Teil 3 - Beängstigende Dämmerung
Kapitel 13 – Andere Hoffnung
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Unruhig zappelte Paul auf dem Stuhl hin und her. Hätte jemand behauptet, er war nervös, wäre das die Untertreibung des Jahres. ‚Panisch‘, das war schon eher ein Wort, das seinen aktuellen Gemütszustand einigermaßen passend beschrieb.
‚Wo bleibt der verdammte Arzt?!‘
Der Kerl sollte endlich auftauchen und Paul von seinem Leid erlösen – egal wie das Urteil ausfallen würde. Beruhigend legte sich eine vertraute Hand auf seinen Unterarm. Selbst durch den dünnen, langärmligen Pullover spürte Paul die Wärme nur zu deutlich. Er wusste, dass Alan versuchte, so seine aufgewühlten Emotionen zur Ruhe zu bringen. Stattdessen ließ sie allerdings mit dieser geradezu unbedeutend erscheinenden Berührung nur noch mehr Feuer durch Pauls Körper tanzen. Eine vollkommen andere Art der Erregung, die in ihm zutage gefördert wurde. Es verdrängte dennoch die Unruhe, sodass Alan die gewünschte Wirkung erreichte. Mit einem tiefen Atemzug, dem man sein Zittern kaum anhörte, schaffte Paul es, sich zumindest ein kleines Stück weit zu beruhigen.
„Alles in Ordnung?“, fragte die tiefe und inzwischen so vertraut und teuer gewordene Stimme. „Bleib ganz ruhig.“
Für einen Sekundenbruchteil flammte neben der Erregung Wut in ihm hoch, bevor Paul klar wurde, wie unfair das war.
‚Alan hat gut reden‘, dachte er dennoch bei sich.
Es ging hier nicht um eine Kleinigkeit. Und was Paul mehr denn je brauchte, war Klarheit. Eine definitive Aussage, ob er je wieder würde sehen können. Nein, was er wollte, war, dass der Professor, auf den sie warteten ihm diese Frage mit ‚ja‘ beantwortete. Aber soweit wagte Paul, im Augenblick nicht zu hoffen. Redete er sich zumindest ein.
Plötzlich hörte er ein Klacken, kurz darauf ein zweites. Schritte waren zu vernehmen, die sich unablässig näherten. Erneut stieg Pauls Aufregung an, aber er drängte sie zurück und zwang sich still auf dem Besucherstuhl sitzen zu bleiben, zu dem Alan ihn vor einer scheinbaren Ewigkeit geführt hatte.
„Hallo!“, begrüßte sie eine etwas knarrende männliche Stimme. Höflich, jedoch mit unleugbarer Aufregung belegt, grüßten sie beide zurück. „Sie haben Beistand dabei, Herr Feldmann“, fügte der Neuankömmling lachend hinzu. „Das ist immer eine gute Idee.“
Paul drehte seinen Arm, sodass er die Hand, die versuchte, ihn zu beruhigen ergreifen konnte. Er drückte fest zu, als ihn bei den Worten des Professors die Angst ergriff. Hieß das etwa, er würde nach dessen Urteil jemanden brauchen, der ihn wiederaufbaute? Der die Scherben einsammelte, nachdem Paul jeder Funken Hoffnung auf Heilung genommen war? Denn genau das würde doch passieren, wenn der Professor ihm gleich sagte, dass er nie wieder würde sehen können.
„Es geht Alan genauso an“, murmelte Paul ausweichend. Seine Stimme zitterte, die Aufregung war nur zu deutlich, dass er die Hand seines Freundes fast zerquetschte, nur ein weiterer Beweis.
„Er ist ein bisschen nervös, Professor“, bemerkte Alan.
Paul bildete sich ein, darin ein Lächeln zu hören. Vermutlich reichlich lächerlich. Konnte man so etwas überhaupt ‚hören‘? Leider wirkte es auf ihn selbst nicht wirklich beruhigend. Sein Griff wurde immer fester. Er konnte spüren, wie sich Alans Arm neben seinem verkrampfte. Wahrscheinlich wurde es allmählich schmerzhaft. Doch es kam weder Gegenwehr noch ein Kommentar.
„Können Sie schon etwas sagen?“, fragte Alan stattdessen, konnte die Ungeduld, die in seiner Stimme mitschwang nicht verbergen.
Ein Rascheln war vom Schreibtisch aus zu hören. Paul konnte nur ahnen, dass es womöglich seine Unterlagen waren, die der Professor noch einmal zu sich heranzog. Wie sah er aus? Hoffnungsvoll? Betrübt? Es war zermürbend, keine Ahnung zu haben, wie die Menschen um ihn herum aussahen. Erst seitdem ihm sein Augenlicht fehlte, war Paul bewusst geworden, wie viel seiner Umwelt er über solche Eindrücke überhaupt wahrgenommen hatte.
Noch immer Schweigen. Jede weitere Sekunde erhöhte die Anspannung in Pauls Körper. Der Griff um Alans Hand wurde erneut stärker. Erst ein leises Stöhnen an seiner Seite machte Paul bewusst, dass sich seine Fingernägel bereits in Alans Hand bohrten.
„Das ist keine ganz leichte Frage“, antwortete der Professor ausweichend. „Es besteht eine Möglichkeit.“
Paul keuchte und lockerte erleichtert seinen Griff. Glück überflutete ihn förmlich, als er sich bereits vorstellte, zumindest einen Teil seiner Sehkraft zurückzuerhalten.
‚Es gibt eine Chance, jemals wieder etwas und irgendwann auch Alan endlich zu sehen!‘
„Aber sie ist sehr vage.“
„Was … meinen Sie damit?“, fragte Paul mit zitternder Stimme nach.
Das eben aufgekommene Glück schwappte mit einem Mal zurück und schien, ihn und alle seine Hoffnungen stattdessen unter sich begraben zu wollen.
„Gibt es eine Chance, dass ich wieder etwas sehen kann oder nicht?“
Pauls Stimme war ungeduldig, verlangte nach einer definitiven Klärung und keinen Ausreden, die nur schönredeten, was er nicht zu hören bereit war. Der Kerl sollte ihm die Wahrheit sagen! Jetzt! Deshalb waren sie hier! Paul brauchte Klarheit. Er wollte endlich wissen, ob sich sein Traum erfüllen ließ oder nicht. Die Ungewissheit war quälender als die Vorstellung für immer blind zu bleiben. Zumindest versuchte er, sich das einzureden, denn sicher war Paul sich nicht.
Doch zunächst seufzte der Professor nur, als hätte er ein ungeduldiges Kind vor sich, mit dem er nicht so recht etwas anzufangen wusste. „Es ist schwer, in Ihrem Fall eine definitive Aussage zu treffen, Herr Feldmann.“
Diese Antwort gefiel Paul gar nicht, aber bevor er zu einer Erwiderung ansetzen konnte, fuhr der Professor schon fort: „Prinzipiell ist es möglich zu operieren. Und es besteht eine Chance, dass Sie danach wieder etwas sehen können.“
Erneut schwappten die Hoffnung und die Vorfreude über Paul hinweg und ein breites Lächeln erstrahlte auf seinem Gesicht.
„Ihr verbliebenes Auge wurde bei dem Unfall wohl ebenfalls geschädigt, deshalb hat es sich bisher nicht richtig erholen können.“
Schweigen trat ein, in dem Paul wieder hörte, wie Papiere hin und her geschoben wurden. Alans andere Hand legte sich auf Pauls, deren Griff erneut fester wurde. Warum fuhr der Professor nicht fort? Irgendetwas stimmte da doch nicht.
„Alan?“, flüsterte Paul leise, wollte wissen, was vor sich ging.
Aber bevor dieser antworten konnte, fuhr der Professor doch fort: „Selbst für den Fall, dass die OP erfolgreich ist, dürfen Sie nicht damit rechnen, dass sie so gut wie vor dem Unfall sehen können. Das verbliebene Auge kann diese Aufgabe auch im besten Fall nicht vollständig alleine übernehmen. Eine gewisse Einschränkung ihrer Sehfähigkeit wird bleiben.“
„Und wieso ist diese Möglichkeit dann nur vage?“, fragte Alan etwas verwundert nach. „Das klingt doch ziemlich gut.“
Paul nickte hastig. Auch für ihn klang das nach mehr Hoffnung, als er vor ihrem Besuch hier gehabt hatten. Dass er mit nur einem Auge weniger sehen würde als mit zweien erschien logisch und kaum tragisch. Im Augenblick konnte er abgesehen von ein paar Schemen aber gar nichts erkennen. Selbst falls er nach der OP eine Brille brauchen würde, wäre das tausendmal besser, als das, was er im Moment durchlebte. Paul wollte doch vor allem endlich das sehen, was ihm inzwischen so unheimlich wichtig war.
„Nun ja … Es lässt sich nicht sicher abschätzen, wie groß die Chance ist, dass die Operation erfolgreich sein wird“, gab der Professor zu.
Etwas Dunkles begann in Pauls Magen aufzusteigen. Als würde die eben noch so verheißungsvoll aufgestiegene Hoffnung in einen schwarzen Schleier gehüllt werden.
„Selbst für den Fall, dass die OP erfolgreich ist, kann ich Ihnen nicht sagen, wie viel ihrer Sehfähigkeit sie zurückerlangen. Die Operation an sich kann perfekt verlaufen und am Ende, wenn die Verbände abgenommen werden, können Sie dennoch womöglich nicht mehr als ein paar Schemen erkennen.“
„Wie groß ist die Chance, dass ich danach wenigstens ein bisschen sehen kann?“
Wieder raschelten die Papiere. Es konnte doch nicht sein, dass der Kerl ständig etwas darauf nachlas. Immer weiter sank Pauls Hoffnung. Der Professor wich aus. Er wollte nichts sagen, weil es keine gute Antwort war – nicht die, auf die er hoffte. Die Chance, vor der er gesprochen hatte, gab es nur auf diesen Papieren.
„Professor?“, fragte Paul verhalten nach. Dieses Schweigen war furchtbar. „Wie viel Hoffnung bleibt mir?“
„Im besten Fall steht die Chance 30:70, dass Sie danach mehr sehen als jetzt. Wir konnten bisher nicht sicher feststellen, ob und wie stark die Netzhaut verletzt ist.“
Paul seufzte enttäuscht. Doch kurz darauf hob er dennoch hoffnungsvoll den Kopf. Dreißig Prozent waren ein Anfang! Falls er es nicht machte, wären seine Chancen gleich null. Das hatte das vergangene Jahr seit dem Unfall gezeigt.
„Allerdings muss Ihnen klar sein, dass wenn wir jetzt operieren und es nicht klappt, dieses Ergebnis endgültig sein wird.“
„Was heißt das?“
Paul war irritiert. Besorgt drehte er sich in die Richtung, wo Alan neben ihm saß. Hastig ließ der seine Hand los und legte stattdessen einen Arm um Pauls Schultern. Vermutlich wollte Alan ihn so beruhigen. Der Erfolg war jedoch minimal.
„Wir müssen davon ausgehen, dass, sollte die OP keine Besserung bringen … es nach dem derzeitigen Stand der Technik keine anderen Möglichkeiten mehr gibt.“
Ein Schauer lief Paul über den Rücken, doch seine Stimme war fest, als er antwortete: „Also gibt es nur diese eine Chance oder gar keine.“
Er hörte, wie der Professor einmal tief Luft holte, bevor er fortfuhr. „Die Gefahr ist hoch, dass bei einem Misserfolg durch die OP weitere Schäden verursacht werden, die es ohne diese nicht geben würde.“
„Und das heißt?“, hakte diesmal Alan nach.
„Scheitert diese Operation, wird auch in Zukunft keine weitere mehr Sinn machen, da das Auge in diesem Fall wahrscheinlich irreparabel geschädigt ist.“
Paul verstand nicht und runzelte die Stirn. „Aber falls die OP scheitert, bleibe ich doch so oder so blind. Und Sie haben gesagt, dass es keine anderen Optionen gibt, wenn ich wieder sehen will.“
„Es werden noch immer ständig neue Operationstechniken auf diesem Gebiet entwickelt. Neue Möglichkeiten. In einigen Jahren besteht vielleicht eine deutlich bessere Erfolgsaussicht. Vorausgesetzt das Auge hat bis dahin keine weiteren Schäden genommen.“
Betreten sank Paul in sich zusammen und kämpfte darum, zu verstehen, was der Professor ihm sagte. Wenn er sich jetzt operieren ließ, hatte er eine dreißigprozentige Chance, dass er danach zumindest etwas sah. Und siebzig Prozent Wahrscheinlichkeit, dass er für immer blind bleiben würde.
Pauls Hände verkrampften sich in den Stoff seiner Hose. Er wollte sehen! Bei allem Tagtäglichen kam er nach inzwischen gut einem Jahr der Blindheit und dank Alans Hilfe klar, aber es ging ihm nicht mehr um diesen Alltag. Paul spürte, wie die Hand an seiner Schulter ihn näher zu Alan heranzog. Der Gedanke, dass er diesen niemals sehen würde, zog Paul die Eingeweide zusammen.
‚Was gibt es da zu überlegen?!‘
Paul wischte sich über die Stirn. Wenn er diese Operation nicht machte, würde er mit quasi einhundertprozentiger Sicherheit blind bleiben. In diesem Fall gab es maximal die vage Hoffnung, dass sich seine Chancen in einigen Jahren, womöglich Jahrzehnten verbesserten. Was brachte ihm diese Zeit? Derweil konnte so viel passieren. Alan hatte dann vielleicht längst die Nase voll von ihm und seiner Unsicherheit. Warten schien keine wirkliche Option zu sein.
„Sie sollten auch nicht vergessen, dass jede Operation an sich ein Risiko birgt. Ohne die genauen Schäden zu kennen, kann ich Ihnen nicht sagen, wie lange sie dauern wird. Je länger es dauert, desto höher sind auch die Risiken bezüglich der Narkose“, erklärte der Professor weiter.
Paul sackte in sich zusammen. ‚Na toll! Jetzt droht dir nicht nur die immerwährende Dunkelheit, ohne jede Hoffnung auf Besserung, sondern sogar der Tod.‘
„Denken Sie erst einmal in Ruhe darüber nach.“
Betrübt nickte Paul. Alans Arm lag beruhigend über seiner Schulter. Am liebsten hätte er sich einfach in diese Arme fallen lassen, die ihm während des letzten halben Jahres immer wieder neue Stärke geschenkt hatten. Paul war mit so viel Hoffnung hergekommen. Doch mit einem Mal fühlte sich alles so sinnlos an.
Die letzten Worte des Professors klangen, als würde der ihm sagen, er solle es lassen. Und wenn selbst dieser Fachmann, von dem Alan und André behauptet hatten, dass er einer der besten Augenchirurgen des Landes war, Zweifel hatte, welche Chancen gab es dann wirklich?
„Ich … Das werde ich machen“, antwortete Paul leise und erhob sich. „Gehen wir.“
Er schwankte leicht, als er nach Alan tastete. Endlich bekam er dessen Pullover zu fassen und fühlte sich sofort besser. Doch die Worte des Professors hallten weiter in ihm nach. Alle Möglichkeiten eingerechnet hatte er nicht einmal dreißig Prozent Heilungschancen und dafür das Risiko im allerschlimmsten Fall sogar draufzugehen.
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Alan dankte dem Professor ebenfalls und der nickte dem jungen Arzt mit einem schiefen Lächeln zu, von dem der nicht wusste, ob es aufmunternd oder entschuldigend sein sollte. Paul merkte von all dem nicht. Vielleicht wäre es ihm andernfalls leichter gefallen, daran zu glauben, dass der Professor lediglich sein Bestes im Sinn hatte. Und dass der Mann neben ihm vom Urteil seines Kollegen genauso enttäuscht war wie Paul.
Schweigend liefen die beiden den Gang des Krankenhauses entlang. Alan hatte ihre Jacken über dem Arm. Paul hielt sich weiter an dessen Pullover fest, den verdunkelten Blick auf den Boden gerichtet. Alan konnte sowohl sehen, als auch spüren, dass dieses Gespräch Paul näher gegangen war, als dieser gewollt hatte.
Sicher, sie waren beide mit einer gewissen Hoffnung hergekommen, aber Paul hatte vermutlich mehr davon gehabt als Alan. Der traurige Blick seines Freundes traf ihn dennoch tiefer ins Herz, als ihm lieb war.
„Willst du einen Kaffee?“, fragte er zögerlich, schlicht um irgendetwas zu sagen.
Paul schüttelte den Kopf. „Ich möchte in mein Zimmer zurück.“
Alan nickte und hielt seinen Freund kurz an um ihre Sachen zu sortieren. „Deine Jacke, dreh dich um.“
Automatisch gehorchte Paul der Aufforderung. Als er die Ärmellöcher an seinen Händen spürte, fuhr er hinein und schob sich die Jacke allein über die Schultern. Während Alan sich ebenfalls anzog, sah er, wie Paul nach dem Reißverschluss tastete. Ein weiteres kurzes Tasten und dann hatte er ihn zusammen. Selbst das Zuziehen erfolgte inzwischen wie automatisch, als hätte er es schon immer so gemacht.
Vor einem halben Jahr wäre es beinahe undenkbar gewesen, dass Paul überhaupt das Heim verließ. Heute sah man ihm die Unsicherheiten im Alltag kaum noch an. Für einen Moment war da Stolz, der in Alan aufflammte. Nicht, weil er seinen Teil zu dieser Entwicklung hatte beitragen können, sondern weil Paul es von sich aus geschafft hatte, aus dem dunklen Loch heraus zu kommen, in dem er gesteckt hatte. Umso niederschmetternder klang das Urteil des Professors, was die Chancen auf eine Heilung betrafen.
Nachdem sie beide warm verpackt waren, griff Alan nach Pauls Ellenbogen und legte ihn um seinen eigenen Arm, sodass dieser sich effektiv bei ihm einhaken konnte. Als Paul das zum ersten Mal versucht hatte, war es Alan noch extrem peinlich gewesen, so zusammen gesehen zu werden. Inzwischen war es normal und er hatte sich damit abgefunden, dass die Leute sie mitunter irritiert ansahen. Für Paul nahm Alan auch weitere unliebsame Blicke auf sich, denen er unter anderen Umständen lieber ausgewichen wäre.
Aber so war es einfacher, Paul zu führen. Der verweigerte den Blindenstock ja weiterhin vehement. Wahrscheinlich, weil er es als Eingeständnis sah, nie wieder etwas sehen zu können. Deshalb hatte Alan seine Gefühle beiseitegeschoben und sich stattdessen quasi als Pauls Blindenhund etabliert.
Letztendlich spielte es keine Rolle. Schließlich schämte Alan sich weder für seinen Freund noch für ihre Beziehung. Und die abschätzenden Blicke auf der Straße war er ja seit jeher gewohnt.
Das Schweigen hielt den Weg zum Auto über an. Selbst als sie wenige Minuten später in ebendiesem saßen, sagte Paul noch immer kein Wort. Alan wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Natürlich wollte er, dass sein Freund endlich glücklich wurde. Etwas, das er alleine schlicht nicht erreichen konnte. Pauls größter Wunsch war es, wieder zu sehen. Und erst, wenn er dieses Ziel erreicht hatte, wäre er wirklich zufrieden – und womöglich kam damit auch das ‚glücklich‘.
Der Gedanke, dass Paul dafür im schlimmsten Fall sein Leben aufs Spiel setzte, drehte Alan den Magen allerdings um. Als Arzt müsste er mit diesen Situationen umgehen können. Müsste. Sollte. Wollte er jedoch nicht. Nicht wenn es um Paul ging. So sehr Alan diesen glücklich sehen wollte, das mögliche Ergebnis war in seinen eigenen Augen das Risiko nicht wert – und die Chance auf Erfolg vor allem zu gering.
„Geht es dir gut?“, fragte Alan vorsichtig und etwas besorgt darüber, dass Paul wie ein Häufchen Elend auf dem Beifahrersitz hing, nachdem er losgefahren war.
Dieser nickte leicht, antwortete aber nicht. Alans Sorge wurde größer. Es war eine blöde Idee von André, Paul von diesem Professor zu erzählte. Jetzt, ein Jahr nach dem Unfall, der ihn sein Augenlicht und seine Familie gekostet hatte, war Paul endlich auf einem guten Weg mit seinem neuen Leben klarzukommen.
So oder so hätte Alan Pauls Hoffnungen etwas dämpfen sollen, bevor sie herkamen. Paul war schon die ganzen letzten Tage mit einem Grinsen im Gesicht herumgelaufen. Jeder hatte sehen können, wie sehr er sich auf eine positive Antwort des Professors gefreut hatte – wie sicher er war, diese zu bekommen.
‚Du hättest ihn bremsen müssen‘, beharrte die nervige Stimme in Alans Kopf, die stets so verdammt vernünftig sein wollte.
Ja, vielleicht hätte er das tun sollen. Denn jetzt schien Pauls ganze Hoffnung mit einem Schlag in so weite Ferne gerückt zu sein. In den Monaten, die sie sich inzwischen kannten, hatte Alan schnell gelernt, dass seinen Freund aufzumuntern ein Job war, der ihm nicht immer leicht fiel.
Zu oft gab es Tage, an denen Paul nicht einmal darüber nachdenken wollte, wie seine Zukunft aussehen könnte. Dann war es für jeden schwer, an ihn heranzukommen. Zwar hatte ihre Beziehung in letzter Zeit Paul etwas offener werden lassen, was seine Umgebung anbelangte, aber noch immer zog der sich nur zu gern in sein Schneckenhaus zurück.
Trotzdem hatte Alan es als positive Entwicklung gewertet, dass es Paul allmählich besser gelang, ihm gegenüber seine Emotionen offen zu zeigen. Selbst wenn das größte dieser Gefühle die Hoffnung war, jemals seine Sehfähigkeit zurückzubekommen – oder zumindest einen Teil davon.
„Du solltest es dir wirklich gut überlegen“, meinte Alan verhalten.
Paul antwortete nicht, saß nur zusammengesunken in seinem Sitz und starrte stur geradeaus, als könnte er dort etwas erkennen. Manchmal wirkte es auf Alan, als wolle Paul sich und allen anderen zeigen, wie es sein würde, wenn er endlich nicht mehr in dieser Dunkelheit eingeschlossen wäre.
„Du kommst doch inzwischen gut zurecht“, fügte Alan etwas leiser hinzu, ohne dass es ihm klar war, was er damit unbewusst ausdrückte.
„Du meinst, ich sollte es nicht machen?“
Alan schluckte. So direkt hatte er das nicht sagen wollen, aber es war unbestreitbar, dass er nicht böse wäre, wenn Paul das Risiko vermied. Er wollte ihn auf keinen Fall verlieren.
„Das musst du entscheiden“, antwortete Alan dennoch lediglich ausweichend.
Als er an einer Ampel hielt, sah er vorsichtig zu Paul hinüber. Er wollte so sehr, dass dieser endlich wieder wirklich lebte, anstatt im Heim die Tage einfach nur an sich vorbei streichen zu lassen. Dass er unbekümmert in eine Zukunft blicken konnte. Eine, die sie gemeinsam bestreiten würden. Es schmerzte Alan förmlich, dass er dieses Ziel scheinbar nicht aus eigener Kraft erreichte. Würde Paul denn jemals zufrieden sein können, falls er die Operation in Kauf nahm und es doch schiefging?
Obwohl Alan es ungern zugab, so hatte er vor allem Angst, dass ein Fehlerschlag Pauls Psyche weiter anschlagen würde. Über die unweigerlichen Risiken einer jeden OP wollte er dabei nicht einmal nachdenken.
Alan hatte drei Monate gebraucht, damit Paul sich ihm gegenüber überhaupt ehrlich geöffnet hatte. Und auch wenn er schon lange nicht mehr Pauls behandelnder Arzt war, konnte er die Sorge darüber, dass der bei einem Fehlschlag womöglich doch noch in eine echte Depression verfallen würde nicht wegschieben.
„Warum starrst Du mich so an?“
Erschrocken zuckte Alan zusammen.
„Es ist grün“, fügte Paul wie beiläufig hinzu.
Erneut stutzte Alan und riss die Augen auf. Nervös sah er zur Ampel und tatsächlich war diese auf Grün gesprungen.
Woher wusste Paul das? Konnte er …? Nein, das war unmöglich! Wenn der Mann sehen könnte, würden sie doch nicht hier sitzen, hätten nicht eben diesen Professor aufgesucht, um sich Pauls Chancen ausrechnen zu lassen.
„Fahr endlich“, rief ebendieser erneut, inzwischen mit einem deutlichen Lachen in der Stimme.
Erst jetzt fiel Alan das nervende Hintergrundgeräusch auf, das vermutlich seit einer Weile zu hören war. Mist! Fast wäre er darauf reingefallen. Alan sah kurz auf die Ampel, die weiterhin in leuchtendem Grün erstrahlte und ihn verhöhnte.
Als er anfuhr, hörte das Hupen hinter ihm endlich auf.
„Woher wusstest du, dass ich dich angestarrt habe?“, fragte Alan zögerlich, nachdem er sich wieder auf den Verkehr konzentriert hatte.
Wie konnte er nur so unaufmerksam sein? Dabei hatte er sich doch vorgenommen, gerade beim Autofahren immer extra vorsichtig zu sein, damit Paul keine Angst haben musste. Paul fuhr seit dem Unfall ungern Auto, das hatte sich nicht geändert. Obwohl er, wenn Alan am Lenkrad saß, inzwischen vergleichsweise entspannt auf dem Beifahrersitz hockte.
Trotzdem würde Alan dieses Vertrauen auf keinen Fall aufs Spiel sitzen, indem er unaufmerksam war und sich womöglich von der Straße ablenken ließ.
„Gut geraten.“
Es klang gelogen, doch Alan traute sich nicht, nachzufragen. Wieder trat Schweigen ein. Gern hätte er gefragt, was Paul denn für eine Meinung zu dieser Operation hatte, aber er hielt sich vorsorglich zurück.
Die Sache musste gut durchdacht sein. Auf keinen Fall wollte Alan, dass Paul sich irgendwie bedrängt fühlte. Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn sie beide erst einmal auf andere Gedanken kamen. So würde Paul nicht die ganze Zeit darüber nachgrübeln und am Ende eine falsche Entscheidung treffen.
Während Alan versuchte herauszufinden, wie er seinen Freund ablenken konnte, erreichten sie das Pflegeheim, in dem der noch immer wohnte.
Zwar hatte Alan ihm angeboten, dass er versuchen würde, einen Platz in einer Blindenwohngruppe für Paul zu bekommen, doch der hatte abgelehnt. Bei der Vehemenz, die in dieser Diskussion an den Tag gelegt worden war, hatte Alan anschließend darauf verzichtet, seine eigene Wohnung als Alternative anzubieten. Diese Ablehnung wollte er sich nicht antun.
Bisher konnte Paul sich offenbar nicht mit der Endgültigkeit seiner Situation abfinden. Selbst wenn er für Alans Hilfe garantiert dankbar war, akzeptiere er sie nur so weit, wie sie ihm in den wichtigsten Dingen des Alltags unabhängiger machte. Nach einigem guten Zureden hatte der Heimleiter allerdings zugestimmt, dass Paul unter Aufsicht ab und an außerhalb des Heims übernachten konnte.
Nachdem Alan Pauls Wunsch, mit ihm zu schlafen, nachgekommen war und sich für die Beziehung zu dem jungen Mann entschieden hatte, war ihm die Kündigung im Heim nicht schwergefallen. Der Heimleiter war natürlich nicht begeistert gewesen, seinen Therapeuten zu verlieren, aber er hatte es verstanden. Seitdem arbeitete Alan nur noch in der psychiatrischen Tagesklinik, in der er vorher schon stundenweise beschäftigt gewesen war.
„Musst du heute auf Arbeit?“, fragte Paul verhalten, während Alan ihm aus dem Auto half.
„Nein, ich habe mir freigenommen.“
Und eigentlich hatte Alan gehofft, dass sie am Abend eine gute Nachricht feiern konnten. Das fügte er allerdings vorsorglich nicht hinzu. Er ahnte, dass Paul wohl eher würde allein sein wollen, um sich seiner neu aufflammenden Resignation zu ergeben.
„Können wir heute Abend weggehen?“, fuhr Paul jedoch lächelnd fort.
Verwundert runzelte Alan die Stirn, wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
„Ich würde gern den Kopf etwas freibekommen.“
Völlig überfahren von Pauls unerwarteter Reaktion, nickte Alan hastig, bevor ihm klar wurde, dass sein Freund das nicht sah. „Sicher! Wo … wo willst du denn hin?“
Paul schwieg, sah aus, als würde er überlegen. Er erklomm inzwischen ohne Hilfe die acht Stufen hinauf bis zum Haupteingang seines ‚Zuhauses‘ – selbst wenn er es zumindest Alan gegenüber ungern so bezeichnete.
„Rush-Inn?“
Glücklich, weil Paul scheinbar doch weniger von den eher negativen Nachrichten getroffen zu sein schien, stimmte Alan eilig zu. Sie würden sich einen schönen Abend machen und nicht darüber nachdenken, was der Professor gesagt hatte. Leider war ihre Verabredung zu spontan, als dass Paul bei ihm hätte übernachten können, aber das würden sie in den nächsten Tagen nachholen.
„Wann kannst du mich abholen?“
‚Was?‘
Alan runzelte die Stirn. Wieso denn ‚abholen‘? Er konnte doch hier bei Paul bleiben und sie anschließend direkt fahren.
Als hätte er Alans Gedanken erraten, fuhr der fort: „Ich möchte etwas allein sein. Wie wär’s gegen sieben Uhr?“
Was sollte das bedeuten? Warum schickte Paul ihn ausgerechnet jetzt fort? Müssen sie nicht wenigstens noch etwas über die Sache reden?
„Keine Angst. Ich komme klar.“
Ja, davon war Alan überzeugt, die Frage war, wie gut Paul klarkam. „Okay“, antwortete er dennoch heiser, darum bemüht die Enttäuschung aus seiner Stimme herauszuhalten.
In gewohnter Umgebung brauchte Paul schon lange keine Hilfe mehr. Trotzdem machte Alan sich Sorgen. Nicht darüber, ob der es bis in sein Zimmer schaffen würde wohlgemerkt. Nachdenklich sah er seinem Freund nach, wie der ohne ein weiteres Wort im Inneren des Gebäudes verschwand.
Etwas schnitt Alan dabei in den Magen, das er nur schwer definieren konnte. Es war kein real greifbares Gefühl. Der Gedanke, dass er Paul irgendwann nicht mehr so würde nachsehen könnten, stieg in ihm auf und erfasste Alans Herz mit kalter Hand. Die Vorstellung allein war schmerzhafter, als er befürchtet hatte.
Er wollte Paul nicht verlieren. Egal, wie groß dessen Traum danach wieder sehen zu können war. Jedes Mal, wenn sein Freund diesen Wunsch äußerte, überschwappte Alan ein Gefühl, als würde er sich dadurch ein Stück weiter von ihm entfernen. Und jetzt würde Paul womöglich ein lebensgefährliches Risiko eingehen, um sich seinen Traum zu erfüllen.
Alans Blick hing noch immer auf der Eingangstür zum Heim. Dies war längst zugegangen und so starrte er effektiv ins Leere. Ein Nichts, vor der Alan zunehmend Angst bekam. Er wollte Paul um keinen Preis verlieren, aber genau das würde womöglich passieren, falls der sich operieren ließ. Selbst wenn der Eingriff erfolgreich war. Etwas in ihm flüsterte Alan unaufhörlich zu, dass er Paul dann erst Recht würde aufgeben müssen.
Hatte er überhaupt eine Chance, ihn zu halten?