Kapitel 6 – Unangemessene Vorstellungen
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Ein weiterer Morgen in dieser Woche, an dem Paul eine gefühlte Ewigkeit zum Anziehen brauchte. Trotzdem kam dieser nicht umhin, einen winzigen Funken von Stolz zu verspüren. Immerhin schaffte er das inzwischen alleine. Weitestgehend.
Vor drei Tagen hatte er Alan das erste Mal gebeten, das Bad zu verlassen, in der Zeit, in der er sich wusch. Ob der das wirklich tat, hätte Paul nicht einmal sagen können. Aber der Gedanke, dass der Mann ihn ständig anstarrte, während Paul nackt im Bad stand, jagte ihm immer wieder einen Schauer über den Rücken.
Eine Mischung aus Erregung und Scham, die Paul allmählich nicht mehr ertrug. Alan hatte ihm mehrmals gesagt, dass die Narben nicht so schlimm wären, wie er sie sich vorstellte. In manchen Momenten wollte Paul diese Worte glauben. So sehr, dass die Angst, sie waren es nicht, ihn zu zerreißen drohte. Immer öfter hatte Paul sich in den vergangenen Wochen vorgestellt, jemand wie Alan könnte ihn tatsächlich noch mit so etwas wie Verlangen ansehen.
Dummerweise war genau das zum Problem geworden. Denn zwischen ‚begehrenswert‘ und ‚fickbar‘ gab es Pauls Erfahrung nach ein sehr weites Feld – bei dem er sich nicht am falschen Ende wiederfinden wollte. Nicht einmal, wenn alles in ihm danach schrie, endlich wieder mehr als einen gut gemeinten Schlag auf die Schulter spüren zu wollen.
Haut auf Haut, Hände, die über Pauls Körper glitten. Verlangen, Erregung. Eine grausame Hoffnung, die da immer wieder in ihm keimte, nur um von der Angst, dass das alles lediglich nette Floskeln waren, erstickt zu werden.
„Fertig?“, fragte Alan, während Paul sich gerade die Schuhe überstreifte.
Die ruhige und leise Stimme überraschte ihn selbst nach all den Monaten noch immer. Paul hatte inzwischen mehrmals die Erfahrung machen dürfen, dass Alan ganz offensichtlich um einiges kräftiger gebaut war als er selbst. Zumindest schaffte der Kerl es locker, Paul über die Schulter zu werfen und ihn wie ein bockiges Kleinkind durch die Hallen des Heimes zu trafen, wenn der mal wieder nicht so wollte, wie sein Therapeut.
„Ja“, antwortete Paul entsprechend hastig, während er den Arm ausstreckte, damit Alan ihn ergreifen konnte.
Schweigend gingen sie durch den Flur in Richtung Speisesaal. Gemeinsames Frühstück. Auch das war in den vergangenen Monaten ein Teil ihrer Morgenroutine geworden. Zumindest kam es Paul manchmal so vor. Was Alan tatsächlich davon hielt, konnte er nur erahnen. Wobei es das vermutlich nicht wirklich traf. Oft genug war Paul sich nicht sicher, was er von seinem merkwürdigen Therapeuten halten soll.
Dass Alan nicht zu Pauls Privatvergnügen angestellt war, wusste er natürlich. Trotzdem schien der Kerl sich jede Zeit der Welt zu nehmen, um bei ihm zu sein. Das Gefühl, dass man ihn noch nicht völlig aufgegeben hatte, war angenehmer, als Paul an den meisten Tagen hätte zugeben wollen. Zu angenehm, als dass er darüber ausgerechnet mit Alan sprechen wollte. Obwohl dieser genau derjenige war, mit dem Paul reden sollte.
Während sie ebenso schweigend beim Frühstück saßen, wurde Paul wie so oft bewusst, dass Alan sich an seinem ersten Tag hier vollkommen anders benommen hatte. Damals war der Kerl gar nicht aus dem Reden herausgekommen. Seitdem war das aber nie wieder passiert und so kam Paul nicht umhin, sich zu fragen, ob Alan ihm vor drei Monaten nur irgendetwas vorgespielt hatte.
‚Oder er tut es jetzt?‘ Was zugegeben auch nicht besser wäre.
Ein merkwürdiges, sich ständig wiederholendes Klirren brachte Pauls Gedanken aus dem Kopf. Er runzelte die Stirn und hörte genauer hin. Dieses eintönige Klopfen von Metall auf Keramik – in den letzten Tagen hatte er es häufiger gehört. Hatte Alan irgendwelche Probleme mit dem Essen? Oder mit anderen Dingen?
Der Gedanke verdarb Paul beinahe jeden Appetit. Er wollte überhaupt nicht darüber nachdenken, was für Probleme dem sonst so fröhlich erscheinenden Alan die Laune verderben konnten. Die Chancen, dass er selbst ein Teil dieser war, standen schließlich nicht ganz schlecht.
„Was ist los?“, fragte Paul trotzdem, um Gelassenheit bemüht, während er weiter auf dem Toast herumkaute.
Zunächst kam keine Antwort. Nur zu gern hätte Paul gewusst, wie sein Gegenüber reagierte. Sah er wenigstens auf? Blickte er ihn an? Alles, was Paul selbst tun konnte, war sein Auge stur gerade aus zu halten. Sehen würde er ja sowieso nichts.
„Nichts. Ich ... habe nur keinen Hunger“, meinte Alan irgendwann verhalten.
Ein knirschendes Geräusch war zu hören, von dem Paul vermutete, dass es Alans Teller war, der über den Tisch geschoben wurde. Das klang so überhaupt nicht gut.
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Alan war der Appetit vergangen. Seit Paul ihn vor drei Tagen das erste Mal aus dem Bad geworfen hatte, versuchte er sich einen Reim darauf zu machen, was das bedeuten sollte. Jeder Versuch, das Thema irgendwie zur Sprache zu bringen, war von Paul abgeblockt worden.
Das Problem dabei war nicht die offensichtlich stetig stärker werdende Ablehnung von Alans Anwesenheit. Das hätte er ja normalerweise sogar positiv sehen müssen. Immerhin fing Paul an, selbstständiger zu agieren – genau das, was Alan und die Heimleitung hatten erreichen wollen. Jeder Schritt, den Paul dabei in die Unabhängigkeit machte, war jedoch einer, der sie beide weiter voneinander entfernen würde.
‚So wie es sein muss‘, versuchte Alan sich zu ermahnen.
Dummerweise machte ihm zeitgleich das dumpfe Stechen in seiner Brust klar, dass er nicht zum ersten Mal auf die Grenze in ihrem Arzt-Patientenverhältnis zumarschierte, die er nicht einmal aus weiter Ferne hätte betrachten sollen. Paul war kein Freund – und schon gar nicht mehr. Er war ein Patient. Sonst nichts.
Alan fuhr sich über die müden Augen, bevor er seufzend fragte: „Bist du fertig, Paul?“
Der nickte und schob seinen Teller ebenfalls ein Stück vor. Sie verließen den Speisesaal und liefen in eine der Turnhallen des Sanatoriums. Die älteren Bewohner benutzten sie seit dem Winter so gut wie gar nicht mehr. Genauer gesagt war die Physiotherapeutin des Heimes seitdem in Elternzeit und einen Ersatz hatte die Leitung bisher nicht aufgetrieben. Aber Alan hatte einen Zeitvertreib gefunden, für den Paul die große Halle gut nutzen konnte.
Er hatte Bälle, Bänke und Matten über den ganzen Raum verteilt. Seit einigen Tagen hielten sie ihre Therapiesitzungen hier ab. Während Alan Fragen stellte, erzählte und mit Paul sprach, führte er diesen gleichzeitig durch den Raum.
Sein Schützling wusste, dass überall Sachen lagen. Alan wies ihn manchmal direkt darauf hin, damit Paul sich selbst davon überzeugte, dass er nicht durch einen leeren Raum lief. Heute schien der allerdings nicht in der Stimmung zu sein – weder für das Gespräch noch für die Übung. Paul schwieg sich schon wieder aus, egal was Alan ansprach oder fragte.
‚Zwei Schritte vor, einen zurück‘, dachte der resignierend.
Außerdem war dieser Hindernisparcours nicht einmal ansatzweise wie eine reale Straße. Er musste mit Paul raus, ihm zeigen, dass echte Leute nicht anders auf ihn reagieren würden, als es Alan oder die übrigen Bewohner des Heims taten.
Ein Spaziergang die Straße entlang zu dem kleinen Park. Dort gab es ein Café, das sehr leckeren Kuchen hatte. Oder doch lieber der Garten vom Heim? Egal. Hauptsache, es brachte Paul hier raus und ihn wenigstens für ein paar Minuten zurück in die Wirklichkeit holte. Denn diese Realität, vor der Paul solche Angst zu haben schien, war weder so schlimm noch so grausam, wie der es sich täglich einredete.
Park und Kuchen klangen nach einer guten Idee.
„Wollen wir heute nicht mal ausgehen?“, hörte Alan sich selbst mit einem Mal fragen, während er Paul über eine der Bänke hinweg balancieren ließ.
Sie liefen bewusst langsam. Sein Schützling zitterte bei jedem Schritt und klammerte sich ohnehin bereits an Alans Hand. Bei der Frage verstärkte sich der Griff aber noch mehr.
„Ein Date?“, fragte Paul überrascht zurück, tapste allerdings weiter.
Alan hatte das Gefühl, als würde sein Kopf förmlich explodieren. Das war nicht gerade die Antwort, mit der er gerechnet hatte. Bei Pauls momentaner Stimmung war eine Ablehnung wahrscheinlich gewesen. Zustimmung wäre ein gutes Zeichen. Was er von der Interpretation ‚Date‘ halten sollte, wusste Alan allerdings nicht.
Verunsichert sah er zu Paul hinüber. Dem war aber nicht anzusehen, ob die Frage ernst gemeint war oder lediglich ein unbewusster Ausrutscher.
Ein Teil von Alan war schon allein aus Neugier, wie Paul reagieren würde, dabei zuzusagen, als ihm klar wurde, was genau er damit tun würde. Sofort verkrampfte sich alles in ihm. Eben noch hatte er darüber nach gedacht, dass er sowieso bereits viel zu weit gegangen war, was das Arzt-Patientenverhältnis anging und jetzt so etwas.
Sie erreichten das Ende der Bank. Mit einem zögerlichen Schritt trat Paul von ihr herunter. Er löste den Klammergriff an Alans Hand und drehte sich herum. Pauls Blick war dennoch zur Seite gerichtet. Ein eher unbewusstes Verhalten, das Alan jedoch bewies, dass sein Schützling allmählich anfing, sich von seiner alten Gestik zu verabschieden. Anstatt Leute anzusehen, ‚hörte‘ er inzwischen in ihre Richtung.
„Doch nicht?“, fragte Paul.
Alan runzelte die Stirn. War da ein Zittern in Pauls Stimme gewesen? Schlagartig begann es in seinem Kopf zu rattern. Ein ‚Date‘ im klassischen Sinne kam natürlich nicht infrage. Das wäre doch reichlich unprofessionell. Obwohl Alan unter anderen Umständen vermutlich nicht einmal darüber nachdenken, sondern direkt zusagen würde.
Hastig schüttelte Alan den Kopf, war im nächsten Augenblick erneut froh darum, dass Paul ihn nicht sehen konnte. Unbewusst hob er die Hand und fuhr sich dabei über die linke Wange. Wenn irgendjemand Alan so sehen könnte, würde er ihn zweifellos für einen absoluten Volltrottel halten.
‚Einen, der das Papier nicht wert ist, auf dem seine Zulassung gedruckt ist.‘
Alan räusperte sich. In seinem Kopf rotierte es, um endlich eine Antwort hervorzubringen, die ihn weder in Teufels Küche bringen, noch Pauls Ansatz von Interesse an Zeit außerhalb des Heimes begraben würde.
„Ich ...“, stammelte Alan, während es in seinem Kopf weiterhin ein Gedanke den nächsten jagte. „Wo würdest du denn hingehen wollen?“
Paul runzelte die Stirn, schien zu überlegen, antwortete aber nicht. Alan hingegen biss sich auf die Unterlippe. Nicht mehr viel und er war kurz davor den winzigen Fortschritt zu verlieren, den Pauls Vorpreschen darstellte.
„Ich weiß nicht ...“, flüsterte dieser schließlich.
Alan kniff für einen Moment die Augen zusammen, während er darum kämpfte, die Hände nicht zu Fäusten zu ballen. Er war so kurz davor gewesen, dass Paul endlich aus dem verdammten Schneckenhaus kam. Offenbar war es seinem Schützling wichtig. Ein Schritt nach draußen, in die Realität, dorthin wo andere Menschen waren. Egal wie, Paul durfte nicht mit einem miesen Gefühl aus dieser Unterhaltung gehen, wenn er sich schon mal vorgewagt hatte.
„Wie wäre es, mit einem Abend im Rush-Inn?“, versuchte Alan es erneut, erntete jedoch lediglich ein weiteres kritisches Stirnrunzeln dafür. „Ein ... alter Studienfreund wollte sich auch mal wieder mit mir treffen. Wir können alle zusammen gehen.“
Pauls Kopf sank noch ein Stück tiefer, was Alans eigene Stimmung auf den Boden der Tatsache aufschlagen ließ. Mit jedem Wort, das er sagte, schien er die Situation eher zu verschlimmern als zu verbessern. Wahrscheinlich wäre es das Beste gewesen, endlich die Klappe zu halten, bevor die Katastrophe vollständig war. Aber alles in Alan verweigerte sich dagegen, diesen Strohhalm an Entgegenkommen, den Paul ihm gereicht hatte, einfach aufzugeben.
„Mein Kumpel“, fuhr er zögerlich fort. „Er kommt grad nur im Doppelpack raus. So ganz allein zusammen mit einem Pärchen ...“, fügte Alan mit einem heiseren Lachen hinzu, als er sah, dass Paul weiterhin zögerte. „Du würdest mir helfen.“
Stirnrunzelnd hob Paul den Kopf wieder hoch. Es kam aber keine sofortige Ablehnung. Völlig unpassenderweise fing jetzt auch noch Alans Herz an, schneller zu schlagen. Schließlich ging es hier nicht wirklich um ein Date. Es ging darum, dass Paul wieder unter Menschen kam, dass er akzeptierte, dass niemand ihn ausgrenzte, nur weil er blind war. Vor allem aber musste er begreifen, dass die Blindheit nicht sein komplettes weiteres Leben bestimmen durfte.
„Oh ...“, murmelte Paul.
Alan rieb sich über seine linke Wange. Wenn er doch nur in diesen Dickschädel reinsehen könnte. Bei an deren Patienten hatte er selten so viele Probleme, ihre Gedankengänge nachzuvollziehen. Aber bei Paul lag er immer öfter daneben, wie es aussah. Jedenfalls Oft genug, dass Alan sich allmählich nicht mehr sicher war, ob er jemals richtig gelegen hatte.
„Ich denke ...“, murmelte Paul und es war nicht schwer zu erraten, wie der Satz enden würde.
Er würde ablehnen, irgendeine Ausrede vorschieben. Sagen, dass es besser wäre, wenn er hierbliebe, anstatt Alan ‚zur Last zu fallen‘. Dabei war die Sache mit dem Gefallen nicht gelogen. Wer wollte schon neben einem glücklichen Paar sitzen, so lange man selbst ständig nur einer vergeblichen Liebe nach der anderen hinterher rennen konnte?
Aber das konnte Alan Paul natürlich nicht sagen. Zwischen ihnen ging es nur um das, was seinem Patienten helfen würde.
„Bitte“, drängte Alan deshalb mit vorgetäuschtem Flehen. „Ich … würde mich wirklich sehr freuen.“
Pauls Stimme war kaum zu hören. Trotzdem war da kurz darauf ein leises „Also gut“.
Ein extrem unprofessioneller Teil von Alan machte Luftsprünge, wurde aber von seiner Vernunft glücklicherweise in Schach gehalten. Das hier war keine Zustimmung zu einem echten Date. Es war lediglich ein weiterer Versuch, Paul aus seiner Tristesse zu reißen. Wenn der schon einmal selbst in diese Richtung reagierte, musste Alan das weitertreiben.
Ein Drink, ein Essen, das war alles noch auf dieser ominösen Grenze, die die Professionalität diktierte. Er tat das schließlich nicht, um Paul auszunutzen. Es war ein Schritt in die richtige Richtung. Ein Fortschritt, geboren aus all der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten. Es war der Weg, der Paul womöglich irgendwann hier rausbringen konnte.
Alan räusperte sich – versuchte, seine Stimme fest und sicher klingen zu lassen, als er erklärte: „Ich ... kläre das mit der Heimleitung.“
Alles, was er dafür bekam, war jedoch ein schweigendes Nicken.
Da die Zeit für ihre Sitzung inzwischen zu Ende war und eine andere Patientin in Kürze auf Alans Plan stand, beendeten Sie die Übung. Gemeinsam machten sie sich zunächst auf den Rückweg zum Aufenthaltsraum. Doch als Paul das merkte, bestand er darauf, dass er lieber zurück auf sein Zimmer gebracht werden sollte.
Bis zum frühen Nachmittag hatte Alan keine Zeit mehr, um darüber nachzudenken, was dieses Missverständnis und Pauls Zusage zu einem Abend im Rush-Inn langfristig bedeuten konnte. Erst als er schließlich irgendwann vor der Bürotür des Heimleiters Herr Fassbinder stand, konnte Alan endlich durchatmen.
Müde rieb er sich die Augen. Er versuchte, die Kraft zu finden, die ihn tagtäglich die langen Schichten durchhalten ließ. Aber allmählich ging er auf dem Zahnfleisch.
„Du steigerst dich da mal wieder total in etwas rein, Alan“, hatte ihm sein bester Freund erst vor ein paar Tagen am Telefon gesagt. „Du kannst nicht alle retten.“
Alan hatte es geleugnet, mehr aus Reflex, als dass er tatsächlich über Andrés Worte nachgedacht hatte. Vielleicht war er aber auch nur angefressen gewesen und hatte nicht zuhören wollen. Seit André sich verknallt hatte, war ihr Verhältnis nicht mehr wie früher – und Alan nur zu klar, warum das so war. Er gönnte seinem besten Freund das Glück, aber es war schwer, dabei zuzusehen.
Erst recht, wenn man tagtäglich einen anderen jungen Mann sah, der glaubte, genau jenes Glück nie wieder finden zu können. Und irgendwo dazwischen war Alan – nicht sicher, auf welche Seite er gehörte. Oder überhaupt sein wollte.
„Scheiße“, murmelte er leise und presste zwei Finger gegen seine müden Augen. „So geht das nicht weiter.“
Erst einmal musste er sich um diese Chance kümmern, die Paul ihm heute eröffnet hatte. Also klopfte Alan an die Tür des Heimleiters, der ihn auch umgehend hereinbat.
„Doktor Koch. Was führt Sie zu mir?“
Mit einem tiefen Atemzug versteckte Alan das Seufzen, das ihm entkommen wollte, während er sich in den Stuhl vor dem Schreibtisch seines Chefs fallen ließ.
„Ich hätte eine Bitte, wegen Herrn Feldmann“, begann Alan zögerlich.
Herr Fassbinder lächelte und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. „Ich habe Sie beide letztens im Gymnastikraum gesehen. Sieht so aus, als ob sich Herrn Feldmanns Verfassung wesentlich verbessert hat.“
Alan nickte langsam. „Es ... gibt Fortschritte, ja.“
Das Zögern in seiner Stimme war wohl nicht zu überhören gewesen. Entsprechend war das Stirnrunzeln auf der Stirn des Heimleiters nicht verwunderlich.
„Er schottet sich immer noch zu sehr ab“, fuhr Alan erklärend fort. „Sein Selbstbild ist weiterhin verzerrt und das blockiert ihn von jeglichen Sozialkontakten außerhalb seines direkten Umfeldes.“
„Also Ihnen?“
Alan nickte.
„Hm“, brummte der Heimleiter. „Ich nehme an, Sie wären nicht hier, wenn Sie nicht bereits einen Plan hätten ...“
Lächelnd wiegte Alan den Kopf hin und her. „Hab’s nicht so mit Plänen ...“, murmelte er und zwang sich ein entschuldigendes Lächeln ab.
Der Heimleiter war da weniger zurückhaltend und lachte stattdessen laut los. „Das glaube ich unbesehen, Doktor Koch. Was ist es diesmal? Den armen Jungen gleich zu Beginn Ihrer Sitzungen einfach in ein Auto verfrachten zu wollen, war schon hart an der Grenze, das Ihnen klar, oder?“
Wiederum nickte Alan. „Ich musste wissen, wie weit er sich aufgegeben hat und ob er willens ist, zu kämpfen.“
Sofort hob der Heimleiter die Hände und winkte ab. „Wir haben dieses Gespräch bereits vor drei Monaten geführt. Sie sind nicht deshalb hier.“
„Nein“, bestätigte Alan. „Ich ... möchte mit Paul, mit Herrn Feldmann gern einen Abend ausgehen.“
„Ausgehen?“ Der Heimleiter lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während seine Stirn ein weiteres Mal Falten zu werfen schien. „Inwiefern ... ‚Ausgehen‘?“
Gedankenverloren rieb sich Alan über die Wange. „Natürlich nur als sein Therapeut. Ein ... Begleiter. Ich möchte, dass Paul sieht, dass er auch außerhalb des Heimes normal mit Menschen verkehren kann.“
„Glauben Sie wirklich, dass er bereits so weit ist?“
Alan zuckte mit den Schultern. „Es wird kein großer Ausflug. Paul kennt die Bar und den Besitzer. Es ist ein vertrauter Raum.“
„Und inwiefern soll ihm das helfen?“
Da war sich Alan selbst nicht so ganz sicher. Er war ja bei einem Ausflug in den Park zu Kaffee und Kuchen gewesen. Aber da würde Paul nicht kapieren, dass es garantiert noch immer genug Männer gab, die ihn attraktiv fanden.
„Er ... soll merken, dass die Leute ihn nicht mit Abscheu ansehen“, murmelte Alan, während er den Kopf senkte.
Jetzt, wo er es aussprach, klang die Idee reichlich lächerlich. Um nicht zu sagen, total dämlich. Bei dem Gedanken, dass da tatsächlich irgendwann jemand sein sollte, der seinen Platz bei Paul einnahm, zog sich etwas in Alan unschön zusammen.
‚Abstand wahren‘, ermahnte er sich selbst. Es gab keinen Grund, wie ein eifersüchtiger Arsch zu reagieren.
„Also gut“, gab der Heimleiter schließlich nach. „Bisher scheint ihr Konzept, was Herrn Feldmann angeht aufzugehen. Aber das kann nicht zur Gewohnheit werden, das sollte klar sein.“
Hastig nickte Alan. „Natürlich!“
Seufzend schüttelte der Heimleiter den Kopf. „Ich möchte den Jungen hier irgendwann hier heraus laufen sehen“, meinte Herr Fassbinder verhalten. „Zeigen sie mir, dass Ihr Professor sich nicht in Ihnen geirrt hat, Doktor Koch.“
Alan nickte und erhob sich. Sein nächster Termin stand an. Nur weil er sich die meiste Zeit des Tages um Paul kümmerte, hießt das nicht, dass er keine anderen Patienten hatte, die seine Aufmerksamkeit brauchten. Da war die alte Dame, die immer mehr glaubte, ihr toter Mann würde sie ständig schikanieren. Der Herr, der meinte, er müsse weg, weil er demnächst als Kanzler kandidieren würde. Dazu kamen diverse Alzheimer-Patienten, mit denen Alan sich im Wesentlichen über Gott und die Welt unterhielt in der geradezu wahnwitzigen Vorstellung, dass sie wenigstens für ein paar Stunden verstanden, wo sie waren.
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Paul hatte einen Großteil des Tages in seinem Zimmer verbracht, nachdem Alan ihn dort abgeliefert hatte. Normalerweise saß er eher im Aufenthaltsraum. Da war es nicht so ruhig und die leise Musik, die aus den Lautsprechern dudelte, hielt seinen Geist üblicherweise leer. Heute wollte Paul sich aber nicht ablenken.
Als Alan ihn fragte, ob sie ausgehen sollten, hatte er bestimmt nicht das gemeint, was Paul daraus gemacht hatte. Das war ihm vollkommen klar. Trotzdem hatte er es darauf angelegt. Vielleicht wollte er auch lediglich Alans Ablehnung hören. Ein verlegenes Lachen, nachdem er Paul erklärte, dass das schließlich nicht möglich war.
Aber das war nicht gekommen. Stattdessen eine Zusage. Eine Einladung, um genau zu sein. Zu einem Doppeldate, wie es aussah. Darauf hatte Paul früher schon nie Bock gehabt. Heute noch viel weniger.
Ein Bier in einer dunklen Ecke im Rush-Inn, das hatte für einen Moment gar nicht so schlecht geklungen. Der Gedanke, dabei einem anderen, offenbar glücklichen Paar mit seinem Anblick zum Kotzen zu bringen, war weniger erbaulich.
Paul rieb mit der Rechten über die Narbe auf dem Rücken seiner linken Hand. Er konnte sie noch immer deutlich spüren. Dabei hatte Alan gemeint, man würde sie kaum sehen. Ein Frösteln rann durch Paul und ließ ihn zittern. Wie schlimm sah sein Gesicht wirklich aus? Das Auge? Allein die Vorstellung, damit an einem Tisch mit zwei anderen Typen zu sitzen, drehte Paul den Magen um.
Aber er hatte bereits zugestimmt. Weil Alan darum gebeten hatte. Ein Gefallen. Zur Abwechslung mal einer, den Paul jemandem machen konnte. Er ließ den Kopf hängen und starrte runter, versuchte durch die Dunkelheit, die ihn gefangen hielt, die eigenen Hände zu erkennen. Irgendwo dort unten in seinem Schoß mussten sie sein. Aber wie immer war da nichts – nicht einmal ein Schatten.
„Warum macht er das?“, fragte Paul krächzend in die Stille, nicht sicher, was genau ‚das‘ überhaupt war.
Alan, der jeden Tag hier bei ihm auftauchte, obwohl das garantiert nicht alles zu seinem Job gehörte. Manchmal verleitete es Paul tatsächlich, daran zu glauben, dass er nicht nur ein Job war. Aber dann verschwand Alan wieder für einen halben Tag und machte Paul damit bewusst, dass er am Ende trotzdem nur einer unter vielen Patienten war. Er war nichts Besonderes – er brauchte nur mehr Hilfe als der Rest.
Das erklärte aber nicht, warum Alan ihn ins Rush-Inn eingeladen hatte. Noch dazu zu einem Treffen mit seinen Freunden. Es klang merkwürdig, dass ausrechnet jemand wie Alan auf einen Krüppel wie Paul als Begleitung angewiesen sein sollte. Groß, kräftig, der fand sein Publikum garantiert. So furchtbar mies konnte der Rest von dem Kerl gar nicht aussehen, als dass sich da nicht wenigstens für ein paar Nächte reichlich Kandidaten im Rush-Inn finden lassen würden.
Bei dem Gedanken, wurde Paul allerdings auch erneut klar, dass die Trennung von Jannik eine gefühlte Ewigkeit her war. Ganz zu schweigen von dem letzten Sex.
Paul wollte endlich wieder die Hände eines anderen spüren, wie sie über seinen Körper glitten. Die Erregung, wenn der ihn berührte, ein heißer Atem an seinem Hals. Aber der Einzige, der Paul dafür nahe genug stand, war Alan.
„Blödsinn“, murmelte er betreten.
Er war ein Patient. Ein hilfloses Opfer, das permanente Betreuung und Hilfe brauchte. Da spielte es auch keine Rolle, dass Paul viele Dinge alleine schaffte. Sogar die Reinigung seines künstlichen Auges machte er inzwischen ohne große Hilfe. Alan tat so viel für ihn, da wollte Paul ihm das nicht zusätzlich zumuten. Vermutlich war es schon ekelerregend genug, dabei zuzusehen. Wenigstens der Anblick blieb ihm selbst erspart.
Eine leise Stimme fragte in Pauls Hinterkopf, wie viel mehr Alan wohl bereit wäre, für ihn zu tun?
Kurz vor sechs Uhr abends wurde Paul für das Abendessen abgeholt. Er konnte die Enttäuschung, dass ein anderer Pfleger kam, kaum verbergen. Für einen Augenblick kam die Frage in ihm hoch, ob Alan demnächst anrufen und ihre Verabredung doch noch absagen würde.
Aber Pauls Handy schwieg. Vorsorglich überprüfte er sogar den Akkustand. Die Computerstimme antwortete jedoch, dass es noch halb voll wäre. Also stopfte er sich widerwillig das Abendessen rein und wartete.
Bis 19 Uhr war Alan nicht aufgetaucht. Paul saß zu diesem Zeitpunkt im Aufenthaltsraum. Ursprünglich hatte er in sein Zimmer zurückkehren und sich etwas zum Anziehen aussuchen wollen. Aber er konnte die Sachen ja nicht einmal sehen.
‚Du brauchst für jeden Scheiß Hilfe ...‘
Als Alans Stimme mit einem Mal unerwartet neben seinem Ohr auftauchte, musste Paul sich beherrschen, um nicht erschrocken zusammenzuzucken. Schlagartig war sein Puls auf hundertachtzig und er sich dafür reichlich sicher, dass es eine dämliche Idee gewesen war, dem Ausflug zuzustimmen. Trotzdem rang Paul sich ein Lächeln ab und fragte, ob sie jetzt aufbrechen würden.
„Wenn Du willst, können wir jederzeit los.“.
Es klang, als würde Alan ebenfalls lächeln, aber natürlich konnte Paul sich dessen nicht sicher sein. So wie er sich über nichts sicher sein konnte. Dabei war er früher nie so zurückhaltend und unsicher gewesen. Damals war er aber auch noch nicht für jeden Schritt auf Hilfe angewiesen.
„Sicher“, murmelte Paul und drückte sich aus dem Sessel nach oben. „Ich ... sollte mir vermutlich etwas anderes anziehen.“
Alan lachte, ergriff trotzdem sofort Pauls Arm, um ihn daran durch die Gänge des Heimes zu navigieren. Den Weg hätte der allerdings inzwischen ziemlich sicher alleine gefunden. Widersprechen würde Paul natürlich nicht, denn so unangenehm war die warme Hand an seinem Arm nun wirklich nicht.
Gemeinsam suchten sie schließlich einige Klamotten für Paul heraus. Die meisten Sachen im Kleiderschrank hatte er schon vor dem Unfall besessen. Seine Großeltern hatten sie offenbar im Heim abgegeben, nachdem sie den Haushalt seiner Eltern aufgelöst hatten.
Es war allerdings schwerer als gedacht, aus den Erinnerungen heraus Alan zu beschreiben, welche Sachen Paul anziehen wollte. Trotzdem sich in seinem Kleiderschrank scheinbar so einige Klamotten fanden, die definitiv nicht aus seinem früheren Leben stammten, kamen sie irgendwann zu einer Entscheidung und Paul damit zu einem Outfit.
Inzwischen hatte er sogar genug Vertrauen in Alan, dass der ihn nicht wie einen bunten Pfau durch die Gegend watscheln lassen würde. Immerhin würde Paul selbst es nicht merken. Die irritierten Blicke müsste also lediglich Alan ertragen. Der würde entsprechend hoffentlich nicht zulassen, dass er wie ein Vollidiot aussah, während sie im Rush-Inn saßen.
Trotzdem stieg die Aufregung in Paul immer weiter. Als sie vor dem Fahrstuhl standen, war die Angst, dass man ihn die ganze Zeit nur anstarren würde, wieder mit voller Wucht zurück.
„Was ist los?“, fragte Alan leise, nachdem sie den Fahrstuhl betreten hatten.
„Ni...chst“, murmelte Paul, zupfte aber dennoch nervös an dem Hemd herum, das er trug.
Alan hatte gesagt, dass er sie fahren würde, um Paul die öffentlichen Verkehrsmittel zu ersparen. Der Gedanke an eine Autofahrt jagte ihm zwar noch mehr Angst ein, aber das letzte Mal hatte er es schließlich ebenfalls geschafft. Und wenn er das hier schon alles mitmachte, dann wollte Paul es auch durchziehen.
„Du hast doch etwas“, hakte Alan erneut nach.
Das Pling des Fahrstuhls zeigte an, das er anhielt. Gemessen an der Fahrzeit, mussten sie im Erdgeschoss angekommen sein. Also setzte Paul sich in Bewegung. Vorsichtig schob er einen Fuß nach vorn, bis er sicher war, die Kante vom Fahrstuhl erreicht zu haben. Nachdem er draußen war, hob er den linken Arm, an dem Alan ihm üblicherweise führte. Der zögerte nicht und ergriff Pauls Arm.
„Ich ... will deinem Freund nicht sein Date verderben“, murmelte der schließlich verspätet seine Antwort auf Alans Frage.
„Hm“, brummte dieser seinerseits nachdenklich zurück. „Wüsste nicht, wie du das machen solltest. Jedenfalls, so lange du sein Herzblatt nicht anmachst. Da versteht André wenig Spaß.“
„Und wenn uns alle dort anstarren, wegen ... wegen ... mir?“
Alan lachte, zog Paul dabei weiter mit sich mit. Ein Klacken war zu hören, als das Auto entriegelt wurde. Kurz darauf fand Paul sich auf dem Vordersitz wieder. Unsicher rutschte er hin und her. Er schaffte es, nach dem Gurt zu greifen und sich alleine anzuschnallen.
„Hör auf dir einen Kopf darum zu machen, was irgendwelche Fremden denken“, meinte Alan, nachdem auch er eingestiegen war.
Einen Augenblick später lag dessen große Hand auf Pauls Arm. „Ich verspreche dir ... wenn uns jemand anstarrt, dann eher wegen mir als wegen dir.“
Den Spruch hatte er schon so oft von Alan gehört. Normalerweise brachte er Paul zum Lachen. Eine recht großspurige Behauptung, aber vermutlich war es nicht ganz aus der Luft gegriffen. Obwohl er sich sehr sicher war, dass Alan lediglich positive Blicke auf sich zog. Besonders im Rush-Inn. Und vor allem solche, die ihrerseits gern Alan ausziehen würden.
Aber heute schaffte Paul es nicht, darüber zu lachen. Vor ein paar Monaten wäre sein Blick garantiert ebenfalls einer von denen gewesen, die Alan interessant fanden. Schauen war schließlich auch mit festem Freund nicht verboten. Zwar hatte er keine Ahnung, wie genau sein Begleiter aussah, aber Paul war sich ziemlich sicher, dass es ein angenehmer Anblick sein würde.
Nicht zum ersten Mal wünschte Paul sich wirklich, dass er Alan sehen könnte. Früher hatte er seine Partner ausschließlich nach dem Aussehen gewählt. Drei Blicke und für Paul war klar gewesen, ob ein Mann sein Typ war oder nicht. Und wenn nicht, gab es definitiv keinen vierten Blick mehr. Ohne den Unfall würde er das vermutlich immer noch so handhaben.
Nur konnte er das jetzt nicht mehr. Trotzdem war da etwas, das Paul zunehmend anziehend an dem Mann fand, der doch eigentlich sein Therapeut sein sollte. Dinge wie zärtliche Finger, die über Pauls Handrücken streichelten, wenn er wie jetzt gerade mal wieder nervös wurde und Angst bekam. Die Art, wie Alan ihn führte, anleitete und versuchte, Paul aus seinem Schneckenhaus heraus zu holen. Die freundliche, tiefe Stimme. Die Fröhlichkeit, die zwar nicht so unkontrolliert aus Alan heraussprudelte, wie an ihrem ersten Tag, aber trotzdem stets präsent war.
Das alles zusammen zog Paul an, ließ ihn nach mehr verlangen, als er nehmen durfte und konnte. Und im gleichen Atemzug verzweifelte er immer weiter genau daran. Weil es etwas war, das ihm nicht zustand.