Kapitel 2 – Ungewohnte Stimme
In der folgenden Nacht wachte er erneut schweißgebadet auf. Wieder dieser Traum. Würde das denn nie aufhören? Paul könnte nach der Nachtschwester klingeln, sich ein Schlafmittel geben lassen und friedlich und traumlos wieder einschlafen. Aber die ewigen Medikamente hatte er satt. Allein die Pillen, die er ab und an nahm, um die Schmerzen zu ertragen, reichten ihm vollkommen aus. Auf weitere Chemie in seinem ohnehin geplagten Körper hatte er schlicht keine Lust mehr.
Wie die Nächte zuvor blieb er liegen. Mit den Gedanken in der Vergangenheit wartete Paul darauf, dass der Pfleger aus der Morgenschicht kam, um ihn ins Bad zu bringen. Plötzlich wurde die Tür ungewohnt schwungvoll aufgerissen. Er runzelte die Stirn.
„Einen wundervollen guten Morgen!“, tönte Paul eine fremde Stimme gut gelaunt entgegen.
Sie war freundlich und warm. Tief und männlich. Deutlich erwachsener als die der früheren Pfleger geklungen hatten. Überrascht richtete Paul sich auf. Inzwischen hatte er sich abgewöhnt, dorthin zu ‚sehen‘, von wo er die Stimmen zu hören glaubte. Stattdessen ‚hörte‘ er in diese Richtung und drehte seinen Kopf entsprechend zur Seite.
„Oh, du bist ja schon wach.“ Die Stimme klang enttäuscht, aber ein kurzes Lachen hinterher zerstörte den Eindruck gleich wieder.
„Na dann mal los!“
Damit packte Paul eine große, raue und feste Hand am Arm und zog ihn nach oben.
„Zeit fürs Bad. Steht zumindest auf meinem Plan. Ach ja, ich bin Alan, freut mich. Paul, richtig?“
Dieser nickte hastig, denn zu mehr blieb ihm gar keine Zeit, bevor er schon von kräftigen, aber dennoch sanften Händen gen Bad gedrängt wurde.
„Ich bin neu in dem Job hier. Quasi mein erster Tag und ich darf gleich die volle Schicht machen. Ganz schön mies von denen, was? Na ja, aber es ist okay. Immerhin krieg ich den einzigen Bewohner, der wenigstens ansatzweise in meinem Alter ist.“
So viel wie dieser Neue hatte keiner hier je mit ihm gesprochen und Paul sah sich für einen Moment außerstande überhaupt auf den Redeschwall und die Hände, die ihn vorwärts gen Bad drängten zu reagieren.
War das etwa der Neue, von dem der Pfleger gestern Abend gesprochen hatte?! Aber der würde doch normalerweise erst zur Abendschicht hier antanzen. Und warum redete der überhaupt ununterbrochen? Der hörte ja gar nicht mehr auf.
„Ist dir das schon mal aufgefallen? Alle außer dir stehen hier kurz vorm Scheintod. Also ehrlich, das ist deprimierend! Sei froh, dass du dir diese Tattergreise nicht den ganzen Tag ansehen musst. Oh ... entschuldige!“
Alan klang besorgt. Seine Stimme hatte einen traurigen Unterton angenommen. Mitleid? Darauf konnte Paul verzichten! Er war versucht, sich loszureißen, doch Alan fuhr fort.
„Ich sollte nicht so über deine Mitbewohner reden! Wenn ich zu frech bin, dann sag’s einfach. Manchmal schlägt mein vorlautes Mundwerk zu. So, da sind wir ja.“
Damit schob er Paul zum Waschbecken und ließ das Wasser ein. Ein Paar warme und überraschend vorsichtige Hände fuhren kurz an Pauls nackten Armen auf und ab.
„Brauchst du noch irgendwas?“
Paul schüttelte hastig den Kopf und die Hände verschwanden. Leider. Nervös stand er vor dem Waschbecken. Normalerweise leitete der Pfleger ihn an. Der hier war komisch, so offen und ungezwungen. War er denn gar nicht abgestoßen von seinem Anblick? Vermutlich konnte dieser Alan es gut verstecken. Er klang irgendwie erwachsener als seine Vorgänger. Wahrscheinlich war er ein ausgebildeter Pfleger und hatte er schlicht schon deutlich schlimmere Sachen gesehen.
Zum ersten Mal seit Wochen war es Paul peinlich, hier zu stehen. Es widerstrebte ihm, sich ausziehen, und sich vor den Augen dieses Fremden zu waschen. Der Kerl war zu nett, zu freundlich. Es fühlte sich merkwürdig falsch an, diesen damit zu konfrontieren, wie ein blinder Krüppel sich mühsam selbst den Angstschweiß der Nacht vom Körper wusch.
Um die Scham zu überwinden, kehrte Paul zu einer Methode zurück, die er am Anfang seiner Zeit hier erfolgreich getestet hatte. Da er den Mann nicht sah, stellte er sich vor, der sei aus dem Bad gegangen. Dann kam es Paul vor, als wäre er hier allein und könnte tun und lassen, was er wollte.
Diese Vorstellung war allerdings gefährlich, wenn er sie zu weit trieb. Dadurch, dass seine bisherigen Pfleger eher wortkarg gewesen waren, vergaß er mitunter, dass er eben nicht alleine war. Aber Pauls sexuelles Verlangen hatte sich mehrheitlich auf die Abendstunden verlagert, wo er ihm mit altbewährten Methoden Abhilfe beschaffte. Dann, wenn er tatsächlich alleine war.
„Gut, gut“, ertönte die fröhliche Stimme neben seinem Ohr, sobald Paul fertig war.
Der zuckte erschrocken zusammen. Zu schnell. Zu nah! Die Hände fuhren erneut über seine Arme, hinunter bis zu den Handgelenken, ergriffen sie und zogen Paul zurück ins Zimmer. Der war nach dem Waschen noch vollkommen nackt und erstmals, seit er im Pflegeheim war, wurde ihm diese Tatsache unangenehm bewusst.
Scham. Angst. Unwohlsein. Nicht zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Bisher hatte ihn das nie gestört. Doch heute war offenbar alles anders. Paul wünschte sich, er könnte ihn sehen, diesen merkwürdigen Alan. Er wollte wissen, mit was für einem Menschen er es zu tun hatte. Die freundliche Stimme, die ständig so klang, als ob ihr Besitzer lächelte, die warmen Hände, die über Pauls ausgekühlte Haut glitten. Das alles mischte sich in dessen unterschwellig ständig vorhandenes Verlangen danach, dass jemand genau das machte: Seine Hände über Pauls Körper gleiten ließ. Überall.
„Brauchst du Hilfe beim Anziehen?“
Hastig schüttelte Paul den Kopf und tastete durch die Luft, um seine Sachen zu finden, die Alan ihm hinhielt. Erst jetzt wurde Paul klar, dass er sich ohne Hilfe gewaschen hatte. Das war vorher nie passiert – das hatte ihn zuvor niemals einer alleine erledigen lassen. Er stockte, konnte das Keuchen jedoch gerade noch unterdrücken.
„Ist mir unklar, warum du überhaupt einen Pfleger brauchst. Du kannst doch alles allein“, murmelte Alan im gleichen Augenblick.
Beinahe klang es enttäuscht. Erneut antwortete Paul nicht. Das Schweigen gehörte zu ihm. Es war zusammen mit der Dunkelheit gekommen. Und wollte genau wie diese nicht mehr verschwinden.
Paul sprach so gut wie nie, nicht seit Jannik gegangen war. Was hätte er schon sagen sollen? Die Pfleger fragten nur, ob er Hilfe brauchte, sie redeten nicht wirklich mit ihm. Nicht mehr. Die einzigen Leute, mit denen Paul ab und sprach, waren die Ärzte – doch selbst das immer seltener.
Insbesondere auf den Irrenarzt, zu dem Paul einmal die Woche gehen musste, konnte er verzichten. So jemanden brauchte er nicht. Mehr als ein ‚es tut mir leid, dass Ihre Familie tot und Sie ein Krüppel sind‘ konnte der Paul schließlich auch nicht sagen.
Vorerst stand jedoch Frühstück auf Pauls Stundenplan und keine Therapien. Erstaunlicherweise schaffte Alan es nicht einmal dort, endlich still zu sein.
„Iieh, schmeckt dieses labberige Zeug etwa? Also ich wollte das nicht runterwürgen. Mann, sei froh, dass du die Pampe nicht sehen kannst. Da würde dir nur erst recht schlecht werden. Ist das wirklich genießbar? Du bist mutig, so was zu essen. Wenn sie hier nur so etwas ausgeben, ist es echt ein Wunder, dass du nicht total abgemagert bist.“
Paul zuckte bei dem Kommentar zusammen. Seine Hände hatten in den letzten Wochen und Monaten öfters den eigenen Körper erkundet. Ja, ihm war durchaus bewusst, dass er in seiner Zeit hier einige Kilos verloren haben dürfte. Als ‚abgemagert‘ hätte er sich aber trotzdem nicht bezeichnet.
Schließlich war er schon immer eher schlank, wenn auch sonst recht normal gebaut gewesen. Das hatte sich durch seinen Aufenthalt hier und den fehlenden Sport natürlich nicht geändert. Dass es tatsächlich auffallend sein sollte, erstaunte Paul dennoch in gewisser Weise. Wobei es ihm am Ende egal sein konnte. Neben den anderen Entstellungen, die sein Körper aufweisen dürfte, sollte das nun wirklich nichts mehr ausmachen.
„Echt mal. Schmeckt das etwa?“
Paul seufzte und zuckte mit den Schultern. Eine Antwort brachte er nicht heraus. Wozu auch? Es dürfte klar sein, dass er hier keine wirkliche Wahl hatte, was das Essen betraf. Alan hielt daraufhin aber zumindest kurzzeitig endlich die Klappe. Allerdings nicht für lange.
Nicht einmal in der sonst so friedlichen Zeit, in der Paul blöd im Aufenthaltsraum herumlungerte, hatte er heute seine Ruhe. Kaum hatte Alan ihn dort abgeliefert, zog sich dieser schon einen Stuhl heran und fuhr fort munter drauf los zu quasseln.
Nach zwei Stunden fragte Paul sich ernsthaft, ob man den Kerl irgendwo abschalten konnte. Der Gedanke daran, dass Alan einen Kopf zum Ausstellen hatte, und er ihn nur finden musste, brachte Paul zum Kichern. Es war merkwürdig, sich vorzustellen, wie er tastend nach einem Schalter am Körper des Neuen suchte. Komisch, aber ein in mehrerlei Hinsicht anregender Gedanke – selbst wenn Paul keine Vorstellung davon hatte, wie der Körper dieses neuen Pflegers überhaupt gebaut war.
Alan bemerkte offenbar die plötzliche Gefühlsregung. „Aha, du findest es also witzig, dass ich mir ein Bein gebrochen hatte. Sehr interessant. Vielleicht sollte ich mich aus dem Fenster stürzen und mir den Arm brechen, dann würdest du womöglich allgemein fröhlicher werden.“
„Was?“
Alan lachte leise. „Es spricht!“
„Ich habe nicht zugehört“, gab Paul zu und war erstaunt, wie leicht ihm die Worte über die Lippen kamen. Die mangelnde Benutzung hatte sich nicht auf seine Stimme niedergeschlagen.
Mit einem Mal war da eine warme Hand auf Pauls Schulter. Er zuckte zusammen, jedoch nicht zurück. Die Hand drückte einmal fest zu, bevor sie verschwand. Aus Alans Richtung war ein weiteres leises Lachen zu hören. Vermutlich grinste der Typ sich gerade einen ab. Normalerweise würde das Paul ziemlich gegen den Strich gehen, aber nachdem er dem Kerl den ganzen Vormittag zugehört hatte, versetzte ihm die Ungewissheit, ob dem so war einen unangenehmen Stich in den Magen.
„Hach, vermutlich langweile ich dich schlichtweg tödlich ... Tut mir leid, Paul.“
Der schüttelte den Kopf, schwieg aber wieder. Nein, gelangweilt war er nicht. Im Gegenteil. Er fühlte sich wohl eher gestört – in seinem täglichen Nichtstun. Das Gespräch, selbst wenn Paul nicht zugehört hatte, war eine Abwechslung. So sehr er sich zunächst dagegen gesträubt hatte, Alans ständiges Gequatsche war auf eine merkwürdige Art und Weise angenehm.
Vorsichtig strich etwas über Pauls linken Handrücken. Erneut zuckte erschrocken zusammen und zog diesmal auch seine Hand sofort zurück. Wie als versuche er, die überraschende Berührung wegzuwischen, fuhr Paul sich mit der Rechten über die Stelle. Er spürte die Narbe, wie sie sich von seinem Handrücken abhob. Sie sah garantiert grotesk aus, groß, breit, rot, würde sie von seiner hellen Haut hervorstechen, wie ein Kainsmal.
Sofort kehrte Pauls Unsicherheit zurück. Wieso zum Teufel war dieser Kerl so nett. Er sollte aufhören damit! Vielmehr müsste Alan ihn mit Abscheu behandeln, mit Ekel, nicht mit Freundlichkeit, als wäre Paul ein Mensch wie jeder andere. ‚Normal‘, das war ein Begriff, der auf ihn nicht mehr zutraf. Blind, mit zig Narben, die sich über seinen linken Arm und das Gesicht zogen. Sein Anblick war sicher so abstoßend, dass er sich selbst angewidert abwenden würde.
„Sitzt du eigentlich immer nur hier rum? Wie wär’s mit einem Spaziergang oder so?“, fragte Alan und unterbrach Pauls Gedanken.
Der horchte auf, schüttelte dann heftig den Kopf. Nein, nicht rausgehen, nicht das Gelände verlassen.
„Wieso nicht? Wird bestimmt witzig. Außerdem könntest du etwas mehr Farbe vertragen.“
„Ich will nicht.“
„Wie wär’s mit heute Abend? Warst du in letzter Zeit mal aus? Stehst du mehr auf Nachtklub oder Lounge Bar?“
War der Kerl eigentlich total verblödet?! Paul wurde allmählich sauer. Er hatte doch ‚Nein‘ gesagt! Und was sollte er ausgerechnet in einem Nachtklub? In dem Zustand konnte er ja wohl schlecht tanzen! Außerdem würden ihn alle anstarren. Das brauchte er nicht einmal selbst sehen, er würde ihre Blicke garantiert spüren!
„Na ja, ich weiß eh nicht, welche Klubs inzwischen angesagt sind. Bin noch nicht so lange wieder in der Stadt. Und tanzen ist eigentlich nicht so meins. Was ist mit dir? Auch nicht? Weiß nicht, ob meine üblichen Locations etwas für dich sind. Aber ich kenne da jemanden, den ich fragen könnte. Also? Hast Du Lust?“
Wieder schüttelte Paul den Kopf, diesmal energischer. Wie kam der Typ überhaupt darauf, dass sie zusammen weggehen könnten? Das hier war schließlich sein Job. Der endete mit Feierabend. Das schloss garantiert kein ‚Ausgehen mit Patienten‘ ein.
„Gar nicht? Echt mal ... Ein bisschen mehr Initiative musst Du schon zeigen. Hier findest Du bestimmt nie eine Freundin. Es sei denn, du stehst auf Ur-Omas ...“, murmelte Alan und lachte dabei gluckend.
„Ich will keine Freundin“, antwortete Paul lapidar und senkte den Kopf.
Selbst wenn er nicht auf Männer stehen würde, wäre das in diesem Fall kein Unterschied. Konnte Alan das denn nicht verstehen? Er wollte nicht gesehen werden, keine Freunde, niemanden. Sobald er sich auf jemanden einließ, würde derjenige ihn doch sowieso abhauen. Auf die eine oder andere Weise. Entweder unfreiwillig, wie Pauls Familie oder weil sie seinen Anblick nicht mehr ertragen konnten, so wie seine Großeltern und Jannik. Lieber bewusst allein, als irgendwelche dummen Illusionen nachzurennen.
„Pft! Immer sagst du nur, was du nicht magst. Kannst du nicht mal sagen, was du willst?“
Alans Stimme war eindringlich. Dennoch hielt er sie ruhig und leise. Nötig wäre das sicherlich nicht. Die meisten Bewohner waren deutlich älter als Paul, nicht wenige vermutlich sogar älter als seine Großeltern. Da war garantiert die Hälfte schwerhörig und bekam nicht einmal mit, dass sie da waren. Trotzdem war das ganze Gespräch Paul mehr als peinlich und er war sich ziemlich sicher, dass man ihm das auch ansah.
„Ich will in Ruhe gelassen werden. Ich will allein sein“, antwortete Paul.
„Alleine bist du sowieso schon, dabei brauch ich dir nicht helfen.“
Paul zuckte erschrocken zusammen. So deutlich hatte das ihm bisher niemand gesagt. Er hörte das Rascheln von Stoff und Schritte, die sich entfernten. Alan hatte ihn allein gelassen, genau das, was Paul von ihm verlangt hatte. Der Gedanke versetzte ihm dennoch einen Stich in den Magen.
Dabei sollte er sich nicht mies fühlen. Es waren seine eigenen Worte gewesen, sein eigener Wunsch. Er hatte nach Ruhe gefragt und genau das bekommen, was er heraufbeschworen hatte. Zurück zur Einsamkeit. Die war sicherer.
Wenn er keinen Menschen an sich heranließ, dann würde ihn niemand verlassen. Da spielte auch die Art der Beziehung keine Rolle mehr. Freunde, Partner, Familie. Irgendwann waren sie offenbar alle weg. Das bisschen Zeit, in der man glücklich sein konnte, war den Schmerz, wenn es weg war nicht wert.
Zum Mittagessen kam ein anderer Pfleger und brachte Paul in den Speisesaal. Dieser sprach nur das nötigste, wie Alans Vorgänger es ebenfalls getan hatten. Es war albern, trotzdem kam Paul nicht umhin, das ständige Gelaber für einen Moment zu vermissen.
Aber es war besser so. Bevor er sich an Alan gewöhnte, würde Paul diesen von sich stoßen, wie er alle von sich fernhielt. So war es einfacherer. Außerdem würde Alan sowieso irgendwann verschwinden.
Dienstzeiten endeten, Leute landeten auf anderen Stationen, wechselten den Job. Es gab tausend Gründe – einer würde früher oder später eintreffen. Ob freiwillig oder um von ihm wegzukommen, war etwas, worüber Paul nicht nachdenken wollte. Die meiste Zeit würde ihn die Antwort nur noch mehr verletzten.
Nein, Paul war sich sicher, dass er ohne Alans Gesellschaft besser dran war. Er brauchte niemanden, der ihm ständig irgendwelche sinnlosen Geschichten erzählte, der nett zu ihm war und den er am Ende womöglich als einen ‚Freund‘ bezeichnen würde. Schlussendlich war es für Alan doch ohnehin nur ein Job.
Trotzdem fehlte ohne diesen viel zu redseligen Kerl für den Rest des Nachmittags etwas. Und so kehrte ein leiser Schatten in Pauls Bewusstsein zurück, von dem er geglaubt hatte, er wäre für immer verschwunden.
Allein, er war tatsächlich wieder vollkommen allein.
Genau so, wie er es verlangt hatte, wie er es wollte. Trotzdem fühlte er sich mies. Denn erstmals schien diese Entscheidung eine gewisse Tragweite zu offenbaren. Plötzlich war diese selbst gewählte Einsamkeit nicht schlicht die Abwesenheit von Gesellschaft. Es war vielmehr ein großes, tiefes Loch, aus dem Paul nicht allein herauskam.
Auch zum Abendessen kam wohl ein weiterer fremder Pfleger. Der Geruch kam ihm nicht bekannt vor und er hatte sich Paul nicht einmal vorgestellt. Kein einziges Wort kam über die Lippen des Pflegers.
Nach dem Essen brachte der Mann ihn zurück in sein Zimmer. Zuerst wollte Paul sich weigern. Es war viel zu früh, um jetzt schon ins Bett zu gehen, aber dann ließ er sich dennoch wortlos vorwärts schieben.
Was machte es letztendlich für einen Unterschied? Ob er mitten in der Nacht oder kurz vorm Morgen schweißgebadet aufwachte, war doch nebensächlich. Im Grunde war alles egal. Das hier war kein Leben. Eine bloße Existenz, deren Verschwinden niemanden mehr interessieren würde. Im Gegenteil. Es wäre doch für alle leichter, wenn er nicht überlebt hätte.
Kaum war die Tür klackend ins Schloss gefallen, spürte Paul zwei Hände, wie sie über seine Seiten nach unten fuhren und sein Shirt aus der Hose zogen. Ein kurzes Kribbeln durchflutete Paul, als die flüchtige Berührung ihn an bessere Zeiten erinnerte, daran wie andere Hände seinen Körper erkundet hatten. Ein Zittern wanderte durch Paul, während er versuchte, die aufsteigende Sehnsucht zu unterdrücken.
Die fremden Hände zogen am Shirt, um es über seinen Kopf zu ziehen. Nervös zuckte Paul zusammen, hob anschließend zögernd, aber folgsam die Arme, damit der Fremde ihn ausziehen konnte. Dabei berührten ständig dessen Finger federleicht und sanft seine Haut.
Ein weiterer Schauer und wieder erzitterte Paul. So kurz und unabsichtlich wie der Kontakt war, so grausam real erinnerte er ihn an eine Zeit, als solche Momente zu vollkommen anderen Berührungen geführt hatten. Augenblicke, die Paul stetig schmerzlicher herbeisehnte.
Da fing der Pfleger an, ihm die Hose aufzuknöpfen, und schob sie ein Stück über seinen Po hinunter. Kurz darauf drängte er Paul sanft zurück aufs Bett. Die fremden Hände brannten auf seiner Brust. Zu viel, zu warm, zu nah.
‚Geh weg!‘, dachte Paul, doch er sagte nichts, denn womöglich hätte der hier genauso gehorcht wie Alan.
Egal wie ungewohnt die Berührungen waren, Paul konnte nicht anders, als sich nach jedem Ausrutscher zu sehenen, der zu neuem Hautkontakt führte. Je mehr, desto besser.
Der schweigende Pfleger öffnete Pauls Schuhe und zog sie ihm aus. Anschließend war die Hose dran, sodass er nur in seiner Unterhose halb auf dem Bett lag, halb saß. Es kostet Paul unglaubliche Konzentration, nicht plötzlich schwach zu werden und den aufsteigenden Fantasien freien Lauf zu lassen. Es wäre nicht sonderlich schicklich, dem unbekannten Pfleger mit seiner sich ausbeulenden Unterhose zu konfrontieren, nur weil der ihn auszog.
Paul hörte Schritte, die sich kurz entfernten und anschließend zurückkamen. Wie automatisch erhob er sich. Zeit fürs Bad. Doch eine Hand stieß ihn direkt wieder zurück aufs Bett. Überrascht und etwas verunsichert versuchte Paul zu verstehen, was vor sich ging. Trotzdem kamen keine Worte über seine Lippen. Er schwieg, so wie er es immer tat.
Der Pfleger packte Pauls Knöchel. Die ungewohnte Berührung war erschreckend. Instinktiv trat Paul zu. Doch die fremde Hand hielt ihn eisern fest. Was sollte das?
Pauls Fuß wurde in einen Stoff gesteckt. Der Schlafanzug? Das war falsch, erst kam das Waschen, danach das Anziehen für die Nacht. Außerdem musste die Unterhose noch aus. Stattdessen wurde der zweite Knöchel ebenfalls in ein Hosenbein geschoben. Anschließend zog der Pfleger die Hose so weit hoch, wie möglich. Weil Paul auf dem Bett saß, war das gerade bis zum Schritt.
Mit einer hastigen Bewegung zog der Pfleger Paul auf die Beine. Der verlor beinahe das Gleichgewicht und klammerte sich instinktiv an das Nächste, was er zu greifen bekam.
Die Schultern des Neuen waren deutlich breiter als seine eigenen – dabei hatte Paul sich selbst nie als schwächlich erachtet. Ja, er war kein echter Sportler und hatte noch nie ein Fitnessstudio von innen gesehen, aber total zierlich war Paul nicht gerade. Zumindest hatte er das bisher angenommen. Im Vergleich zu diesem Pfleger war allerdings garantiert ein ziemlicher Schwächling.
Während Paul sich an das Hemd seines Pflegers klammerte, zog der ihm die Hose nach oben und knöpfte sie zu. Moment! Sein Schlafanzug hatte keine Knöpfe. Schon wieder falsch! Und trotzdem schwieg Paul noch immer, ohne wirklich zu wissen warum.
Bevor er darüber nachdenken konnte, befreite sich der Pfleger aus seinem Klammergriff. Er packte Pauls rechtes Handgelenk und zwängte es in ein Hemd. Nein, alles falsch! Er trug nie ein Oberteil vom Schlafanzug, das war ihm zu heiß.
Diesmal setzte Paul an um etwas sagen. Er war wütend und frustriert. Dieser Kerl sagte kein Wort und machte, was er wollte – und das alles falsch. Doch als er ansetzte, legte sich ein sanfter Finger auf seinen Mund und brachte ihn keuchend zum Schweigen. Ein merkwürdiges Kribbeln stieg in seinem Bauch auf. Eine Mischung aus Neugier und Angst, aus Erwartung und Spannung.
‚Was geht hier vor?‘
So hatte sich bisher nie ein Pfleger aufgeführt. Wo war der Kerl von heute Morgen? Alan. Der war nett, freundlich. Der machte Paul keine Angst, zog ihm nicht die falschen Sachen an. Nein, der hatte ihn alles selbst machen lassen und versucht, Paul seine Wünsche zu erfüllen. Mit einem Mal wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass die dumme Labertasche wieder auftauchte und den Typen hier in Grund und Boden quatschte.
Ein weiteres Zittern ließ Pauls Körper erbeben. Doch diesmal hatte das nichts mit Erregung zu tun. Erneut wurde er sich bewusst, was es bedeutete, wenn er jeden Menschen von sich stieß. Hätte er Alan nicht vertrieben, wäre der jetzt hier und nicht dieser unheimliche Fremde!
‚Selbst schuld! Du hast es so gewollt.‘
Das hier war nicht, was Paul wollte. Aber es war das, was er sich von Alan gewünscht hatte. Vielleicht war das der Grund, warum er weiterhin schwieg, alles mit sich geschehen ließ, ohne wirklichen Protest. Letztendlich wäre es ohnehin egal. Da draußen vermisste ihn doch jetzt auch schon niemand.
Als diese warmen und kräftigen Hände erneut über Pauls Arme glitten, war der sich nicht mehr so sicher, ob das Zittern wirklich nur der Angst entsprang. Das Hemd wurde ihm in die Hose gestopft, bevor Paul aufs Bett zurückgedrängt wurde. Erneut wurden seine Fußgelenke eines nach dem anderen gepackt. Diesmal zog man ihm zuerst Strümpfe und anschließend Schuhe an.
Paul hatte längst aufgehört, sich zu wundern. Stattdessen ergab er sich der Macht desjenigen, der ihn hier anzog. Er verstand nicht, was passierte. Und schon gar nicht warum. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sich die Einsamkeit falsch und bedrückend an. Trotzdem fehlte Paul der Wille, etwas daran zu ändern.