Kapitel 21 – Neue Wünsche
Es war zwei Tage vor Heiligabend und Paul saß deprimiert auf dem Sofa in Alans Wohnung.
‚Nein,‘ korrigierte er sich zum hundertsten Mal, seit er hier eingezogen war. ‚In eurer Wohnung.‘
Selbst wenn Paul keinen einzigen Cent zur Miete beisteuern durfte und ihm so gut wie nichts hier gehörte, bestand Alan weiterhin darauf, dass Paul hier nicht nur bei ihm wohnte, sondern mit ihm zusammen.
Aber auch dieser Gedanke konnte Paul nicht aufmuntern. Wütend über sich selbst, und dass er zwei Tage vor Weihnachten hier wie ein verdammter Trauerkloß saß, rieb er über den Verband, der noch immer sein rechtes Auge zierte.
Fast drei Wochen war die Operation her und es blieb dabei, dass er nichts sehen konnte – jedenfalls nicht wirklich. Erst am vergangenen Mittwoch war Paul erneut mit Alan in der Augenklinik zur Kontrolle. Aber selbst wenn er sich diesmal eingebildet hatte, einen extrem unscharfen Schatten vor sich zu erkennen, hatte das nach seinem Dafürhalten nichts mit ‚sehen‘ zu tun.
Trotzdem blieb Professor Martin optimistisch. Wo der diesen Optimismus hernahm, war Paul ein Rätsel. Die Fortschritte gegenüber der ersten Kontrolle waren minimal und allmählich fing er an, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass es nicht mehr besser werden würde.
„Psychosomatisch“, hatte Paul den Professor zu Alan flüstern gehört, als diese dachten, er wäre zu weit weg. „Versuchen Sie ihn abzulenken. Sein Hirn blockiert womöglich zusätzlich.“
Paul hatte gedacht, dass Alan – seinem Job sei dank – sofort darauf anspringen und anfangen würde, ihn zu therapieren. So hatten sie sich schließlich einst kennengelernt. Aber Alan hatte nichts dergleichen getan. Wenn doch, war es Paul nicht aufgefallen. Und es war ihm reichlich egal.
Nein, Alan hatte ihn seit Mittwoch eher in Ruhe gelassen, war öfter mal alleine draußen unterwegs gewesen, während Ricky Paul Gesellschaft geleistet hatte. Nicht, dass er für irgendjemanden im Augenblick eine gute Unterhaltung dargestellt hätte.
Selbst jetzt war es Rick, der in der Küche werkelte, während Alan mit André unterwegs war. Was auch immer die beiden trieben, es war offensichtlich eine Überraschung, denn wie so oft, war niemand bereit, mit Paul darüber zu reden. Zugegebenermaßen wollte der sich aber ohnehin lieber in seinem Elend suhlen.
„Magst du einen Glühwein?“, fragte Ricky plötzlich.
Paul hörte zwei Tassen, die auf den Couchtisch gestellt wurden, schüttelte dennoch den Kopf: „Nein, danke.“
Ricky seufzte und legte seinen Arm um Pauls Schultern. „Die Art Weihnachtsstimmung, die Du verbreitest, ist nicht gerade meine liebste.“
Das brachte sogar Paul kurzzeitig zum Schmunzeln. „Tut mir leid, Ricky“, entschuldigte er sich, aber zur guten Laune zwingen konnte er sich dennoch nicht.
„Ist es denn so schlimm?“, fragte Ricky und der Ernst in seiner Stimme ließ Paul aufhorchen. „Ich meine, dass es nicht geklappt hat. Vor ein paar Monaten hattest Du nicht einmal mehr zu hoffen gewagt.“
Paul zuckte mit den Schultern. Ja, Ricky hatte durchaus recht, die Wahrheit war in dieser Hinsicht simpel. Aber obwohl die Chancen nie wirklich gut gewesen waren, hatte Paul den Gedanken an ein Scheitern nie zugelassen.
„Vielleicht hat mich das nahende Weihnachtsfest verleitet, mehr zu hoffen“, gab er irgendwann flüsternd zu. „Immerhin passieren Weihnachten angeblich Wunder.“
Ricky zog ihn an sich und gab ihm einen zaghaften Kuss auf die Narbe an seiner linken Schläfe. „Dann hast Du doch noch zwei Tage.“
Wieder lächelte Paul. Ja, da hatte Ricky durchaus recht, aber seine Hoffnung war gering – oder um es genau zu sagen: nicht vorhanden. Zumal er den nächsten Kontrolltermin erst nach den Feiertagen hatte. Zwar durfte Paul den Verband jederzeit abnehmen, um zu schauen, ob sein Auge inzwischen die Helligkeit vertrug, ohne dass er sofort Schmerzen verspürte, aber er hatte Angst davor – und vermied es deshalb. Er fürchtete nicht nur die Qualen, wenn das Licht zu hell für sein Auge war. Noch viel mehr war da die Angst davor, dass es keinen Funken Besserung gab.
Eine Weile setzte Schweigen ein. Nachdem Ricky aufstand, vermisste Paul regelrecht den Arm, der um seine Schultern gelegen hatte. In den wenigen Monaten war der junge Schneider ein Vertrauter geworden, jemandem dem Paul sich fast genauso offen gegenüber zeigen konnte wie Alan.
Wenn sich an seinem Sehvermögen nichts mehr verbessern würde, war es womöglich Zeit, endlich wirklich ehrlich zu sein.
»--♥--«
Kaum dass Ricky aus der Küche zurückkehrte, meinte Paul vorsichtig: „Kann ich Dich mal was fragen?“
„Klar!“
Zögerlich setzte Paul sich auf und wischte mit seinen Händen über die Hose an seinen Beinen. Er wirkte nervös – mehr noch als sonst. Ricky runzelte die Stirn, hielt sich aber mit einem Kommentar zurück. Es sah zu deutlich, dass Paul etwas auf der Seele brannte.
„Was … was schenkst Du André eigentlich zu Weihnachten?“
Ricky schoss sofort ein dreckiges aber dennoch verträumtes Grinsen ins Gesicht, das Paul glücklicherweise nicht sehen konnte. Andernfalls hätte das vermutlich zu Fragen geführt, die Ricky sicherlich nicht beantworten wollte.
„Uhm … warum fragst Du?“
Erneut rieb Paul nervös mit den Händen über seine Hosenbeine. „Ich … ich habe nichts für Alan“, gab er beschämt zu.
„Na ja …“ Ricky räusperte sich. „Also ich glaube, mein Geschenk für André passt nicht so richtig zu euch beiden.“
Offensichtlich irritiert runzelte Paul die Stirn: „Warum nicht?“
Den Wechsel von Rickys Gesichtsfarbe einen ‚Rotschimmer‘ zu nennen wäre maßlos untertrieben. Aber zum Glück für diesen konnte Paul den genauso wenig sehen wie das Grinsen zuvor.
„Vertrau mir einfach“, antwortete Ricky hastig.
Er griff zu der inzwischen kalt gewordenen Tasse Glühwein. Mit der anderen Hand öffnete er geschickt die Metalldose, die er eben geholt hatte, und hielt sie kurz darauf Paul als Ablenkung vors Gesicht. Ein voller Mund konnte keine peinlichen Fragen stellen.
„Magst du ein paar Kekse?“
Der schnupperte und sofort stieg ihm der Duft von Vanillekipferl in die Nase. „Hm … die riechen aber lecker!“
„Von meiner Oma“, antwortete Ricky, stellte seine Tasse ab und stopfte sich eines der Kipferl in den Mund. „Sie schmecken sogar besser, als sie riechen.“
„Oh, da vertraue ich Dir voll und ganz“, feixte Paul und ertastete sich ebenfalls eines der leckeren Gebäckstücke.
„Du hast also noch kein Geschenk für Alan?“
Paul zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Ich … hatte andere Pläne gehabt, aber es sieht nicht so aus, als ob die in Erfüllung gehen würden.“
„Woran hast Du denn gedacht?“
„Keine Ahnung“, seufzte Paul und tastete erneut nach der Dose, die Ricky vorsorglich zwischen ihnen auf der Couch platziert hatte. „Ich habe Alan gefragt. Er sagt natürlich, er braucht nichts.“
Ricky lächelte etwas traurig. Er wusste nur zu gut, was Alan sich wünschte, aber das wollte er Paul nicht sagen. Trotzdem kam er nicht umhin, sich manchmal zu fragen, ob es richtig war, einfach abzuwarten, bis die beiden das alleine auf die Reihe bekamen. An manchen Tagen tat es förmlich körperlich weh, den zwei Sturköpfen zuzusehen, wie sie umeinander herumtänzelten. Der eine zu stur, um auszusprechen, was alle um ihn herum sehen konnten. Der andere zu ängstlich, um sich die Sicherheit zu holen, die er brauchte.
Ricky unterdrückte ein Seufzen und nippte stattdessen am Glühwein, während er an Paul gewandt vorsichtig fragte: „Warum meinst Du dann, Du müsstest ihm jetzt noch was besorgen?“
Paul zuckte mit den Schultern. „Er ist in den letzten Tagen ständig unterwegs und redet nicht mehr so viel“, gab er zögernd zu.
Ricky musste sich auf die Unterlippe beißen, um keine verräterischen Geräusche von sich zu geben. Er konnte nicht anders als seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen zu lassen. Einen Moment lang wünschte er sich, er könnte Paul sagen, was vorging, aber er hatte Alan versprochen es nicht zu tun und ein Richard Hansen hielt seine Versprechen.
Entschlossen stopfte er sich ein weiteres Vanillekipferl rein. Für ihn galt schließlich Gleiches. So lange sein Mund beschäftigt war, konnte der keine Dummheiten begehen und irgendetwas sagen, was er nicht sagen sollte. Zum Glück hatte Oma genug von den leckeren Dingern gebacken.
„Ich weiß nicht, ob er enttäuscht oder sauer ist …“
Mit einem kräftigen Husten versuchte Ricky sein Lachen zu überspielen: „Oh, Paul. Er ist sicher keins von beidem.“
„Es ist trotzdem doof, wenn ich kein Geschenk habe“, fuhr Paul regelrecht trotzig fort. „Alan hat so viel für mich getan und er ist immer für mich da. Er lässt mich sogar hier wohnen!“
Okay, allmählich war es womöglich Zeit, die Regeln zumindest etwas zu beugen. Ja, er hatte Alan versprochen, nichts davon zu sagen, was hier vorging. Aber dieses Leiden auf beiden Seiten war nicht mehr mit anzusehen. Ricky stellte die Keksdose beiseite, damit er wieder näher zu Paul rüber rutschen konnte.
„Er lässt dich nicht einfach aus reiner Nächstenliebe hier wohnen, Paul.“
„Ich weiß!“, rief der sofort und ließ den Kopf hängen. „So habe ich das nicht gemeint …“
Ricky seufzte und rieb sich mit dem Daumen über die Stirn, bevor er sich erneut mit ernster Stimme an Paul wandte. „Alan ‚lässt‘ Dich nicht hier wohnen. Er will, dass Du mit ihm zusammen hier lebst. Er will mit dir hier leben. Nur mit dir.“
„Ich weiß, aber …“
„Paul, bitte!“
Da war es wieder. Rickys schlechtes Gewissen, das ihn anschrie, weil er sich in etwas verstricken ließ, in das man sich besser nicht einmischte. Wenn die Beziehung zwischen Alan und Paul jemals funktionieren sollte, musste vor allem Letzterer sich endlich einmal eingestehen, dass er überhaupt eine eben solche hatte. Jedenfalls eine, die über das Arzt-Patientenverhältnis schon lange hinaus war.
Mürrisch wegen seines eigenen Mangels an Entscheidungsfreude stopfte Ricky sich ein weiteres Vanillekipferl in den Mund. Nach Weihnachten würde er Diät machen müssen, wenn das so weiterging.
„Du weißt doch wohl, warum Alan damals im Pflegeheim gekündigt hat. Oder?“, fragte er den Mund noch immer kauend.
„Weil ich ihn gezwungen habe, mit mir zu schlafen.“
Keuchend und hustend versuchte Ricky etwa fünf Millisekunden später das Stück Weihnachtsgebäck, das nach Pauls emotionslosen Worten unverschämter Weise den falschen Weg genommen hatte, aus seiner Lunge heraus zu bekommen.
„Wie bitte?!“, kreischte er mit spitzer Stimme, als sich der Husten halbwegs gelegt hatte. „Du hast was?!“
Paul senkte beschämt den Kopf. „Na ja, vielleicht nicht direkt ‚gezwungen‘ eher … ‚überredet‘.“
„Ich glaube ja nicht, dass da viel Überredung notwendig war“, murmelte Ricky und trank einen Schluck zu kalten und vor allem für diesen Moment definitiv zu alkoholfreien Glühwein.
Seufzend lehnte sich Paul nach hinten und legte den Kopf in den Nacken. „Ich habe ihn gefragt, ob er als mein Pfleger dafür sorgen würde, dass ich alles bekomme, was ich brauche. Und er hat ‚ja‘ gesagt.“
„Und was du brauchtest, war Sex?“
Ricky fiel es schwer, auch nur ein Wort zu glauben. Bei Alan hatte die Geschichte deutlich jugendfreier geklungen. In der Version war nicht mal ein Kuss im Spiel. Wenn André das jemals erfuhr, würde sich jemand eine ziemliche Standpauke einfangen. Womöglich zusammen mit ein paar Backpfeifen. Bei unprofessionellem Verhalten im Job war mit André nicht zu spaßen. Der rastete schon regelmäßig aus, wenn seine Kollegen den jungen Schwestern mal wieder nachstarrten.
Nachdenklich stopfte Ricky sich ein weiteres Kipferl in den Mund und vermerkte mental, dass er für seine Oma ein deutlich besseres Weihnachtsgeschenk brauchte. Ohne deren Kekse würde er dieses Gespräch nicht überleben.
Paul nickte, antwortete aber zunächst nicht. Stattdessen tastete seine Hand nach der Metalldose, die Ricky ihm ebenfalls wortlos sofort unter die Finger schob. Wenigstens würde er nicht als Einziger hier dick und fett werden.
„Alan hat gekündigt, weil er sich zwischen dir und seinem Job entscheiden musste“, meinte Ricky schnaubend. „Dass ihr miteinander geschlafen hattet, war wohl eher der letzte Tropfen, der ihm diese Entscheidung leichter gemacht hat.“
Schweigend saß Paul mit dem Kopf auf der Rückenlehne da. „Ich wollte ihn sehen, wenn ich es ihm sage“, flüsterte er kaum hörbar.
„Warum?“
Paul zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich wollte ihm in die Augen blicken, wenn ich ihm sage, dass ich ihn liebe. Sehen, wie er reagiert.“
Ricky hielt einen Moment inne. Doch statt sich mit dem nächsten Kipferl den Mund zu verbieten, fragte er erneut: „Warum?“
Schon wieder dieses verdammte Schulterzucken. „Ich habe immer versucht, mir vorzustellen, dass seine Augen dann förmlich leuchten würden.“ Ricky schwieg und Paul lachte kurz aber freudlos auf. „Wie in diesen dämlichen Büchern, die ich früher gelesen habe.“
„Du hast Schnulzen gelesen?“, rutschte es Ricky mit einem Lachen heraus. „Sorry!“, fügte er sofort hinzu und klopfte Paul auf den Arm, um ihm zu zeigen, dass der fortfahren sollte.
„Ja, ich habe unter anderem Schnulzen gelesen“, gestand der zerknirscht. „Jannik, mein Freund damals, hat mich oft genug damit aufgezogen. Danke auch.“
Ein weiteres Kipferl wanderte in Rickys Mund, um sich von zusätzlichen bissigen Kommentaren abzuhalten. Er hätte Paul ehrlicherweise nicht so eingeschätzt, dass der auf so einen Kram stand. Andererseits würden bei ihm selbst sicherlich auch nicht viele drauf setzen, dass er eingefleischter Marvel Fan war und Horrorfilmen ausgesprochen viel abgewinnen konnte.
„Ich habe mir ausgemalt, dass sein Lächeln immer breiter werden würde und er mich dann … keine Ahnung. Küssen würde oder so etwas.“
Ricky lächelte. ‚Eine hübsche romantische Vorstellung,‘ dachte er bei sich, bevor er leise murmelte: „Ich bin ziemlich sicher, genau so würde es laufen.“
„Aber ich kann es nicht sehen“, krächzte Paul mit erstickter Stimme.
Ricky war sich sicher, dass da eine ganze Menge Tränen kurz davor waren zu fallen. Deshalb nahm er seinen Freund erneut in den Arm und hielt ihn fest, bis der seine aufwallenden Emotionen wieder einigermaßen im Griff hatte.
„Warum ist Dir das so wichtig?“
„Weil ich keine Vorstellung davon habe, wie Alan aussieht“, gestand Paul schluchzend. „Ich … ich habe eine grobe Vorstellung von seinem Körper, davon wie kräftig er ist, wie groß wie breit. Aber … da ist kein Bild! Ich … ich möchte dieses Bild. Nur dieses eine. Ich will es für immer behalten. Und wenn ich am nächsten Tag und für den Rest meines Lebens wieder blind wäre, wäre mir das egal. Aber ich will ihn einmal sehen können. Nur ein Mal.“
Diesmal war es an Ricky zu schlucken und die aufsteigenden Tränen wegzudrücken. Sein Griff um Pauls die Schultern zog sich enger. Er hatte nie so genau darüber nachgedacht, wie Paul sich fühlen würde, was ihm fehlte, dass er diese drei Worte bisher nicht zu Alan gesagt hatte. Schließlich wusste Ricky nur zu gut, wie stark das an Andrés altem Freund nagte.
Jetzt, wo er sich zum ersten Mal vorstellte, dass er André nur als gesichtslose Gestalt erleben würde, schmerzte diese Vorstellung beinahe körperlich. In Filmen und Büchern hieß es immer, dass Blinde das Gesicht ihres Gegenübers durch Tasten erkennen konnten, aber Paul war erst seit einem Jahr seiner Sehkraft beraubt, für ihn war das vermutlich unheimlich schwer. Nein, wie das eben geklungen hatte, war es diesem unmöglich.
„Pass auf“, presste Ricky fest entschlossen heraus. „Du brauchst ein Weihnachtsgeschenk für Alan? Eins, das ihm genauso ein Lächeln auf die Lippen zaubern wird, wie das, was Du ursprünglich geplant hattest? Das kriegen wir hin!“
„Und was?“
Ricky überlegte kurz, hatte aber spontan keine Idee. Womöglich könnte er später am Abend mit André noch einmal darüber reden. Der kannte Alan deutlich länger als jeder andere von ihnen.
„Wir finden schon was!“, antwortete Ricky ausweichend aber fest entschlossen und erntete damit ein kurzes Auflachen von Paul.
„Du hast keine Ahnung, was.“
„Nein“, gab Ricky unumwunden zu. „Aber! Ich bin der beste Geschenkefinder der Welt und ich schwöre dir, dass ich bis morgen eine Idee haben werde! Vertrau mir!“
Paul runzelte die Stirn: „Das sagst du ständig.“
Gespielt beleidigt zog Ricky sich ein Stück von ihm zurück. „Und? Habe ich Dich je enttäuscht?“
Da lachte Paul erneut auf und schüttelte den Kopf.
„Na also! Ich hol dich gegen Mittag ab und wir gehen bummeln. Gott, ich war schon ewig nicht mehr shoppen. Das wird toll!“
Schlagartig war die Stimmung im Raum wieder besser. Zwar war Paul sichtlich nicht überzeugt, dass Ricky sein Wort würde halten können, aber er schien nicht mehr ganz so niedergeschlagen zu sein. Just in diesem Moment hörten sie, wie jemand den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür schob. Paul löste sich endgültig aus Rickys Umarmung und deutete mit einem Nicken in Richtung Tür.
Prompt sprang Ricky auf und fiel André um den Hals. „Schatzi!“, rief er überzogen gut drauf und drückte dem einen dicken Kuss auf die Lippen.
Der war so verdattert, dass er zuerst gar nicht weiter reagieren konnte, außer sich auf den Beinen und Ricky in seinen Armen zu halten.
„Ich dachte, ihr wolltet alkoholfrei bleiben heute“, lachte Alan neben den beiden und zog sich Mantel und Schuhe aus.
„Das sind die sauleckeren Kipferl“, rief Paul entschuldigend und lächelte in Richtung Flur, wo André weiterhin mit dem Flummi in seinen Armen kämpfte, damit er sich wenigstens ausziehen konnte. „Zuckerschock“, fügte er mit einem breiten Grinsen hinzu.
Ricky löste sich von André und baute sich stattdessen mit seinen immerhin mehr als zehn Zentimeter geringeren Größe vor Alan auf. „Und morgen Mittag entführe ich dir deinen Liebsten.“
Nervös sah der zuerst zu Paul, anschließend zu André und schlussendlich zu Ricky, der ihn aber nur breit angrinste, als hätte er einen Halbmond verschluckt. Man konnte es förmlich hinter Alans Stirn arbeiten sehen. Selbst für Ricky war deutlich zu erkennen, dass Alan zumindest die Formulierung überhaupt nicht gefiel.
Dass sich Paul für morgen Nachmittag aus ihrer Wohnung verzog, kam ihm aber, wie Ricky genau wusste, gelegen und so stimmte er leise grummelnd zu: „So lange du ihn mir einem Stück zurückbringst.“
Ricky grinste, während er sich zu seinem Kumpel im Wohnzimmer umdrehte. „Wir haben ein Date, Paul! Morgen um zwei. Sieh zu, dass du pünktlich fertig bist!“
Damit zog Rick André dessen Mantel wieder über die Schulter, den der eben ablegen wollte. Anschließend bücke er sich nach seinen eigenen Schuhen.
Verwirrt sah André zu Alan. „Ich dachte, ich bekomme hier wenigstens noch einen Glühwein und ein paar Kipferl ...“, murmelte er mit einem unverhohlenen Seitenblick in Richtung der Metalldose auf dem Couchtisch.
„Nix da, wir gehen“, beharrte Ricky stoisch und griff nach seinem Mantel.
„Ich will noch nicht gehen“, maulte André und warf einen weiteren sehnsüchtigen Blick auf die Metalldose im Wohnzimmer.
„Jetzt sei nicht so ein Baby“, schimpfte Ricky grinsend, bevor er sich auf die Zehenspitzen stellte und ihm ins Ohr flüsterte: „Ich habe noch eine Dose zu Hause und wenn du ganz lieb fragst, sag ich dir vielleicht sogar wo.“
Andrés Blick verfinsterte sich. „Wie kann jemand, der wie ein unschuldiger Engel aussieht nur immer so fies sein?“
Ricky grinste und zog sich seine Winterjacke drüber. „Willst du jetzt welche?“
„Ruf mich an, wenn du noch mehr Hilfe brauchst, Alan!“
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Ehe, der es sich versah, waren André und Ricky schon aus der Wohnung verschwunden. Etwas irritiert über den plötzlichen Aufbruch stellte Alan seine Stiefel ins Regal, damit Paul nicht versehentlich drüber stolperte.
„Was ist denn mit Ricky los?“, fragte Alan, nachdem er das Wohnzimmer betreten hatte und sich mit einem tiefen, aber zufriedenen Seufzer neben seinen Freund auf die Couch fallen ließ.
„Ich habe keine Ahnung“, lachte der. „Der Glühwein, den er hatte, roch jedenfalls nicht nach Alkohol.“
Alan hob kurz die Tassen an, die auf dem Tisch stand und schnupperte daran. Roch wirklich nicht danach, als ob Ricky mit dem gepanscht hatte und Alan selbst hatte in weiser Voraussicht nur Kinderpunsch besorgt und in die Küche gestellt.
„Vielleicht hat seine Oma die Vanillekipferl gedoped“, schlug Paul lachend vor.
„Hm, dann muss ich die, glaube ich, auch mal kosten.“
Und schon stopfte Alan sich eines in den Mund. Die waren echt so lecker, wie André behauptet hatte und für einen winzigen Moment bemitleidete Alan seinen alten Studienfreund, dass der jetzt keins mehr abbekommen würde. Als er das nächste Kipferl in den Mund wandern ließ, hielt sich sein Mitleid aber schon arg in Grenzen und beim dritten war André vollkommen vergessen.
„Hey, lass mir auch noch welche!“, rief Paul empört, als er merkte, dass Alan immer weiter kaute.
„Du kannst doch Ricky anrufen, er soll seiner Oma sagen, sie muss mehr schicken“, maulte der grinsend zurück.
Paul lachte und schubste gegen Alans Schulter, die sich keinen Millimeter bewegte. „Oder du kannst mir einfach noch was übrig lassen. dann muss ich die arme Frau nicht wegen deiner Fresssucht belästigen.“
„Ich bin fresssüchtig?!“
Die gespielte Empörung schien Paul nicht zu entgehen, denn er feixte und provozierte weiter: „Du wirst noch dick und rund.“
Schon beim ersten Versuch fand er Alans Hüfte, in die er mit spitzem Finger hinein stupste, was dem ein völlig untypisches Quieken entlockte, weil Paul mal wieder eine besonders kitzlige Stelle getroffen hatte.
Ein Scheppern war zu hören, während die Keksdose auf dem Couchtisch landete und bevor Paul etwas sagen konnte, wurde er schon auf das Sofa gedrückt.
Wenige Sekunden später hatte Alan es – wie auch immer – geschafft Pauls Beine auf die Couch zu ziehen, ohne diesen aus seinem Klammergriff freizulassen. Schließlich lag er zwischen dessen Beinen und drückte Paul mit seinem ganzen Gewicht in die weichen Kissen.
„Bin ich dir zu schwer?“, flüsterte Alan Paul mit rauer Stimme ins Ohr. Er konnte spüren, wie ein erwartungsvolles Beben durch den Körper unter ihm lief.
„Im Moment gerade nicht“, keuchte Paul zurück, als aus Atem an seiner Wange kurz darauf ein sanfter Kuss an seinem Hals wurde. Mehr Kribbeln, welches sich in Pauls Körper abwärts bewegte und sich mit jedem Beben auf Alan zu übertragen schien.
„Hm … Also kann ich noch ein paar Kipferl essen?“, fragte der weiter.
Pauls rechte Hand schnellte nach oben und packte Alan an den inzwischen kurz geschnittenen Haaren. Sanft um diesem nicht wehzutun, zog er daran und führte dessen Kopf zu seinem eigenen.
„Im Moment gerade nicht“, hauchte Paul ein weiteres Mal, bevor er Alan auch das letzte Stück zu sich heranzog und dessen Lippen endlich auf den seinen spürte.