Kapitel 16 – Andere Selbstsicht
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„Wie meinst Du das?“, fragte Paul irritiert zurück. „Wieso sollte mir da etwas nicht gefallen?“
Aber Alan schwieg. Innerlich fluchend verdammte er sich dafür, dass er mal wieder seine Klappe nicht gehalten hatte. Ein Problem, von dem er eigentlich geglaubt hatte, dass er es schon vor Jahren hinter sich gelassen hatte.
Dabei wollte Alan nichts mehr, als Paul diese drei Worte zu sagen, die er doch vor einigen Stunden André gegenüber auch hatte zugeben können. Aber jetzt, wo er hier saß, wirkten sie zu groß. Lächerlich übertrieben, nach gerade einmal einem halben Jahr.
Rick und André hatten ihm gesagt, er müsste mit Paul reden. Aber das hatte Alan nicht unbedingt heute tun wollen. Und schon gar nicht hier, in aller Öffentlichkeit. Jetzt war der erste Schritt jedoch bereits getan. Also spielte es letztlich keine Rolle mehr, oder?
„Ich …“, stammelte Alan in dem Versuch, sich zu erklären – nur um direkt wieder abzubrechen. Nein, es war der falsche Zeitpunkt. Nicht hier, nicht so! „Vergiss es bitte, Paul. Ist ... nicht so wichtig.“
„Nein!“, zischte der zurück, während er sich von Alan wegschob. Seine Stimme klang wütend. Die kraus gezogene Stirn sprach auch nicht gerade für Verständnis. „Ich möchte wissen, was Du damit gemeint hast!“
Alan schloss die Augen und wünschte sich, er könnte die Zeit wenigstens für zwei Minuten zurückdrehen. Er schluckte und griff anschließend doch nach Pauls Hand.
„So, wie ich es gesagt habe“, antwortete Alan heiser. „Du sagst, Du willst mich sehen können. Aber was wird passiert, wenn ich nicht so bin, wie du es dir vorstellst.“
Sofort schüttelte Paul den Kopf: „Ich stelle mir gar nichts vor, Alan. Ich will doch nur …“
Er stockte und wandte den blinden Blick zur Seite. Eine Gewohnheit, die Alan inzwischen nur zu gut kannte. Wie aufs Stichwort vertiefte sich die Furche auf Pauls Stirn, während er die Unterlippe zwischen die Zähne zog und begann, leicht darauf zu kauen. Unsicherheit. Sorge. Angst. Es war alles da, Alan konnte es viel zu gut sehen.
In seinem eigenen Bauch zog die Kälte schon wieder die Eingeweide zusammen. Ein Teil von ihm hatte gehofft, dass Paul sofort vehement widersprechen würde. Dabei war dem realistischen Part von Anfang an klar gewesen, dass es sich nicht leugnen ließ. Die Angst war nicht so unbegründet, wie André und Rick ihn hatten glauben machen wollen.
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Paul hingegen verstand überhaupt nicht, wie Alan auf diese Idee kam. Letztendlich bedeutete seine Aussage doch, dass es da etwas gab, von dem Alan sicher glaubte, es würde Paul abschrecken. Allerdings konnte der sich nicht vorstellen, was das sein sollte.
Die letzten Wochen und Monate hatten ihm so einige Gelegenheiten gegeben, den Körper seines Freundes zumindest mit den Fingern und Händen zu erkunden. Alan war groß, sicherlich über 1,90 Meter und dazu recht muskulös. Meistens war er glatt rasiert, sodass die Stoppeln im Gesicht selten kratzten. Da war kein Pelz auf der Brust. Die Nase war größer, als Pauls eigene, vielleicht etwas schief, aber genau hätte er das nicht sagen können. Keine Brille, keine versteckten Piercings. Nicht, dass eines davon ihn abgeschreckt hätte.
Paul war sich sicher, dass seine Hände jeden Zentimeter von Alan erkundet und keinerlei unregelmäßigen Linien darauf gefunden hatten. Solche, die dafürgesprochen hätten, dass da irgendwelche Narben wären. Der einzige ‚Beschädigte‘ Körper in ihrer Beziehung war eindeutig Pauls. Also wieso sollte Alan sich deshalb sorgen?
Der Gedanke war merkwürdig und ein Stück weit beunruhigend, weil Paul sich nichts vorstellen konnte, was seine Meinung zu Alan ändern würde. Aber ebender tat das offensichtlich. Genug, um sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen. Oder schätzte er Paul schlicht so oberflächlich ein?
Ein unangenehmes Flattern wanderte durch dessen Magen, als ihm klar wurde, dass die Einschätzung früher durchaus ins Schwarze zugetroffen hätte – vor dem Unfall. Wer es nicht über Pauls erste, optische Hürde schaffte, hatte bei ihm auf Granit gebissen. Vielleicht wäre Alans Sorge da tatsächlich berechtigt gewesen. Aber diese Zeit war vorbei. Er war anders und Alan war schließlich nicht irgendein Unbekannter.
„Es tut mir leid“, riss dieser Paul aus seinen Gedanken.
Überrascht hob er den Kopf, drehte ihn ein Stück zur Seite, um Alan über den Lärm im Rush-Inn besser hören zu können. Wie lange hatte er schon geschwiegen? War er dabei das hier alles noch schlimmer zu machen?
„Vergiss es bitte einfach. Wir wollten den heutigen Abend doch genießen, ohne über diese Sache zu reden.“
Paul nickte stumm. Er sollte etwas sagen, Alan beruhigen. Aber dessen Worte hatten Spuren hinterlassen, die Paul den Hals abschnürten. Was wusste er denn wirklich über den Mann, den er seinen Freund nannte?
Sie bemühten sich beide danach das Thema der Operation und alles, was damit zusammenhing zu umgehen. Aber leider Gottes hing ihr ganzes Leben an dieser verdammten Frage. Und so kam kein wirkliches Gespräch mehr auf. Nach zwei Stunden gaben sie auf und Alan bezahlte bei Torin ihre Getränke.
Irgendwie war das nicht er Abend gewesen, wie Paul ihn sich vorgestellt hatte. Anstatt ihm die Sicherheit zu geben, dass seine Entscheidung richtig war, gab es da plötzlich Zweifel, wo keine sein sollten.
‚Da kann nichts sein‘, sagte Paul sich, als sie die kleine Kneipe verließen. ‚Und selbst wenn ...‘
Welchen Unterschied würde es machen? Es war nicht Alans Körper, in den er sich verliebt hatte. Also gab es auch keinen Grund, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Das musste er Alan nur klarmachen.
Auf dem Weg zurück zum Wagen hakte sich Paul nicht bei seinem Freund ein. Der versuchte zunächst protestieren, doch da griff Paul stattdessen nach Alans Arm und legte ihn sich um die Schulter. Seinen eigenen Arm schlang er derweil um Alans Taille.
Ein Lächeln wanderte über Pauls Lippen, als er sich vorstellte, wie sie so tatsächlich Arm in Arm aussehen würden. Doch in seiner Vorstellung war da schon wieder dieser graue verschwommene Fleck – genau dort, wo Alan sein müsste. Paul war sich sicher, dass es an seinen Gefühlen nichts ändern würde, wenn er nicht da wäre. Er würde Alan deshalb nicht mehr oder weniger lieben. Aber er wollte, dass dieser Fleck ein Bild war. Mehr als je zuvor.
Ohne ein weiteres Wort liefen sie zum Auto und schweigend fuhren sie zurück zum Heim. Die Stimmung blieb entsprechend trübe und keiner von beiden wusste, wie er sie auflockern sollte. Paul war trotzdem nicht bereit, den Abend aufzugeben. Alan hatte das letzte halbe Jahr darum gekämpft, dass er sich endlich etwas öffnete. Warum war er es jetzt selbst, der sich seinerseits vor Paul verschloss?
Er verstand es nicht, und es machte ihm zu schaffen, dass er nicht einmal kapierte, weshalb er es nicht begriff. Allmählich hatte Paul das Gefühl, als hätte sein Hirn Knoten bekommen bei dem Versuch dahinterzukommen, was in ihm selbst und in Alan vorging. Womöglich würde er es schlicht nie verstehen, weil er nicht den vollen Einblick in alles hatte.
Innerlich lachte Paul kurz hämisch auf. ‚Einblick…‘, den könnte er jetzt echt gebrauchen. ‚Ein Blick‘ würde reichen, um das zu erkennen, was er so unbedingt sehen wollte. Aber der war ihm ja nicht vergönnt. Jedenfalls bisher nicht.
„Kommst Du noch mit rein?“, fragte Paul verhalten, als sie vor dem Pflegeheim hielten. Keine Antwort. Bevor die zu einer Ablehnung werden konnte, setzte Paul nach: „Bitte!“
Erneut zögerte Alan, antwortete nicht sofort. Doch dann kam das erhoffte: „Okay.“
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Im Heim brauchte Paul seine Hilfe nicht. Einmal mehr wurde Alan bewusst, wie wichtig genau das für ihn in den letzten Monaten allerdings geworden war. Er hatte diesen Beruf einst gewählt, weil er Menschen helfen wollte. Aber bei Paul hatte das eine völlig andere Dimension angenommen. Für ihn würde er alles tun, ihm alles geben. Egal in welcher Hinsicht und egal um welchen Preis. Wenn Paul wieder sehen konnte, würde er ihn dann noch brauchen?
‚Das ist jämmerlich‘, ermahnte Alan sich selbst. Trotzdem war da diese leise, gefährliche Frage, was er Paul denn würde bieten können, wenn der ihn nicht mehr brauchte.
Womöglich hatte André ja recht und ihre Beziehung krankte noch immer an ihrer Entstehungsgeschichte. Hätte Paul Alan nicht vor einigen Monaten förmlich angefleht, mit ihm zu schlafen, wären sie bis heute nur Patient und Arzt. Dann würde er hier arbeiten und Paul inzwischen nur noch in ihren Sitzungen sehen. Alan selbst hätte nie den ersten Schritt gewagt, aus Angst, dass es das bisschen an Beziehung und vor allem Pauls Fortschritte, die er gemacht hatte, zerstören würde.
Alan schüttelte den Kopf. Nein, es war alles genau so, wie es sein sollte. Trotzdem hatte André recht. Er musste endlich anfangen, sich selbst von der Vorstellung zu lösen, dass nur er Paul das geben konnte, was dieser brauchte. Seine eigenen Gefühle dabei waren ohnehin zweitrangig.
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Paul ließ die Tür zu seinem Zimmer offen, sodass Alan ihm folgen konnte. Genau genommen setzte er sogar darauf, dass das passieren würde. Schließlich hatte er Alan nur deshalb gebeten, mit raufzukommen. Zu seinem Zimmer hätte Paul inzwischen auch alleine gefunden. Dafür brauchte er keine Hilfe mehr. So lange sich ihm in den Gängen des Heimes niemand bewusst vor ihn stellte, würde Paul immer seinen Weg finden – egal wohin er wollte.
Jedenfalls den physischen. Denn emotional sah es im Augenblick ganz anders aus. Genau dafür benötigte er Alan. Paul brauchte die Sicherheit, dass sein Freund für ihn da sein würde. Aber womöglich war es notwendig, dass er zur Abwechslung auch mal ein Stück dieser Gewissheit zurückgab.
Zugegeben, er verstand nicht, warum Alan Angst davor hatte, dass ihm irgendetwas nicht gefallen würde, sobald Paul ihm endlich in die Augen sehen konnte. Letztendlich spielte es allerdings keine Rolle, ob er die Gründe dafür nachvollziehen konnte. Er wollte Alan diese Angst nehmen.
Seine Blindheit hatte mehr als nur Pauls Alltag verändert, sondern auch ihn selbst. Früher wäre er vielleicht oberflächlich gewesen, hätte nach dem ersten Blick geurteilt und dieses Urteil niemals revidiert. Aber die Dunkelheit hatte ihn gelehrt, dass es nicht relevant war, was er sah, sondern das, was dahinter war.
Selbst wenn Pauls sehender Blick Alan vor einem Jahr tatsächlich abgelehnt hätte, seine blinden Augen taten es nicht. Und würden es auch nicht. Da war Paul sich absolut sicher.
Ein Klacken war zu hören, als Alan die Tür hinter sich schloss. Für einen Moment wartete Paul, was passieren würde, dann hörte er ein zweites Klicken, als Alan zusätzlich den Sperrriegel umlegte. Lächelnd drehte Paul sich um und zog die Augenbrauen hoch.
„Hast du noch Pläne?“, fragt er grinsend. Zielsicher trat er auf Alan zu.
Der zog Paul stattdessen zu sich heran und küsste ihn am Hals. „Immer“, antwortet er frech während seine Lippen sich am Ohr hinab über die Wange zu dessen Mund hinarbeiteten. „Aber ich glaube, heute ist kein guter Zeitpunkt …“
Paul lächelte und legte seine Arme um Alans Nacken um diesen zu einem weiteren Kuss herunter zu ziehen. „Du kannst nachher immer noch gehen.“ Als der den Kopf schüttelte, zog Paul gespielt beleidigt einen Schmollmund. „Schade …“
„Ja, sehr schade“, antwortete Alan, während er Paul fester an sich presste.
Der stemmte wie immer ungeniert seinen Schritt ein Stück weit nach vorn. Erstaunlich wie befreiend die Dunkelheit für einen eigentlich so schüchternen Menschen wie Paul sein konnte. War er vor nicht allzu langer Zeit noch von Komplexen über sein eigenes Äußeres gehemmt gewesen, spielte das inzwischen keine Rolle mehr. Jedenfalls nicht wenn er mit Alan zusammen war.
Womöglich war das der Grund, warum Paul so sicher war, dass ihn nichts an Alans Äußerem würde abschrecken können. Er hatte lange genug mit seiner eigenen ‚Beschädigung‘ gekämpft und es ausschließlich Alan zu verdanken, dass er diese inzwischen akzeptierte. Dass er sich nicht mehr versteckte. Jedenfalls nicht immer. Paul war nicht allein und es wurde Zeit, dass Alan begriff, dass das gleiche ebenso auf ihn zutraf.
„Bist du sicher?“, hauchte er erneut und spürte das Zittern in dem Körper, gegen den er weiterhin fest gepresst wurde. Sein Fels in seiner Brandung, ein Leuchtturm in Pauls Dunkelheit.
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Ganz allmählich entglitt Alan der Widerstand und machte immer deutlicher dem Verlangen den Weg frei. Allein Paul so zu halten ließ etwas in ihm aufbegehren, das sich zunächst in Alans Magen sammelte, dort einmal alles auf den Kopf stellte. Nur um sich anschließend weiter südwärts begab. Die Lippen, die leise Worte in sein Ohr flüsterten, nur um kurz darauf ihren Weg den Hals hinab zu seinem Adamsapfel zu suchen, taten ihr übriges.
Bevor es zu viel wurde, hatte er Paul jedoch an den Hüften gepackt und hochgehoben. Der schlang seine Beine um Alan und fand kurz darauf dessen Lippen für einen weiteren Kuss. Mehr stolpernd denn laufend, brachte Alan sie zum Bett, wo er Paul sofort ins Laken drückte.
„Nur ein paar Minuten?“, murmelte ebendieser grinsend.
Ungeduldiger, als er sein wollte, schob Alan die Finger unter Pauls Shirt und dieses damit weiter nach oben. Er konnte das Beben spüren, das durch Paul wanderte. Zweifellos das gleiche Verlangen, das durch ihn selbst tobte. Andernfalls wären da nicht die Beine, die wie so oft um Alans Hüften geschlungen wurden, um ihn an sich zu ziehen.
Er stöhnte und ließ die Stirn gegen die unter ihm liegende Schulter fallen. „Ich versuche hier, vernünftig zu sein, Paul …“
Doch dieser wollte augenscheinlich davon nichts wissen und zog Alans Kopf an dessen Haare nach oben, um erneut seinen Mund zu suchen. „Ich war noch nie sonderlich vernünftig. Und jetzt hör auf, immer so viel zu denken!“
Wie jedes Mal, gehorchte Alan umgehend auf das, was Paul von ihm verlangte. Denken war ohnehin überbewertet. Vernunft sowieso. Hätte Alan auf die gehört, dann wären sie nicht hier – jedenfalls nicht so. In dem Fall wären sie lediglich Patient und Arzt. Der Gedanke war geradezu unerträglich.
Also gab Alan dem Drängen und damit auch Paul nach. Womöglich würde es irgendwann helfen, diese irrationale Angst loszuwerden. In jedem Fall reichte es, um seinen Kopf auf wunderbare Weise zu leeren. Vergessen war das Gespräch im Rush-Inn, vergessen ebenso das vom Morgen in der Augenklinik. In diesem Moment war er schlicht glücklich und hoffte, dass Paul es auch war.
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Als sie später gemeinsam in seinem viel zu engem Bett lagen, ließ der Gedanke an das Gespräch vom Abend, Paul jedoch noch immer nicht los. Er lag mit dem Kopf auf Alans rechter Schulter – auch der Rest lag halb auf seinem Freund. Anders würden sie als zwei erwachsene Männer hier keinen Platz finden. Aber das hatte weder Paul noch Alan bisher gestört.
Gedankenverloren fuhr Paul mit der Hand über die breite Brust, hinauf zur Schulter, bis er Alans Kinn erreichte. Versonnen begann er mit dessen kinnlangen Haaren zu spielen. Als er die weichen Strähnen durch seine Hände gleiten ließ, wurde er ein ums andere Mal daran erinnert, dass eben diese genauso ein Grund waren, warum er Alan gern sehen würde. In Pauls Vorstellung passte der große, breit gebaute Kerl mit den unglaublich kräftigen Oberarmen so gar nicht zusammen mit dieser Mädchenfrisur.
„Warum hast Du eigentlich so lange Haare?“, fragte Paul, als das Verlangen nach einer Antwort auf diese Ungereimtheit mit einem Mal übermächtig zu werden schien.
Alan fuhr kurz zusammen, doch dann merkte Paul, wie dieser die Schultern zuckte. „Warum … fragst Du?“
„Ich weiß nicht, ich glaube sie passen nicht so ganz zu Dir. Denke ich“, antwortete er wahrheitsgemäß. Alan schwieg und wie so oft in letzter Zeit, fragte Paul sich, ob er einen wunden Punkt getroffen hatte.
Entweder hatte Alan inzwischen mehr davon, oder Paul schien sie immer zielsicherer zu treffen. Dabei wollte er nur gern verstehen, was in Alan vorging. Verletzten wollte er ihn sicherlich nicht. Aber je stärker Paul das versuchte, desto öfter blockte Alan ihn ab.
„Warum nicht?“, fragte ebendieser plötzlich.
Paul überlegte kurz und zuckte dann ebenfalls mit den Schultern. „Ich weiß nicht“, meinte er nachdenklich.
Er ließ erneut die Finger durch die langen, weichen Strähnen gleiten, die Alan vor allem vorn und an den Seiten über die Wangen bis zum Kinn zu hängen schienen. Hinten waren sie hingegen deutlich kürzer.
„Sie fallen dir so ins Gesicht … manchmal denke ich, Du versteckst Dich dahinter.“
Wieder zuckte Alan unter ihm zusammen, doch diesmal rappelte er sich zusätzlich auf und schickte sich an, aus dem Bett zu klettern. Irritiert setzte Paul sich auf und zog die Bettdecke über seinen Schoß.
„Tut mir leid“, rief Paul hastig. „Ich … ich wollte nicht …“
„Schon gut!“, antwortete Alan schnell. Es klang, als ob er lächelte, und trotzdem konnte Paul das nicht glauben. „Ich … sollte nur jetzt gehen. Du weißt doch, dass ich nicht über Nacht hier sein darf. Wenn jemand mein Auto vor dem Heim entdeckt, gibt es Ärger.“
Paul schwieg und lauschte den Geräuschen, wie Alan sich anzog. Es ging viel zu schnell, zu hastig und mit einem Mal stand der wieder vor ihm und hauchte Paul einen sanften Kuss auf die Lippen.
„Wenn ich was Falsches gesagt habe, dann lass uns drüber reden“, versuchte Paul es erneut.
„Unsinn!“, rief Alan und lachte kurz auf, aber Paul konnte hören, dass es nicht echt war. „Du hast doch nichts Falsches gesagt! Ich … muss nur jetzt los. Hab morgen gleich um acht einen Termin. Früh aufstehen. Und … Du weißt schon.“
Ja, Paul wusste nur zu gut. Er kannte dieses Verhalten von sich selbst genau. Alan rannte weg. Aber vor was? Davor, dass Paul gemeint hatte, er hätte manchmal das Gefühl, dieser würde sich hinter seinen Haaren verstecken? Das war doch albern!
„Alan, bitte …“
Der küsste Paul jedoch nur ein weiteres Mal und war denn bereits verschwunden. Betreten saß er auf seinem Bett und verstand nicht recht, was schiefgelaufen war. Eben waren sie trotz der beengten Situation selig. Und im nächsten Moment stürmte Alan fluchtartig aus dem Raum. Allmählich kapierte Paul überhaupt nicht mehr, was in seinem Freund vorging.
Aber es schmerzte ihn, und er hatte es satt sich zu quälen. Ständig versuchte er die Gefühle der Menschen um ihn herum zu erraten. Ohne sie sehen zu können, war das schlicht unmöglich. Er konnte das nicht.
Schon immer hatte Paul Probleme damit, anderen anzuhören, wie die sich fühlten. Er war stets einzig und allein nach ihren Blicken, ihren Gesten und ihrer Mimik gegangen. Jetzt wo das alles fehlte, hatte Paul immer mehr das Gefühl, als würde er nicht nur seiner Sehkraft beraubt durch diese Welt, sondern vor allem blind durch seine Beziehung zu Alan stolpern.
Hastig tastete er sich zum Nachttisch vor und drückte auf eine Taste an seinem Wecker. Sofort verkündete ihm eine knarzende elektronisch generierte Stimme, dass es zwei Uhr morgens war. Verdammt! Es war viel zu spät, dabei hätte er jetzt nur zu gern Ricky angerufen, um von dem endlich ein paar Antworten zu bekommen, die womöglich Alans Verhalten erklären konnten.
Bisher hatte Ricky sich zwar immer dezent aus der Affäre gezogen und gemeint, dass er sich da nicht einmischen würde. Aber im Gegensatz zu Paul konnte der sehen. Und womöglich würde er ihm einen Grund dafür liefern, warum Alan eben wegen eines so dummen Spruches quasi fluchtartig das Zimmer verlassen hatte.