Du bist Arthrax Sundergeer.
Das wärmende Feuer knistert leise. Funken tanzen in den Nachthimmel über deinem Kopf und vermischen sich mit den Sternen. Der Geruch des bratenden Fleisches steigt dir ähnlich zu Kopfe wie noch vor kurzem der Kräuterdampf der Wissenssammler. Dein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen und dir ist schwindelig. Hungrig schielst du zu den Fleischstücken, die Elred zum Trocknen auf einem großen Stein ausgebreitet hat. Sie sind noch immer zu frisch, um sie roh zu essen, aber da euch bis zu dem Wildschwein heute kein Jagdglück beschieden war, bist du nun in Versuchung.
Endlich erhebt sich Elred und nimmt den Spieß vom Feuer. Die beherrschte Maske des Elfen erhält erste Risse, als er mit bloßen Händen ein Stück vom heißen Wildschwein reißt und herzhaft hineinbeißt, während er dir mit der anderen Hand den schweren Spieß reicht. Ebenso ungeniert wie der Elf schlingst du das Fleisch herunter. Nie zuvor hast du etwas Köstlicheres gegessen, da bist du dir sicher.
Den angebissenen Spieß steckt Elred wieder über die Flammen, damit auch das Innere der Keule noch gebraten wird.
Obwohl du anfangs das Gefühl hattest, nie wieder satt werden zu können, kriegst du irgendwann keinen Bissen mehr herunter. Mit einem glücklichen Seufzer lehnst du dich zurück. Vollgefressen, gewärmt vom Feuer … fehlt nur noch eine Frau oder eine weiche Strohmatratze in der Sicherheit einer Kaserne in Kalynor, und du wärst rundum glücklich.
Dir gegenüber beginnt Elred, mit leiser Stimme zu singen. Im Rascheln der wenigen Bäume und im Knistern des Feuers gehen die Worte fast unter, doch das stört nicht – er singt in Elfisch, das du ohnehin nicht verstehst. Die Melodie ist klagend und sehnsuchtsvoll und scheint deinen Blick hinauf zu Sternen und Mond zu tragen.
„Atesh’o’Bajanin“, sagt Elred, als er geendet hat. „Feuer in Bajanin – die Ballade über den gewaltigen Brand, der einen uralten Heimatwald meiner Sippe vernichtete.“
„Hmm“, machst du unbestimmt. Deine Augen fallen zu.
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„Arthrax!“, ruft der Elf alarmiert.
Du zwingst die juckenden Augen auf und stemmst dich grunzend in die Höhe. Ihr seid kurz vor der Grenze zu Kalynor und noch lange nicht in Sicherheit. Selbst dieses Feuer in einer gut geschützten Senke könnte euch verraten.
Doch es ist nur eine Amsel, die im letzten Tageslicht zu Elred hüpft. An ihrem Bein ist ein längliches Papier befestigt, das Elred sofort entrollt. Du krabbelst um das Feuer herum zu ihm. „Von Brenna?“
„Sie schreiben, dass sie zwei Tagesreisen vor der Taverne sind“, liest Elred vor. „Jetzt sind es vermutlich nur noch anderthalb! Wir müssen uns beeilen.“
„Warte … meinst du wirklich?“
Elred springt auf. „Na los, Arthrax.“ Dann ruft der Elf laut: „Coritas!“
Sofort kommt sein Falbe aus dem Gebüsch getrottet und drückt den Kopf mit einem leichten Schnauben gegen Elred.
„Was steht in dem Brief?“, fragst du ängstlich. „Geht es ihnen gut? Warum müssen wir uns beeilen?“
„Truppenbewegungen“, murmelt Elred. „Sie haben gehört, dass das Gebiet hier abgesucht wird. Die Jenseitsvölker wollen vermutlich ihre Schöpfersteine zurück. Wir haben viel zu lange getrödelt! Komm schon, Arthrax!“ Elred sattelt sein Pferd mit fliegenden Fingern. „Nimm das Fleisch. Lösch das Feuer!“
Stolpernd tust du, was er dir befiehlt. In der Zwischenzeit fängt Elred dein Pferd ein.
„Es braucht dringend einen Namen, Arthrax“, sagt er streng, als er das Kaltblut endlich gesattelt hatte.
Brummend nimmst du die Zügel entgegen und gähnst. „Wollen wir wirklich heute noch weiter?“
„Du kannst gerne noch bleiben, wenn du Wert auf ein Treffen mit zornigen Orks legst“, sagt Elred spöttisch und schwingt sich in den Sattel. Deutlich weniger elegant kletterst du dein größeres Kaltblut hinauf. Mit schweren Schritten folgt es Elreds Falben.
„Atesh“, murmelst du und streichst über das feuerrote Fell des Tieres. Irgendwie findest du ihn passend.
Atesh scheint dir zuzustimmen. Er hebt und senkt den Kopf mit einem Schnauben, als wolle er nicken.
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Zwei Tage später. Dein Arsch scheint nur noch aus blutiger Masse zu bestehen. Die Pferde taumeln vor Müdigkeit. Selbst Elred verzeichnet inzwischen einen Sturz aus dem Sattel, weil er im Reiten eingeschlafen ist.
Endlich habt ihr die Grenze überschritten, nachdem der Elf euch in den letzten Tagen kreuz und quer durch das Unterholz gejagt hat, um Orkpatrouillen zu entgehen, die du inzwischen mit zunehmender Sicherheit für eine eingebildete Gefahr hältst. Ihr habt nicht den Hauch einer Spur von irgendwelchen Verfolgern zu Gesicht bekommen, was Elred als Beweis für seine geschickte Führung ansieht.
Du atmest erleichtert auf, als die kleine Taverne an der Kreuzung in Sicht kommt. Aus den Fenstern fällt warmes, goldenes Licht und verheißt dir Wärme, ein gutes Bier und Essen. Erst jetzt wird dir bewusst, wie durchfroren und hungrig du bist. Ihr habt die letzten Tage kaum zum Trinken gehalten, von einem Lagerfeuer konntest du nur träumen. Du bist noch immer durchnässt von dem Schauer, der vor wenigen Stunden niedergegangen ist.
Eure Pferde bocken, als ihr sie antreibt, bis sie frisches Heu wittern und ihre Schritte von selbst beschleunigen. Atesh hört nicht länger auf deine Befehle. Du kannst es dem Armen nicht verübeln.
Elred springt aus dem Sattel, als ihr kurz vor der Taverne seid. Du willst es ihm gleichtun, aber deine schmerzenden Beine gehorchen dir nicht. Die Muskeln protestieren, deine vor Kälte tauben Hände können dich nicht abfangen und du fällst auf den Boden.
Vor Wut und Erschöpfung möchtest du schreien. Doch dann hörst du am lauter werdenden Stimmengewirr, dass die Tavernentür geöffnet wurde. Du hebst den Blick, als du auch schon eine vertraute Stimme rufen hörst: „Sie sind es!“
Schneller, als deine Nerven den Schmerz wahrnehmen können, hast du ihn schon ignoriert, dich in die Höhe gestemmt und deine Schwester in den Arm genommen.
„Igitt, Arthrax, du bist voller Schlamm!“, beschwert sich Brenna, doch sie lässt dich nicht los. Genau wie für dich waren die letzten Wochen für sie eine Qual. Nie zuvor wart ihr länger als einige Tage getrennt.
Aus der Taverne treten Allyster und Aji zu euch. Der Junge hält sich steif an der Seite seines Meisters, statt zu euch zu laufen. Er trägt eine Kapuze, doch dir fällt sofort auf, dass seine Haare einen merkwürdigen Farbton haben. Lila?
„Was ist passiert?“
„Oh, das war einer der Schöpfersteine. Aji konnte ihn benutzen. Offenbar passiert das dann.“ Brenna lässt dich endlich los und umarmt Elred, wenn auch deutlich kürzer.
„Wie, benutzen?“
„Seine Magie entfesseln. Einige wenige Leute können das“, erklärt Brenna.
„Wir konnten die Steine auch benutzen!“, entfährt es dir. Dann bremst du dich. „Den Heilstein konnte nur ich nutzen.“
„Und den Zeitstein nur ich. Aber wir haben uns nicht verändert, möchte ich meinen“, sagt Elred. Neugierig sieht er Brenna an. „Ist das wirklich so selten?“
„Das ist es.“ Eine zweite Frauenstimme mischt sich in euer Gespräch. Im Türrahmen steht eine Frau, die du nicht kennst.
„Ah, darf ich euch Karja vorstellen?“, sagt Allyster. „Sie schloss sich uns auf der Mondsee an.“
„Eine Piratin!“, knurrst du.
Brenna legt dir beruhigend eine Hand vor die Brust. „Sie hat uns sehr geholfen und dafür ihr eigenes Leben dort aufgegeben. Sie ist eine von den Guten.“
Du blinzelst Karja immer noch misstrauisch an. Was, wenn sie deine Schwester und Allyster getäuscht hat?
Dann wiederum gibt es niemanden, der Allyster täuschen kann. Vorsichtig entspannst du dich.
„Kommt erst einmal rein.“ Brenna zieht dich an der Hand. „Ihr seid ja völlig durchfroren! Es ist zwar noch etwas früh, aber der Wirt kann sicherlich schon etwas zu Essen bringen.“
Hunger, Durst, Kälte und Müdigkeit hattest du in den letzten Minuten komplett vergessen. Die Freude über das Wiedersehen mit Brenna hat sie verdrängt. Doch noch während du Aji und Allyster begrüßt und Karja höflich die Hand gibst, spürst du den Schwindel wieder, das Nagen in deinen Eingeweiden, das Zittern deiner Glieder. Du fühlst dich, als würdest du sterben, wenn dir nicht bald etwas gebracht wird.
Am meisten freust du dich auf …
- … das Essen. Lies weiter in Kapitel 4.
[https://belletristica.com/de/books/9708/chapter/122389]
- … ein Bier. Lies weiter in Kapitel 5.
[https://belletristica.com/de/books/9708/chapter/122390]
- … den Kamin. Lies weiter in Kapitel 6.