Kapitel 3 – Ungewohnte Angst
Nachdem Paul fertig war, zog der unbekannte Pfleger ihn erneut auf die Beine. Seine Hände legten sich auf Pauls Hüften und hielten ihn so lange, bis dieser sicheren Stand gefunden hatte. Langsam wich die Furcht zurück. Der Typ hatte ihm zumindest nichts angetan, wirkte sogar in gewisser Weise fürsorglich. Zwar benahm er sich merkwürdig, aber das hieß noch lange nicht, dass er gefährlich war.
„Was ... soll das hier?“, fragte Paul. Seine Stimme klang piepsig und die Unsicherheit war sicher deutlich heraus zu hören.
Aber der Mann antwortete ihm weiterhin nicht, sondern nahm seine Hand und führte ihn langsam und behutsam zur Tür. Was denn jetzt? Wieso liefen sie wieder raus?
Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, wurde Paul den Gang entlang geführt. Hier war irgendwo der Fahrstuhl, das wusste er von seinen regelmäßigen Sitzungen bei seinen Ärzten. Wenn er zu ihnen gebracht wurde, mussten sie mit dem Lift fahren. Hieß das, sie waren auf dem Weg zu einem von denen? Um diese Uhrzeit? Und warum extra andere Sachen anziehen?
Vorsichtig tastete Paul über seine Hose. Es war eine der Chinos, die er sonst nie anzog. Sie war nicht wirklich unbequem. Aber im Alltag des Heimes bevorzugte er dennoch einfache Jogginghosen. Auch das Hemd fühlte sich merkwürdig dünn an. War das etwa eines seiner guten? Die hatte Paul seit dem Unfall nicht mehr getragen. Was bedeutete das?
„Bi ... bitte sagen Sie etwas!“, forderte er den Mann neben sich erneut auf.
Pauls Hand packte fester zu, sodass sie die des Pflegers fast zu erdrücken schien. Doch der zuckte nicht einmal und antwortete ebenso wenig. Wieder stieg die Unsicherheit in Paul auf. Aber es war nicht wirklich Angst – jedenfalls nicht nur. Da war auch Aufregung, vielleicht sogar so etwas wie Neugier.
Die warme Hand umschloss seine eigene fest und dennoch sanft. So als wäre der Fremde bemüht, ihn nicht zu verletzen. Stattdessen strich ein Daumen leicht und beruhigend über Pauls Handrücken.
Ein Klingeln zeigte diesem, dass der Lift angekommen war. Sein Pfleger zog ihn in den Fahrstuhl. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, während mit der anderen offenbar zunächst der Etagenknopf gedrückt wurde. Kurz darauf landete die zweite Hand auf der anderen Schulter. Sie massierten ihm leicht über die Schulterblätter, als wollten sie ihn beruhigen.
Und es wirkte.
Obwohl er das eigentlich gar nicht wollte, fing Paul langsam an, sich zu entspannen. Die Angst wich der Aufregung. Er hatte keine Ahnung, wohin man ihn brachte, aber die beruhigenden Bewegungen der Hände auf seinen Schultern wirkten beschwichtigend. Mit jeder Berührung massierten sie mehr Angst aus seinem zitternden Körper hinaus. Steigerten aber in gleichem Maße die ungeduldige Neugier.
Nachdem es erneut klingelte und sie offenbar ihr Ziel erreicht hatten, war die Furcht fast vollständig aus ihm verschwunden. Die Hand ergriff wieder die seine und führten ihn weiter. Nachdem er einige Treppen hinter sich gebracht hatte, schob der Fremde ihn durch eine Tür. Sofort erfasste ihn der kühle Winterwind.
Paul erschrak und hielt instinktiv inne. Draußen, er war außerhalb des Heims! Hier wollte er nicht sein. Prompt versuchte er, sich umzudrehen und zurückzugehen, doch sein Begleiter stellte sich ihm in den Weg und schob ihn mit sanftem Druck weiter.
Der große, kräftige Körper war nichts, wogegen Paul ankommen würde. Dennoch schien der Mann nicht den Eindruck zu machen, als würde er diese Kraft ausnutzen wollen. Im Weg stand er trotzdem, hielt ihn davon ab, in die Verwahranstalt zurückzukehren, in die er gehörte.
„Nein. Nicht. Ich will nicht!“, rief Paul und klammerte sich an das Hemd seines ‚Entführers‘.
Der musste ein Stück größer sein, als er selbst, denn auf Pauls Augenhöhe befand sich maximal die Schulter des Pflegers. So der Typ überhaupt einer war. Ein Schauer lief Paul den Rücken hinunter. Was, wenn das hier irgendein Verrückter war, der sich ins Heim schlich, um Leute von dort zu entführen?
‚Welchen Unterschied sollte das machen?‘
Paul keuchte, als ihm bewusst wurde, was die Frage bedeutete. Er zitterte, während er den Griff an dem Hemd des Fremden verstärkte. Darunter konnte er deutlich ausgeprägte Brustmuskeln spüren. Vor ein paar Monaten hätte Paul sich womöglich verleitet gefühlt, die interessant genug zu finden, um sie weiter erkunden zu wollen. Im Augenblick machten sie ihm aber nur deutlich, dass er diesem schweigsamen Typen körperlich haushoch unterlegen war.
Angst erfasste sein Herz. Ein kaltes Etwas, das Pauls Innerstes wie ein Messer durchschnitt und ihm den Atem raubte. Er wollte keuchen, aber kein Laut schaffte es über seine Lippen. Schon wieder erfasste ein Zittern seinen Körper.
Bevor er es sich versah, waren da aber erneut warme Hände. Größer als seine eigenen. Kräftiger. Anstatt ihn zu drängen, zogen sie ihn jedoch zu dem Fremden heran, pressten ihn an einen Mann, der mit einem Mal nicht mehr einfach nur körperlich überlegen schien. Es fühlte sich beinahe so an, als würde der Fremde versuchen ein Teil dieser Stärke auf ihn zu übertragen.
Natürlich würde das niemals funktionieren, aber zum zweiten Mal seit Wochen, wünschte Paul sich, dass er etwas sehen könnte. Genau wie bei Alan am Morgen wollte er wissen, wer dieser Kerl war, warum er hier war und sich so merkwürdig verhielt.
„Sch...“, flüsterte es kurz leise neben Pauls Ohr.
Obwohl die Angst weiterhin durch ihn vibrierte, schienen die Umarmung und der kurze Laut zu helfen. Pauls Herzschlag wurde ruhiger. Zwar schlug es immer noch deutlich heftiger als gewöhnlich von innen gegen die Rippen, die Panik nahm allerdings langsam aber sicher ab.
Eine der Hände wurde von seinem Rücken genommen und kurz darauf war ein Klacken zu hören. Erneut wurden die Hände drängender, schoben Paul in die Richtung, aus der das Klacken gehört hatte. Ein weiteres Geräusch, das verdächtig nach dem Öffnen einer Autotür klang. Prompt versteifte Paul sich, stemmte die Füße gegen die Laufrichtung und drehte sich herum.
‚Kein Auto!‘
Paul hatte sich noch nicht vollständig umgedreht, da waren die Arme wieder da, zusammen mit der breiten Brust. Ein Keuchen entkam ihm. Doch nicht weil er sich eingeengt oder bedroht fühlen würde. Dabei sollte Paul das vermutlich. Das hier war unheimlich, es machte ihm Angst.
Er wusste nichts über diesen so verdammt schweigsamen Fremden. Wahrscheinlich sollte er schreien, um Hilfe rufen. Schließlich standen sie hier noch immer vor dem Heim. Irgendjemand würde Paul hören und kommen. Dann würde sich schon herausstellen was für ein Irrer das war, der ihn hier einfach in ein Auto stopfen wollte.
„Nicht!“, flüsterte Paul heiser – selbst nicht sicher, ob er damit die Umarmung oder das Einsteigen ins Auto meinte.
Bei dem Gedanken, dass er den Unfall diesmal noch weniger kommen sehen würde als beim letzten Mal, fing Paul erneut an zu zittern. Sofort war der Fluchtinstinkt zurück. Er wollte in sein Zimmer, in den langweiligen Alltag, bei dem Paul sich ständig fragte, ob der Tod nicht einfacher gewesen wäre. Vor allem aber ertrug er das verfluchte Schweigen nicht mehr.
„Sagen Sie endlich etwas“, krächzte Paul heiser.
Daraufhin zogen sich die Arme nur fester. Und mit einem Mal war es da wieder dieses „Sch ...“, gefolgt von einem „Es ist alles okay.“
Nur verfehlte es diesmal die beabsichtigte Wirkung. Denn kaum waren die Worte ausgesprochen, merkte Paul endlich, wer da vor ihm stand und ihn umarmte. Es war der verdammte Pfleger, der ihn den ganzen Morgen genervt hatte. Genau die Labertasche namens Alan, den Paul sich vor ein paar Minuten noch geradezu herbeigesehnt hatte, damit der unheimliche schweigsame Kerl verschwand.
Wie automatisch stemmte Paul sich gegen die Arme. Die ließen jedoch nicht los. Am Vormittag hatte der dämliche Blödmann die ganze Zeit herum gelabert und jetzt schwieg er schon wieder.
‚Aufhören!‘, schrie es in Pauls KFopf, während er selbst noch immer kein Wort herausbrachte.
Als hätte Alan ihn gehört, waren die Arme dennoch mit einem Mal weg, genau wie ihr Besitzer.
Irritiert und ängstlich hob Paul die eigenen Hände und versuchte, Alan wieder zu finden. Aber wo auch immer er hinlangte, er griff ins Leere. Hastig drehte Paul sich herum, wäre beinahe gestolpert. Doch da landete seine Hand plötzlich schmerzhaft auf etwas Hartem.
‚Das Auto!‘, war ihm sofort bewusst.
Mit klopfendem Herzen fuhr Paul mit der Hand an dem Metall entlang, bis ihm klar wurde, dass es die Beifahrerseite sein musste, an der er stand. Die Tür war offen.
„Steig ein“, forderte Alan ihn leise auf.
Sofort schüttelte Paul den Kopf. Ganz sicher würde er nicht in ein Auto klettern. Er hatte einen Unfall überlebt, wer sagte ihm, dass es beim nächsten Mal ebenso sein würde? Ein Schmerz durchzuckte Pauls Brust, als dieser Gedanke zu einem ganz anderen führte. Hatte er nicht eben noch gedacht, dass es sowieso keinen Unterschied machen würde?
Paul schluckte.
„Steig ein“, sagte Alan erneut.
Seine Stimme war leise und ruhig. Es war eine Aufforderung, aber weder drängend noch klang es, als könnte Paul sich nicht einfach weigern. Hatte der schweigende Alan ihm Angst gemacht, fühlte er sich von dem, der sprach eher verleitet.
Ein Windstoß fegte über den Bordstein. Die Abende im März waren kalt und Paul trug keine Jacke. Es war leicht, sich einzureden, dass das Zittern vom Wind kam und nicht, weil er Angst hatte in das verdammte Auto zu steigen.
„Was hast du zu verlieren?“
Die Worte stießen wie eine Speerspitze in Pauls Brust. Aber er hatte keine Antwort darauf. Jedenfalls keine, die über ein ‚nichts‘ hinausgehen würde. Genau das war es, was sich dafür gerade in ihm ausbreitete. Alan hatte doch recht. Von ‚nichts‘ konnte man nicht auch noch etwas verlieren. War am Ende ohnehin alles egal.
Ehe Paul es sich versah, saß er mit einem Mal im Wagen. Ob er selbst eingestiegen war oder Alan ihn schlussendlich doch gedrängt hatte, hätte er nicht einmal sagen können. Vage nahm Paul wahr, wie Haare an seiner Nasenspitze entlang kitzelten. Das Gefühl war allerdings prompt verschwunden, nachdem ein Klacken zu hören war.
Als die Beifahrertür zugeschlagen wurde, zuckte Paul doch zusammen. Unsicher hob er die rechte Hand und tastete nach der Tür. Mit der anderen langte er vor den Bauch, wo der Gurt verlief. Gerade noch ruhig, stieg nun doch die Panik in ihm auf. Hastig tastete Paul nach links, um den Gurt zu lösen.
Er hatte den Schalter eben erreicht, als eine große Hand sich auf die seine legte. Alan sagte nichts, drückte lediglich Pauls Hand. Raue Hornhaut kratzte dabei über die Narbe auf der Oberseite. Hastig riss Paul die Hand zurück und presste sie mit der anderen gegen seine Brust.
Mit gesenktem Kopf hockte er da und versuchte, sein stetig heftiger schlagendes Herz zu beruhigen. Doch je mehr Paul sich sagte, dass es egal war, desto größer wurde die Panik. Mit den Händen vor dem Gesicht senkte er den Kopf noch weiter.
Warum zum Teufel tat dieser dumme Pfleger ihm das an?! Er hatte doch gesagt, der Kerl sollte ihn in Ruhe lassen.
„Ich will hier weg“, krächzte Paul leise.
Anstatt auszusteigen und ihm genau diesen Wunsch zu erfüllen, startete Alan jedoch den Motor. Sofort verkrampfte sich alles in Paul. Keuchend und zitternd hockte er auf dem Beifahrersitz. Der Unfall. Was, wenn es wieder passiert? Das letzte Mal hatte er es nicht kommen sehen.
In dieser Nacht hatte Paul nicht auf dem Beifahrersitz gesessen, sondern dahinter. Seine Mutter saß vorn, seine kleine Schwester neben ihm. Ein Wimmern war zu hören, als die Bilder auf ihn hereinschossen. Ob es aus der Erinnerung kam oder ihm selbst, wusste Paul nicht, konnte allerdings auch nicht darüber nachdenken.
Alles, was er sah, war die vorbeiziehende Landschaft. Nicht die neben dem Wagen, in dem er saß, sondern in dem seines Vaters. Bäume und Sträucher, die die Landstraße säumten, über die sie vom Abendessen hätte zurück nach Hause fahren sollen. Nur waren sie dort nie angekommen.
Paul biss die Zähne zusammen. Trotzdem raste in seiner Brust das Herz, während sein verbliebenes Auge verzweifelt versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Erfolglos, wie immer
Bei jeder Kurve bekam Paul eine neue Panikattacke, klammerte sich verzweifelt an den Sitz. In seinem Kopf schrie etwas, dass er hier nichts zu suchen hatte, raus musste. Wenn er fuhr, würde sich der Unfall wiederholen. Es könnte jemand sterben. Menschen, die ihm etwas bedeuteten. Erneut verlassen, für immer.
Paul spürte, wie ein Beben durch seinen Körper wanderte, während sein zu wacher Geist ihm die Wahrheit nur zu gern unter die Nase rieb.
‚Es ist keiner mehr übrig.‘
Niemand würde ihn verlassen. Pauls Familie war tot, mit seinen Großeltern war er schon vor dem Unfall zerstritten gewesen und Jannik interessierte sich einen Dreck für ihn. Wahrscheinlich hatte er längst einen anderen oder vögelte sich jede Nacht woanders das Hirn raus.
Bitterkeit breitete sich in Paul aus. Für einen Augenblick wünschte er sich, es hätte tatsächlich ein Ende. Doch just in diesem Moment stoppte der Wagen und unterbrach damit seine zunehmend düster werdenden Gedanken.
Paul blieb sitzen, rührte sich nicht von der Stelle. Erleichterung und Enttäuschung hielten sich die Waage. Er hörte, wie sich die Fahrertür öffnete und wieder geschlossen wurde. Trotzdem blieb er sitzen.
Allerdings hatte Alan offenbar seine eigenen Pläne. Hatte er ja schon die ganze Zeit gehabt. Wobei es ein Leichtes gewesen wäre, um Hilfe zu rufen, damit Paul dem entkam. Auch jetzt schwieg er weiter, klammerte sich lediglich noch immer an den Sitz, unfähig, sich zu bewegen.
Erneut hörte er das Geräusch einer sich öffnenden Tür. Paul spürte, wie eine Hand in das Wageninnere griff und sich sanft auf seine eigene legte. Für einen Moment verharrte Alans Hand dort, dann löste er Pauls vom Polster. Der blieb jedoch weiterhin sitzen, weigerte sich kategorisch, auszusteigen.
Weniger, weil er endlich bereit war, sich dieser scheinbaren Willkür zu widersetzen. Tatsache war, dass Paul überhaupt nicht in der Lage war, sich zu bewegen. Seine Beine waren wie festgefroren, sein Körper schmerzte an den unmöglichsten Stellen, an denen sich verspannte Muskeln mit einem Mal bemerkbar machten.
Zu Pauls erstaunen, löste Alan zwar den Sicherheitsgurt, zwang ihn dann aber nicht zum Aussteigen.
„Warum tun Sie das?“, fragte Paul irgendwann. Er war selbst erstaunt, wie wenig seine Stimme zitterte.
„Du wolltest weg“, antwortete Alan, als wäre es das selbstverständlichste von der Welt.
Paul biss die Zähne zusammen. Ja, das hatte er gesagt, aber ganz sicher hatte er damit nicht das hier gemeint. Wobei er nicht einmal wusste, was er stattdessen hatte sagen wollen – oder wovon genau er weg wollte. Weg aus dem Heim? Von Alan? Aus diesem Leben? Paul war sich nicht mehr sicher, wie die Antwort lautete. Oder wie sie lauten sollte.
„Steig aus.“
Paul schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Die Fahrt durch seine persönliche Hölle der Dunkelheit hatte ihn erst recht jede Orientierung verlieren lassen. Sie könnten längst aus der Stadt raus sein. Irgendein Waldstück, wo man in ein paar Wochen seine Leiche finden konnte.
Ein Schauer rann Paul über den Rücken. Sein Atem wurde schneller, während das Herz im gleichen Rhythmus zulegte. Mit einem Mal klang es doch nach einer ausgesprochen guten Idee, etwas mehr Widerstand zu zeigen.
Bevor er dazu kam, genau das zu tun, langte Alan jedoch bereits ins Fahrzeug, hievte zunächst Pauls Beine heraus und schließlich diesen selbst nach oben. Wären da nicht ständig irgendwo Hände an seinem Körper, Paul hätte vergessen können, dass Alan überhaupt da war – so still verhielt dieser sich.
Einmal mehr wurde ihm bewusst, was seine Hände bereits mehrmals an diesem Tag gespürt hatten: Ein erwachsener Mann – wesentlich breiter und kräftiger gebaut als er selbst. Was würde es überhaupt bringen, wenn er sich wehrte? Würde jemand kommen und ihm beistehen, falls Paul um Hilfe rief? Oder würden sie nur den entstellten Krüppel sehen und sich abwenden?
So verkrampft wie seine Beine gewesen waren, sackten diese jedoch prompt unter Paul zusammen. Gerade noch rechtzeitig konnte Alan ihn auffangen. Trotzdem landete sein Kopf dabei auf der Brust eines verrückten Pflegers.
Mit einem Mal konnte Paul den Herzschlag des ‚Entführers‘ hören. Er hörte, wie es kräftig und schnell gegen das Innere der Rippen pochte. Offenbar war Paul nicht der Einzige, dem die Situation zusetzte. Auf merkwürdige Weise wirkte das ein Stück weit beruhigend.
Alan zog ihn wieder nach oben, stützte Paul und versuchte, ihn zu halten. Doch dessen Beine wollten noch immer nicht so, wie er. Zumindest fühlten sie sich weiterhin an wie Wackelpudding.
„Kriegst du das hin oder muss ich dich tragen?“
Da war ein Lachen in Alans Stimme, auch wenn er es nicht laut erklingen ließ. Allerdings konnte Paul es nicht erwidern. Wütend versuchte er, sich von Alan wegzustoßen. Eine reichlich dämliche idee, wie sich zwei Sekunden später herausstellte, als Paul unsicher über den Gehweg stolperte.
Er streckte die Arme von sich, konnte aber nichts erspüren. Ein kalter Wind pfiff um ihn herum und machte Paul bewusst, dass er nicht einmal eine Jacke dabei hatte. Wo zum Teufel hatte Alan ihn hingebracht? Und warum?
Schon öffnete er den Mund, um genau das zu fragen, da war Alans Hand erneut an Pauls Oberarm. Der eben noch aufgekommene Widerstand war nicht gänzlich erstorben, dennoch ließ er sich erneut vorwärtsdrängen.
Nein, es war kein wirkliches Drängen. Eher ein ‚Führen‘. Alans Hand an Pauls Oberarm war warm – ganz im Gegensatz zu dem Frühlingswind, der noch immer die Straße entlang fegte.
„Wohin ...?“, setzte Paul an, bekam jedoch keine Antwort, konnte allerdings auch die Frage nicht wirklich stellen.
„Vorsicht, Stufen“, murmelte Alan irgendwann, während er gleichzeitig seinen Griff um Pauls Oberarm verstärkte.
Ein Klacken und leises Quietschen war zu hören, als Alan eine Tür öffnete. Noch immer protestierte ein verhaltener, kleiner Teil von Paul, dass er sich nicht so herumschubsen lassen wollte. Der Rest konnte sich aber weiterhin nicht aufraffen, auch tatsächlich zu protestieren.