alan zur Sicherheit, während Paul schon den warmen Atem auf seinen Lippen spüren konnte.
Dieser hob wortlos den Kopf ein Stück höher und überbrückte als Antwort den kaum nennenswerten Abstand.
Da war ein leises Seufzen, als sich ihre Lippen wieder trennen. Eines, das Paul wiederum nicht einzuschätzen wusste. Erneut hatte er das Gefühl, als wäre da etwas das Alan nicht sagte. Nachdem sie am Vormittag in der Augenklinik gewesen waren, hatte Paul so seine Vermutungen, worum es ging, aber genau darüber wollte er im Augenblick nicht reden.
„Wir sollten gehen, sonst fange ich wieder an Regeln zu brechen …“, hauchte Alan, während sich sein Mund langsam über Pauls Hals nach unten zum Kragen von dessen Shirt aufmachte.
Dieser lachte erneut und drückte ihn ein Stück zurück. „Dann gehen wir lieber.“
Mit einem gespielt theatralisch Seufzen legte sich Alan wie immer Pauls Hand über den Arm, um ihn zu führen. Dieser grinste kurz, sagte aber nichts mehr. Schweigend, dennoch beide zufrieden lächelnd, liefen sie zum Auto und stiegen ein.
Der Verkehr war glücklicherweise gering, so erreichten sie ihr Ziel erstaunlich flott. Aber Alan fand nicht gleich einen Parkplatz und so mussten sie sich mit einem Fleckchen zwei Querstraßen weiter begnügen. Da es, obwohl der Winter mit schnellen Schritten näher rückte, recht warm abends war, störte sie der kurze Spaziergang allerdings wenig.
Paul hielt sich mit einem zufriedenen Lächeln an Alans Arm fest und genoss die frische Luft. Einmal mehr nahm er sich vor, diesen öfter zu fragen, ob der mit ihm rausgehen würde. Nicht unbedingt auf ein Date. Sondern einfach nur spazieren gehen – oder etwas in der Art. Vor einem halben Jahr hatte Paul sich gegen genau das mit Händen und Füßen gewehrt, aber inzwischen war er selbstsicher genug, dass er es sich zutraute. Alan hatte ihm oft gesagt, dass ihn die Leute nicht anstarren würden, dass er nicht herausstach aus der Masse der Menschen. Und allmählich fing Paul an, diesem zu glauben.
Schritte trabten an ihnen vorbei und instinktiv schob sich Paul näher an Alan heran. Da er einen Blindenstock verweigerte, konnten andere Passanten nicht sehen, dass er nicht in der Lage war, ihnen auszuweichen. So war es schon öfters passiert, dass jemand mit ihm zusammenstieß, weil er annahm, Paul könne ja beiseitetreten. Doch an diesem Abend schien Alan alles im Griff zu haben und zog ihn immer rechtzeitig zur Seite, wenn Leute an ihnen vorbeigehen wollten.
„Hast du den gesehen?“, hörte Paul plötzlich ein Flüstern hinter ihnen, nachdem wieder jemand an ihm vorbeigelaufen war.
Er spürte, wie Alan zusammenfuhr, und klammerte sich fester an dessen Arm. Pauls alte Unruhe und Angst kehrte schlagartig zurück, doch Alan hielt nicht inne, sondern zog ihn weiter mit sich in Richtung ihres Ziels.
Da kam Paul mit einem Mal einer ihrer Ausflüge zum Badesee im Sommer in den Sinn. Das war gar nicht so lange her. Dort hatte er Ricky seine Narben gezeigt und ihn gefragt, ob sie sehr auffällig wären. Der hatte gemeint, dass man sie kaum sehen würde und sie nicht dazu führten, dass man Paul besondere Beachtung deshalb schenken würde.
‚Nein‘, korrigierte er sich. ‚Ricky hatte noch etwas gesagt.‘
Er hatte gemeint, von ihnen vieren wäre Paul der Letzte, den jemand anstarren würde. Als er seinen anderen Arm hob und seine Hand sich auf Alans kräftigen Bizeps legte, spürte er erneut dessen Anspannung.
„Alles okay“, flüsterte Paul und rieb beruhigend über die gespannten Muskeln unter seiner Hand.
Ein leises Schnauben, doch dann beruhigte sich Alan scheinbar.
„Wir sind da“, murmelte der kurz darauf und schob Paul seitwärts, bis sie zu der unscheinbaren grünen Tür kamen, die sie ins Rush-Inn führen würde.
Kaum waren sie eingetreten, wurde Paul sofort von jeder Menge Geräusche umfasst. Der Geruch nach Alkohol war genauso allgegenwärtig wie die nicht unterscheidbare Mischung aus diversen After Shaves, Deos und anderen Dingen, über die Paul gerade nicht nachdenken wurde. Viel stärker, als er es in Erinnerung hatte und dennoch vertraut.
Paul lächelte, während er den ersten Schritt in Richtung Bar setzte. Selbst wenn er hier nicht so sicher war wie in seinem Zuhause, kannte er das Rush-Inn gut genug, um ungefähr zu wissen, wohin er zur Bar gehen musste. Alan legte dennoch seine Hände auf Pauls Schultern und navigierte ihn vorsichtig durch die schon gut gefüllte kleine Kneipe.
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Als sie die Theke erreichten, sah Alan sich suchend nach deren Besitzer um. Merkwürdigerweise konnte er ihn allerdings nirgendwo entdecken. Es standen zwei andere Männer hinter der Bar und für einen Wochentag war das zwar normalerweise völlig ausreichend, trotzdem war es ungewohnt, dass Alex nicht zu sehen war.
„Na hallo, ihr zwei Hübschen“, begrüßte sie der ältere der beiden Männer auf der anderen Seite der Bar.
Alan musterte ihn kurz und erstarrte. Was machte der Typ denn hier? Mit garantiert an die dreißig war der Mann da drüben schließlich deutlich älter als Alexanders übliche Aushilfen. Er schluckte und schielte zu Paul. Für einen winzigen Moment war er froh, dass der nichts sehen konnte. Immerhin blieb ihm so erspart, den herausfordernden Blick von dem Typ hinter der Bar erklären zu müssen.
„Also wir zwei kennen uns ja schon“, meinte der kräftige Kerl, während er Alan weiterhin angrinste. „Und dein kleiner Freund hier ist?“
Dieser runzelte die Stirn. „Paul“, antwortete er unterkühlt. Die Bemerkung bezüglich seiner Größe fand garantiert keine Gegenliebe, da war Alan sich sicher.
„Grüß Dich! Ich bin Torin. Was wollt ihr trinken?“
„Wo ist Alex?“, fragte Alan stattdessen nervös und blicke sich etwas verwirrt um.
Dass gerade Torin hier auftauchte, passte ihm gar nicht und entsprechend zappelig wurde Alan. Auch wenn ihm sein bisheriges Leben nicht peinlich war, hatte er keine Lust, Paul ausgerechnet heute damit zu konfrontieren, wie er seine früheren Nächte verbracht hatte – oder mit wem. Noch dazu, wo Torin einer der wenigen Kerle war, die Alan mehr als einmal getroffen hatte.
„Alex hat heute frei. Ich bin so lange der Chef.“
„Echt jetzt?!“, mischte sich Paul verwundert ein. „Ich dachte, Alex ist immer hier.“
Torin lachte hinter der Theke und winkte ab, was Paul allerdings nicht sah. „Ja, das hat seine Angebetete auch gemeint und da … Nun ja, deshalb ist er’s wohl jetzt nicht mehr. Und wenn er nicht da ist, schmeiß ich den Laden.“
„Hey, Tor! Hör auf, dich wie ein Gockel auf der Balz aufzuführen, und arbeite lieber!“, rief ein rothaariger Gast vom anderen Ende der Bar und funkelte den angesprochenen wütend an.
„Klappe Remi, sonst kannst Du dein Bier selbst zahlen!“, fauchte dieser giftig zurück, bevor er sich mit einem strahlenden Lächeln an Alan und Paul wendete. „Also, was kann ich euch zwei Hübschen bringen?“
„Ein Helles“, antwortete Paul verunsichert.
„Cola.“
Ein prüfender Blick glitt an Alan hinab und jagte ihm einen Schauer über den Rücken, während er sich an ähnliche Blicke in völlig anderen Situationen mit Torin erinnerte. Doch dessen Musterung schien zu keinem befriedigenden Ergebnis zu kommen.
„Cola? Echt jetzt? So ganz ohne was drinnen?“
Alan nickte: „Ich fahre noch.“
Torin zuckte mit den Schultern und brachte kurz darauf die bestellten Getränke. „Stempelkarte oder zahlt ihr gleich?“
„Karte“, murmelte Alan und drückte Paul die Bierflasche in die Hand. Als Torin ihm die gewünschte Karte reichte, nicke Alan dankend und schob seinen Freund dann in Richtung eines freien Tisches. Wenigstens hatte der Kerl den Anstand besessen nicht zu sagen, wie sie sich kennengelernt hatten – sofern man das überhaupt als ‚kennen‘ bezeichnen konnte. Alles andere hätte die ohnehin schon gedrückte Stimmung garantiert ins Bodenlose sinken lassen.
Nachdem sie endlich einen Tisch erreicht hatten, ließen sie sich zufrieden auf die Stühle nieder. Ohne darüber nachzudenken rutschte Alan näher an Paul heran, um diesen von den umherschwirrenden Blicken der anderen Männer wenigstens ein Stück weit abzuschotten.
‚Ja, es ist ein Neandertaler-Verhalten‘, stellte er selbstkritisch fest, als ihm genau das schließlich doch bewusst wurde.
Nach einem Blick in die Runde war Alan das aber auch egal. Obwohl der Professor in der Augenklinik halbwegs gute Nachrichten gehabt hatte, schien der Tag irgendwie mies gelaufen zu sein. Er sah zu Paul, der zufrieden an seinem Bier nickte, sogar lächelte. Fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen, hob Alan das eigene Glas an die Lippen.
Das Gespräch zwischen ihnen kam dennoch nur schleppend voran. Zum ersten Mal seit Wochen war es Paul, der es vorantrieb. Immer wieder fragte dieser Alan, wie dessen neue Arbeit lief, ob er sich schon eingewöhnt hatte und was er denn so in nächster Zeit vorhatte.
Alan selbst hingegen wusste nicht so recht, was er auf all diese Fragen antworten sollte. Sein Leben war nicht sonderlich aufregend, die erlebnisreichsten Tage waren vermutlich die mit Paul. Und über alles, was in der Klinik, in seinem Job passierte, durfte er ja aufgrund der Verschwiegenheitserklärung nicht zu offen reden.
Plötzlich tastete Pauls Hand nach Alan und fand dessen Bein nur wenige Zentimeter neben seinem eigenen. Lächelnd ließ er sie über den Oberschenkel gleiten und jagte Alan dabei inzwischen nur so vertraute Schauer den Rücken entlang – erinnerte ihn aber zeitgleich doch wieder daran, was er womöglich verlieren könnte.
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„Wirklich alles okay, bei Dir?“, fragte Paul flüsternd.
Es war ungewohnt, dass Alan so still und zurückgezogen blieb. Quasselstrippe, die er vor über ein halbes Jahr kennengelernt hatte, war nicht der echte Alan gewesen, das wusste Paul inzwischen sehr gut. Dennoch war es ungewöhnlich, dass Alan sich dermaßen ausschwieg. Meistens war er es, der für die Unterhaltung sorgte, wenn sie tatsächlich mal ausgingen. So wie heute.
„Ja“, kam schließlich die Antwort, doch sie war wenig überzeugend. „Ich … bin nur in Gedanken.“
„Bei dem, was der Professor gesagt hat?“
Alan seufzte. „Nein, eigentlich … nicht wirklich“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Du weißt, dass ich immer für Dich da bin, oder Paul?“, fragte er nach einer kurzen Pause zurück.
Der drehte zufrieden lächelnd seinen Kopf zur Seite und nickte: „Ich weiß.“
Alan ergriff die Hand, die noch immer auf seinem Oberschenkel ruhte und drückte sie sanft. „Ich … hab dich wirklich wahnsinnig gern, Paul“, sagte er irgendwann zögerlich. „Ich möchte nur, dass Du glücklich bist. Ich werde alles dafür tun, was ich kann. Und … es ist allein deine Entscheidung, egal wie sie ausfällt.“
Paul lächelte weiter und lehnte seine Schulter zu Alan rüber, der sofort seinen Arm um sie legte und ihn festhielt. Langsam hob Paul seinen anderen Arm und versuchte, das Gesicht seines Freundes zu finden. Als der das bemerkte, ergriff er die suchende Hand und führte sie erneut zu seiner linken Wange. Für einen schier unendlich erscheinenden Moment hielt er sie dort fest.
Etwas in Paul krampfte sich zusammen. Dieser Gedanke, den er heute Abend eigentlich ignorieren wollte – der Wunsch, bei dem er nicht sicher war, ob er sich jemals erfüllen könnte.
„Ich würde Dich so gern sehen können“, hauchte er und rieb den Daumen über Alans frisch rasierte Wange.
„Warum?“, fragte ebendieser zurück.
Da war allerdings etwas in Alans Stimme, dass Paul nicht zuordnen konnte. Der runzelte auf die Frage hin verwirrt die Stirn.
„Warum ist es Dir so wichtig, mich zu sehen, Paul?“
Zunächst zögerlich, schnell jedoch mit stetig fester werdender Stimme erklärte ebenjener, was er sich selbst kaum in dieser Deutlichkeit hatte eingestehen wollen: „Ich weiß es nicht, aber ich … will wissen, wie dein Lachen aussieht, sobald Du Witze machst. Deine Lippen, bevor sie mich küssen. Ich möchte deine Augen sehen, wenn …“, Paul unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Ich weiß, es ist albern, aber ich … brauche das, Alan. Kannst Du das verstehen?“
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Es wäre ein Leichtes gewesen, zu lügen und lapidar mit einem ‚na klar‘ zu antworten. Aber das brachte er nicht über sich. Es wäre gelogen. Denn, nein, Alan wollte nicht verstehen. Trotzdem nickte er. Wenn er die Worte schon nicht herauspressen konnte, würde er Paul zumindest nicht mehr als nötig beunruhigen.
Der dürfte das Nicken durch die Hand, die noch immer auf Alans Wange lag, gespürt haben. Letztendlich war es egal. Paul hatte es doch eben sehr deutlich gemacht. Es war sein Herzenswunsch, wieder sehen zu können. Er würde alles dafür tun. Hatte die Frage überhaupt noch im Raum gestanden, als Paul ihn nach einer Verabredung fragte? Wusste er es in dem Augenblick, als er Alan um Bedenkzeit gebeten hatte, bereits, dass die Entscheidung längst feststand?
Alan schluckte, zog Paul näher zu sich heran. Er lehnte seine Stirn gegen den blonden Lockenkopf an seiner Schulter, während er darum kämpfte, die eigene Stimme unter Kontrolle zu bringen. Besser wäre es, er würde nichts sagen, Paul nicht weiter in diese Ecke treiben. Aber ein Teil von Alan ertrug es nicht, noch länger zu schweigen.
Also stellte er diese eine Frage, die ihn vor einigen Stunden zu André getrieben hatte: „Was ist, wenn Dir nicht gefällt, was Du siehst?“