Teil 4 – Lichterweihnacht
Kapitel 20 – Neue Erwartungen
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Alan war aufgeregt, vermutlich nervöser als Paul es sein musste. Zumindest fühlte es sich für ihn selbst so an. Beunruhigt sah er zu dem jungen Mann hinüber, der neben ihm in einem der Wartestühle saß. Der weiße Verband um die rechte Seite von Pauls Kopf ließ die wuscheligen blonden Haare auf der anderen noch wilder aussehen.
Paul selbst wirkte gelassen – aber nur auf den ersten Blick. Die Hände lagen in seinem Schoß, zu Fäusten geballt. Sie waren das einzige Anzeichen dafür, dass Alans Freund sich unheimlich beherrschen musste, um nicht nervös herum zu zappeln. In dem Versuch, ihn zu beruhigen, legte Alan eine Hand auf Pauls Unterarm.
Sofort zeigte sich in dessen Gesicht ein zaghaftes Lächeln, das Alan ebenfalls Ruhe zurückgab. Zwar konnte es seine eigene Nervosität nicht vertreiben, aber es ging hier nicht um ihn, sondern um Paul. Deshalb würde Alan alles tun, damit der sich etwas besser fühlte. Wie er selbst sich dabei fühlte, war im Moment ohnehin zweitrangig.
Schlagartig stieg in Alan die Erinnerung an den Tag der Operation wieder auf. Eine Woche war es inzwischen her, dass er hilflos zugesehen hatte, wie Schwester Monika Paul in die Schleuse zum OP gefahren hatte. Das letzte Mal, als seine Hände so geschwitzt hatten, war der Tag von Alans Abschlussprüfung an der Uni gewesen. Noch immer lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, während die Bilder dieses Tages zurückkehrten:
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Seit einer Stunde wartete Alan auf Nachrichten aus dem Operationssaal. Da es noch immer keine Neuigkeiten gab, beschloss er, sich in dem kleinen Küchenbereich einen Kaffee zu holen. Das Zeug schmeckte gar nicht so schlecht für Krankenhauskaffee – besser als der Mist, den sie an seinem aktuellen Arbeitsplatz ausschenkten.
Plötzlich hörte er Schritte und rannte sofort aus der Küche zurück zum Wartebereich. Gerade kam dort eine junge Schwester, die er nicht kannte aus Richtung der Operationssäle und sah sich suchend um. Sie sah kaum älter aus als 17, vielleicht war sie noch Schwesternschülerin. Sie trug aber normale Stations- und keine Operationskleidung. Außer Alan wartete scheinbar niemand auf einen Angehörigen, deshalb sah er sie fragend an.
Als sie ihn entdeckte, zuckte sie zurück. Regelrecht verzweifelt, versuchte Alan freundlich zu lächeln und sah kurz darauf die etwas ungeübte Maske der Professionalität in den Augen des Mädchens Gestalt annehmen. Sie lächelte nervös zurück, während sie auf ihn zu trat.
„Sie gehören zu Herrn Feldmann?“
Alan nickte – versuchte, das ängstliche Zittern zu unterdrücken, das sich in ihm breitmachte. Die Schwester vermittelte nicht den Eindruck, als wäre der Eingriff erfolgreich verlaufen. Langsam aber stetig fühlte er sein Herz, zusammen mit Pauls ganzen Hoffnungen sinken.
„Es tut mir leid“, sagte sie leise.
Alans Welt war mit einem Schlag komplett aus den Fugen geraten. Erstaunlich wie viel vier so kleine Worte auslösten. Er spürte, wie seine Beine drohten unter ihm nachzugeben. Alles Blut sackte mit einem Mal aus seinem Kopf. Es fühlte sich an, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen. Es wäre in Alans Augen nicht verwunderlich, wenn sein Herz in diesem Moment aufgehört hatte zu schlagen. Nein, es hätte sich sogar richtiger angefühlt als die Tatsache, dass dieser stoische und so emotionslose Muskel unerbittlich weiterhin Blut durch seinen Körper pumpte – obwohl es doch in diesem Moment in seiner Brust hätte zerspringen müssen.
Das heftige Zittern, das Alan die ganze Zeit schon bedroht hatte, geriet außer Kontrolle. Er fühlte, wie die Muskeln in seinen Beinen zucken, wie die Panik sein Herz erfasste – sein Verstand versuchte alle anderen möglichen Ursachen für diese vier furchterregenden Worte durchzugehen. Die Chance, dass Paul etwas während des Eingriffs passierte, war zwar immer präsent aber nie realistisch gewesen – nicht für Alan, nicht für Paul, für keinen von ihnen. Er presste die rechte Hand gegen die Brust, versuchte den Schmerz, der sich darin auszubreiten begann zurückzudrängen.
Nur im Augenwinkel sah die Augen der Schwester größer werden, während sie hastig auf ihn zutrat. „Oh, Gott, nein! Nein! Entschuldigen Sie!“, presste das Mädchen hervor, berührte Alan ängstlich am Arm. „Ich wollte Ihnen doch nur sagen, dass es länger dauert und ich Ihnen ausrichten soll, dass Sie nicht mehr hier zu warten brauchen.“
Gefühlte Äonen vergingen, bis ihre Worte sich zu Alans Verstand vorgearbeitet hatten: „Was?“
„Die Operation wird leider länger dauern als erwartet. Herr Feldmann musste in Vollnarkose gelegt werden“, erklärte sie hastig, doch Alan konnte nach diesen Worten ebenso wenig aufatmen. Unbarmherzig drückten das kalte Stahlfinger sein Herz weiter zusammen. „Professor Martin meinte, ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie nicht hier zu warten brauchen. Sobald die Operation zu Ende ist, werden wir Sie informieren. Er kann nicht sagen, wie lange es noch dauern wird.“
Alan atmete tief durch und nickte. Er wagte es nicht, zu fragen wie es um den Erfolg des Eingriffes stand. Zumindest hatten sie bisher nicht abgebrochen, das hieß, es bestand weiterhin Hoffnung. Aber ihm war klar, dass es offensichtlich nicht den optimalen Verlauf genommen hatte, den der Professor erhofft hatte – genau wie Paul und er selbst.
Unfähig sich zu bewegen stand Alan im Wartebereich und sah der jungen Schwester hinterher, während diese wieder verschwand. Was sollte er jetzt tun?
Von hier zu verschwinden, kam nicht infrage. Alan war zu aufgeregt und hätte ohnehin nicht gewusst, wo er gehen könnte. Noch immer ängstlich und verunsichert zog er sein Handy hervor und starrte auf den schwarzen Bildschirm. Schließlich entsperrte er es und rief den einzigen Menschen an, von dem er wusste, dass er ihm sagen konnte, was er tun sollte.
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Die Tür öffnete sich und Alan fühlte, wie Paul neben ihm zusammenzuckte. Sofort war seine Aufmerksamkeit zurück in der Gegenwart. Die Stunden, in denen er um Paul gebangt und für ihn gehofft hatte, wurden gedanklich beiseitegeschoben. Erwartungsvoll sah Alan zu dem älteren Herrn hinauf, der lächelnd auf sie zutrat.
„Herr Feldmann, Doktor Koch. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?“
Alan nickte und Paul gab ebenso ein etwas abgehacktes, aber dennoch ehrliches Nicken zum Besten.
„Gut, sehr gut. Irgendwelche Probleme mit Ihrem Auge?“
„Nein“, würgte Paul mehr heraus, als dass er antwortete. Alan lächelte leicht und schüttelte ebenfalls den Kopf. „Es … ich bin etwas aufgeregt.“
Alans Grinsen wurde breiter. ‚Aufgeregt‘ war reichlich untertrieben. Schon seit gestern Abend hibbelte Paul nervös hin und her.
Bisher hatte der sich in Alans Wohnung erstaunlich schnell zurechtgefunden gehabt. Aber vergangene Nacht hatte er es geschafft, mindestens zehn Mal gegen den gleichen Stuhl zu laufen und hinzufallen. Irgendwann hatte Paul entnervt für den Rest des Abends aufgegeben sich irgendwo hinzubegeben und sich stattdessen im Bett verkrochen. Wo Alan ihn kurz darauf gefunden hatte. Zwar konnte er Paul dort nicht beruhigen, aber doch zumindest ablenken.
„Das kann ich sehen“, antwortete der Professor und bei dessen Grinsen wurde sogar Alan stellvertretend für seinen Freund etwas rot. „Dann wollen Sie sicherlich keine Zeit damit verbringen, einen alten Mann mit Small Talk zu langweilen.“
Schlagartig stieg Alans Respekt und Sympathie gegenüber dem Professor. Aber vermutlich hätte der schon selbst blind sein müssen, um nicht zu sehen, dass jede weitere Verzögerung Paul unweigerlich in die Verzweiflung getrieben hätte. So war dieser sofort entspannter und atmete erleichtert auf. Ein Lächeln voller Vorfreude breitete sich auf diesen wunderbaren Lippen aus.
Schnell wandte Alan sich ab und versuchte, nicht daran zu denken, was eben jene Lippen letzte Nacht aus ihm gemacht hatten, nachdem Paul sich erst einmal beruhigt hatte. Gott, was würden die wohl anstellen, wenn sie endlich direkt sahen, was Paul mit jeder Berührung bei ihm auslöste.
Der Gedanke brachte aber einen weiteren mit sich. Alans alte Angst kam wieder hoch, wie Paul reagieren würde, wenn er ihn zum ersten Mal sah. Er schluckte und versuchte, sich erneut auf ihre aktuelle Situation zu konzentrieren.
Sie waren für Paul hier.
„Dann kommen Sie bitte mit. Hier ist es zu hell. Ich habe einen Untersuchungsraum abdunkeln lassen. Dort können wir den Verband abnehmen und sehen … nun ja, ob Sie etwas sehen.“
Paul schluckte und nickte unisono mit Alan. Dann standen sie alle drei auf und der Professor führte sie ein paar Räume weiter und schloss sorgfältig die Tür hinter ihnen. Es waren dunkle, schwere Vorhänge vor dem Fenster zugezogen und statt der Deckenbeleuchtung hatte jemand eine kleine Lampe angeschaltet, die ein warmes orangenes Licht in den Raum abgab. Es dauert zwei, drei Sekunden, bis Alans eigene Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten.
Er führte Paul zu einem Untersuchungsstuhl und half ihm, hinaufzusteigen, damit er sich setzen konnte. Nachdem er zurücktreten wollte, hielt Paul Alans Hand jedoch weiterhin fest umklammert.
„Schon gut, ich bleibe hier“, flüsterte er, trat jedochneben den Stuhl, um dem Professor Platz zu geben.
Dieser rollte mit einem kleinen fahrbaren Hocker vor Paul und legte dem beruhigend seine Hände auf die Knie.
„Ich werde jetzt erst einmal den Verband lösen“, erklärte Professor Martin mit leiser Stimme. „Ich möchte, dass Sie Ihre Augen zunächst geschlossen halten, Her Feldmann. Haben Sie das verstanden?“
Paul nickte, unfähig etwas zu antworten, dafür war die Aufregung inzwischen zu groß. Seine Hand schloss sich fester um Alans. Die Stunde der Wahrheit war da – für sie alle.
Vorsichtig schnitt der Professor mit einer Verbandsschere durch den Mullstoff an Pauls Stirn. Nachdem der größte Teil davon aufgeschnitten war, ließ sich der Rest leicht abziehen.
„Noch zulassen“, murmelte der alternde Arzt, während er Pauls Augenlid zucken sah.
Sofort drückte dieser beide Augen fest zu. Zunächst entsorgte der Professor das Verbandsmaterial in einem Mülleimer und drehte auf dem Weg zurück das Licht der kleinen Lampe ein weiteres Stück herunter, sodass es fast komplett dunkel in dem Raum wurde. Dann rollte er zu seinem Patienten.
„Also gut, Herr Feldmann. Sind Sie bereit?“
„Nein …“, gab Paul mit zitternder Stimme zu. „Aber ich will es jetzt endlich wissen.“
Alle drei grinsten. Schließlich nickte der Professor. „Gut. Ganz vorsichtig aufmachen. Wenn Ihnen etwas weh tut, das Licht noch zu hell ist oder sonst irgendetwas … warten Sie ab und geben Sie mir Bescheid.“
Paul nickte erneut und fing zögerlich an, beide Augen zu öffnen. Gespannt wartete Alan und ertrug den immer fester werdenden Griff um seine Hand stoisch – obwohl es allmählich anfing, schmerzhaft zu werden. Nachdem beide Augen offen waren und Paul direkt auf den Professor sah, merkte Alan, wie sich der Griff um seine Hand löste. Sein eigener Blick war starr auf Paul gerichtet. Er sah es seinem Freund an, bevor der ein Wort sagte.
Sie waren gescheitert.
Professor Martin sah Paul die Enttäuschung ebenso an und griff sogleich nach einigen Instrumenten, die die Schwestern vorsorglich bereitgelegt hatten. „Ist es genauso dunkel wie vor der OP oder merken Sie einen Unterschied.“
Paul schluckte, vermutlich um die aufsteigenden, peinlichen Tränen zu unterdrücken. Mutlos zuckte er mit den Schultern: „Ich bin nicht sicher.“
„Schließen Sie kurz das rechte Auge und öffnen Sie es anschließend wieder“, wies der Professor ihn an.
Paul gehorchte.
„Ist es ein Unterschied, ob das Auge offen oder zu ist?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht ist es etwas grauer, wenn es offen ist. Nicht ganz so schwarz.“
Der Professor lächelte verhalten. „Gut. Gut. Das ist ein Anfang.“
„Wie meinen Sie das?“, mischte sich Alan ein, darum bemüht seine Stimme ruhig und neutral zu halten.
„Das Auge arbeitet. Lassen Sie mich noch etwas versuchen. Schließen Sie Ihr Auge erneut“, sagte er zu Paul.
Der tat wie ihm geheißen.
Professor Martin rollte zu der kleinen Lampe hinüber und drehte sie weiter auf, sodass das Licht zwar weiterhin gedimmt, aber doch deutlich heller als eben war. Anschließend kehrte er erneut zu Paul zurück und erklärte dem, er solle seine Augen wieder aufmachen.
„Es ist … brauner jetzt. Denke ich“, murmelte der etwas verwirrt.
„Sehr gut!“
„Sehr gut?“, keuchte Paul. „Ich kann immer noch nichts sehen!“
Mit einem mitleidigen Lächeln auf den Lippen klopfte der Professor ihm auf beide Beine und ergriff anschließend seine Hände – wodurch er eine davon Alan entzog. Paul war sichtlich nicht begeistert – die Enttäuschung über ihren Fehlschlag stand ihm nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Herr Feldmann. Sie waren jetzt ein Jahr lang blind. Ihr Auge muss überhaupt erst einmal wieder lernen, was es heißt, zu sehen. Ihr Hirn muss verstehen, dass es Signale bekommt.“
Alan horchte auf: „Sie meinen, es wird besser werden?“
Der Professor zuckte derweil mit den Schultern und da er noch immer Pauls Hände festhielt, konnte der das fühlen. Er sank weiter in sich zusammen.
„Das kann ich Ihnen nicht versprechen. Aber entscheidend für mich ist im Augenblick, dass es einen Unterschied für Sie gibt. Sie nehmen zumindest einen Teil des ...“
Plötzlich öffnete jemand die Tür und unterbrach den Professor. Paul zuckte mit einem Schrei vor Schmerz zusammen, nachdem ihm etwas heftig in sein rechtes Auge stach. Instinktiv riss er seine Hand los und hielt sie vor das Gesicht.
„Raus!“, herrschte der Professor die junge Schwester ruppig an, die sofort umdrehte und schnell die Tür wieder schloss. „Alles in Ordnung?“, fragte er mit einem Stirnrunzeln an Paul gewandt.
„Nein“, keuchte der unter Schmerzen. „Es tut furchtbar weh!“
Schnell lehnte Alan sich weiter herunter und hielt Pauls Schultern, während der Professor hastig zu einem Schrank rollte und mit frischem Verbandsmaterial zurückkehrte.
„Ich werde Ihr Auge erneut verbinden“, erklärte er. „Es scheint aktuell noch überlastet zu sein und das helle Licht aus dem Flur hat den Sehnerv zusätzlich gereizt. Aber auch wenn es schmerzhaft war, es bestätigt meine Vermutung, dass die Operation nicht so erfolglos war, wie es momentan für Sie aussehen mag.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Alan erneut nach, da Paul offenbar mit den Schmerzen in seinem Kopf beschäftigt war.
„Nun, ich denke, dass Herr Feldmanns noch etwas mehr Zeit braucht. Normalerweise geben wir dem Auge zwei bis drei Wochen Schonung, wobei bei den meisten Leuten keine Abdeckung des Auges in dieser Zeit notwendig ist. Aber ich möchte, dass Sie für mindestens eine weitere Woche kein Licht an das Auge lassen.“
Paul runzelte die Stirn, während der Professor zügig den Verband anlegte.
„Nächste Woche versuchen wir es erneut und ich bin recht zuversichtlich, dass Sie dann etwas mehr sehen werden. Wie viel Verbesserung wir uns in dieser und in den darauffolgenden Wochen zusätzlich erhoffen können, kann ich Ihnen allerdings nicht sagen.“
„Aber es gibt noch Hoffnung“, stellte Paul mit einem zögerlichen Lächeln fest. Der Gedanke allein machte die Schmerzen zumindest etwas erträglicher.
„Davon bin ich absolut überzeugt.“ Der Professor lächelte und wandte sich anschließend an Alan: „Auch wenn der Verband schützt, versuchen Sie ihn aus der Sonne oder direktem Licht ins Auge herauszuhalten.“
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Alan versicherte, dass er drauf achten würde, und half Paul aufzustehen. Dem schmerzte sein rechtes Auge zwar extrem, doch allmählich wurde es erträglich. Trotzdem der Professor versucht hatte, seine Hoffnung nicht zu zerstören, war Paul enttäuscht. Und das sah man ihm vermutlich an, denn Alans Arme schlangen sich fest um seine Schultern, während der ihn aus dem Untersuchungsraum raus und den Gang der Klinik entlang in Richtung Ausgang leitete.
„Ich hatte so sehr gehofft …“, murmelte Paul und sprach es damit doch aus.
„Du hast ihn gehört“, beeilte Alan sich, ihm Mut zuzusprechen. „Es wird besser werden.“
Trotzdem schüttelte Paul den Kopf. „Nein, es wird vielleicht besser werden, aber … womöglich auch nicht.“
Alans Lippen in seinen Haaren fühlten sich für Paul vertraut an. Die trübe Stimmung konnten sie jedoch nicht aufhellen. Es war dumm gewesen, so sehr zu hoffen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass die Chance auf Heilung nur bei dreißig Prozent lag.
„Ich hab halt einfach kein Glück“, krächzte Paul heiser, während sich die Tränen kaum zurückhalten ließen.
Sofort stoppte Alan und drehte ihn zu sich herum. Diese warmen und inzwischen so vertrauten Arme legten sich um seine Schultern, zogen Paul in eine feste und dennoch liebevolle Umarmung. Im Gegenzug klammerte er sich an Alans Oberkörper, der ihn in den letzten Wochen und Monaten immer wieder Kraft gespendet hatte.
Alan hatte ihm so oft eine Stabilität gegeben, die Paul seit dem Unfall vor über einem Jahr nicht mehr alleine fand. Doch im Augenblick schien selbst das zu wenig zu sein.
„Denk nicht so etwas“, flüsterte Alan.
Aber Paul zuckte mit den Schultern. Wann hatte er denn das letzte Mal Glück gehabt? Seine Eltern waren tot. Seine kleine Schwester ebenso. Jannik hatte ihn verlassen und seine Großeltern wollten nichts mehr von ihm wissen.
„Hey… du lebst“, gab Alan mit sanfter Stimme zu bedenken.
Paul ließ sich gegen seinen Freund fallen. Irgendwie hatte der ja recht damit. Während der Unfall drei Leben gekostet hatte, war seins verschont worden. Doch seitdem musste er diese ewig anhaltende Dunkelheit ertragen. Paul verstärkte seinen Griff um Alans Oberkörper.
Da war dieser unverkennbare Duft, der ebendiesen stetig zu umgeben schien. Kein Parfum, kein Aftershave. Nur Alan. Auch wenn Paul es nicht hätte beschreiben konnte. Er wünschte, er könnte ihn ständig um sich haben. Noch viel mehr wünschte er sich, er könnte das endlich sagen – und Alan dabei in die Augen sehen.
„Du hast recht – immerhin habe ich dich“, flüsterte Paul kaum hörbar. Er versuchte zu lächeln, während er sein Gesicht in dem weichen Pullover vergrub. „Ich habe überlebt und ich habe dich …“
Damit war sein Glück nach dem Unfall aber offenbar aufgebraucht.