Du bist Allyster der Sehende.
Mit einem weiten Bogen der freien Hand streichst du die Karte auf dem Tisch glatt. Ihr habt euch auf eines eurer Zimmer zurückgezogen, zum Glück gibt es hier einen Tisch und Stühle, wenngleich ihr zwei Stühle aus dem zweiten Zimmer hereinschleppen musstet.
„Stellt etwas auf die Ecken, bitte“, weist du den Rest der Söldner an. Arthrax nutzt seinen schmutzigen Bierkrug. Du schüttelst still den Kopf. Wie ein trotziges Kind! Da benimmt sich Aji ja noch erwachsener!
Als alle Ecken des Pergaments beschwert sind und sich die Karte nicht wieder zusammenrollen kann, verteilst du vier Goldmünzen auf dem Papier. Eine legst du über die Abbildung des Dunkelwaldes, eine über das Orkland, eine über Aak und die letzte über die Mondsee. „Das sind die Schöpfersteine, die wir bereits haben.“ Du zählst sieben weitere Münzen aus dem Beutel ab. „Wer hat die Liste der restlichen Standorte?“
Karja hüstelt. „Die Liste bin dann wohl ich.“
„Also?“ Du siehst sie erwartungsvoll an.
Die Piratin nimmt dir die Münzen aus der Hand und beugt sich über die Karte. „Am wichtigsten ist der Aventurin, der Stein der tausend Farben. Ihn hüten die Drachen im Feuerland.“ Sie platziert die Münze in der oberen linken Ecke der Karte. Von dort aus geht sie im Uhrzeigersinn weiter durch die Jenseitslande, die Kalynor umschließen: Der Selenit im Graumeer, der Eliath im Grasland von Oylen ja Bereenga, der Obsidianspiegel im Zwergenland Barkan‘dor, der Imperial in der Wüste von Galabad.
„Der Zirkon ist in Flutheim.“ Karja platziert die Münze zwischen dem Wald der Dunkelelfen und dem Orkland. „Dieser Stein wird uns womöglich am meisten Zeit kosten. Ihr habt die Steine aus je zwei Nachbarländern zu beiden Seiten, dadurch liegt der Stein in Flutheim isoliert. Alle anderen liegen mehr oder weniger auf dem Weg zu einem anderen Ort. Außer …“, sie platziert die letzte Münze auf dem Steinrund, direkt beim Feuerland, „außer dem Blutjaspis. Ich kann euch gar nicht genug davon abraten, in die Nähe des Feuerlands zu ziehen. Piraten, Orks oder Elfen mögt ihr bestehlen können, aber nicht die Drachenkaiser. Das ist zu riskant.“
„Da möchte ich widersprechen, oder zu mindestens einen Vorschlag unterbreiten“, mischst du dich ein. „Im Steinrund werden sie uns nicht erwarten. Wenn wir dort so bald wie möglich zuschlagen, könnten wir den Schöpferstein erlangen, ehe sie mit uns rechnen. Die Piraten sollten inzwischen herausgefunden haben, dass wir die Mondsee über Kaltmoor verlassen haben. Die Jenseitsvölker glauben sicher, dass wir uns nach Kalynor zurückgezogen haben. Jedenfalls erwarten sie uns im Südwesten. Sehr wahrscheinlich wird gerade der Schutz um Flutheim verstärkt.“
„Da könntest du recht haben“, sagt Karja nachdenklich, was dich ermutigt.
„Dann sollen wir ins Steinrund gehen?“, fragt Arthrax.
„Ich würde bei der Taktik mit zwei Teams bleiben“, fährst du fort. „Wir haben immerhin keine Zeit zu verlieren, und die Aufteilung bringt auch Vorteile mit sich. Ein Team zieht zum Steinrund und von dort aus am Feuerland entlang zum Graumeer. Am besten reist ihr durch den Tulpenhügel, die Hobbitlande gehören zu Kalynor.“
„Verwirrung“, sagt Brenna ruhig. „Tolle Taktik.“
„Und während die erste Gruppe dort ist, schlägt die andere auf der anderen Seite zu, im Südosten.“ Du tippst mit dem Finger auf Galabad und fährst über das Papier nach Barkan’dor.
„Dann treffen wir uns in Oylen ja Bereenga“, stellt Aji fest.
Du schüttelst den Kopf. „Das wäre vorhersehbar. Und zu gefährlich. Nein, vom Graumeer und von Barkan’dor aus treffen wir uns wieder hier.“
Entsetzte Blicke folgen deinem Finger zurück zu der kleinen eingezeichneten Hütte zwischen zwei Grenztürmen.
„Dann verlieren wir Wochen! Einen Monat!“, stammelt Karja.
„Und die Drachenkaiser glauben vielleicht, dass wir Flutheim und Oylen ja Bereenga vergessen haben“, stimmst du zu. „Und falls wir erwischt werden, hat jede Gruppe maximal vier, aber keine sieben Steine bei sich. Das hier ist Krieg. Wir dürfen nicht zu übermütig werden. Unser einziger Vorteil ist, dass sie nicht wissen, wo wir angreifen werden.“
„Und die Macht der Steine“, wirft Elred ein. „Ohne das Tigerauge wären wir tot.“
„Und wir wären tot ohne den Ametrin“, ruft Brenna dir ins Gedächtnis.
„Ja, die Steine.“ Du zieht den Ammoniten hervor und legst ihn auf den Tisch. „Zeigt eure her.“
Aji legt zögerlich den Ametrin neben das Fossil. Elred legt das Tigerauge und den Vesuvian dazu.
„Die Schöpfersteine.“ Mit glänzenden Augen beugt Karja sich vor und streckt die Hand aus. Du siehst, wie Arthrax sich anspannt, doch er hindert die Piratin nicht daran, die Steine zu berühren. „Ihr könnt sie wirklich nutzen?“
„Das Tigerauge hat für uns die Zeit verlangsamt“, antwortet Elred.
„Wer von euch trug ihn?“, fragt Karja sofort.
„Ich“, sagt der Elf.
„Dann bist du sein Träger. Einen Moment …“ Karja hält die Hände über den bernsteinfarbenen Stein und schließt die Augen. Sie murmelt etwas, das du nur halb verstehst. Die Worte ‚offenbare dein Herz‘ hörst du klar und deutlich.
Dann liegt das Tigerauge in Karjas zur Schale geformten Händen. Sie reicht ihn Elred. „Nimm ihn in die Hand.“
Der Elf zögert nur kurz, dann ergreift er den Stein. Kaum, dass seine Finger ihn berühren, leuchtet das Tigerauge golden auf. Elred zuckt zusammen.
„Der Stein reagiert auf dich“, erklärt Karja. „Nehmt ihn alle in die Hand, bitte.“
Ihr lasst das Tigerauge von Hand zu Hand wandern. Sobald er den Kontakt zu Elred verloren hat, erlischt der Stein. Er bleibt dunkel, während ihr ihn alle einmal haltet.
„Der Elf, und nur er aus unserer Runde, ist Träger des Steins.“ Karja schließt die Hände um den Stein und reicht ihn dann zurück. Diesmal bleibt das Tigerauge auch in Elreds Hand dunkel. Nur einen feinen, kaum merkbaren Glimmer erahnst du, jetzt, da du damit rechnest.
„Wie hast du das getan?“, fragst du sofort neugierig.
„Es ist keine Magie“, antwortet Karja. „Nicht in dem Sinne, wie du sie kennst, Kalynorer. Ich habe den Stein nur gebeten, sich zu zeigen. Hier, versuch es selbst.“ Sie drückt dir den Ametrin in die Hände. „Bitte ihn, sein Herz zu offenbaren.“
Du siehst auf den Stein, dann umschließt du ihn mit den Händen. „Offenbare dein Herz.“ Du reichst den Stein an Aji. Nichts geschieht.
„Aber …“
„Du musst mit dem Stein reden, nicht mit uns!“ Karja lacht. „Sonst fühlt der Ametrin sich nicht angesprochen.“
Unter den wachsamen Blicken deiner Kumpanen nimmst du den Stein wieder in die Hand und konzentrierst dich auf ihn. „Ametrin, offenbare uns dein Herz.“
Du spürst eine leichte Wärme an der Handfläche. Als Aji den Stein diesmal ergreift, leuchtet dieser in violettem Licht auf.
„Siehst du?“, fragt Karja und ergreift den Ametrin, um ihn wie das Tigerauge zuvor herumzureichen. Der Schimmer kehrt jedoch nicht zurück. Mit dem Vesuvian verfahrt ihr ebenso und der Stein leuchtet in Arthrax‘ Griff auf.
„Er hat dich vom Gift der Wissenssammler geheilt“, sagt Elred. „Ein weiterer Stein, dem wir unser Leben verdanken.“
„Wie bitte?“, fragt Brenna spitz. „Was habt ihr beiden getrieben?“
„Ähm …“, sagt Elred kleinlaut und weicht ihrem Blick aus.
„Arthrax war vergiftet?“, braust Brenna auf und gibt Elred eine Ohrfeige. „Du sollst auf ihn aufpassen!“
„Ich bin kein Kind mehr!“, beschwert sich Arthrax.
Du musst lachen. Brenna ebenfalls. Arthrax‘ Blick ist vernichtend.
Als letzten Stein bittet ihr den Ammoniten um sein Herz. Unvermittelt leuchtet das Fossil in Arthrax‘ Händen beige auf.
„Zwei Steine!“, haucht Karja ungläubig.
„Wieso kriegt er zwei?“, schimpft Brenna, in deren Griff der Stein erlischt. „Das ist unfair!“
„Was macht der Ammonit denn?“ Arthrax grinst wie ein Kind mit einer Tüte Honigwerk in den Händen.
Karja überlegt kurz. „Der Ammonit ist der Stein der Unsichtbarkeit.“
„Was?“ Arthrax‘ Grinsen verblasst. „Wieso kann er mich nicht stark machen?“
„Schlau wäre vielleicht besser“, giftet Brenna.
„Konzentriert euch!“, fährst du dazwischen. „Unsichtbarkeit ist eine hilfreiche Gabe auf unserer Mission. Lasst mich nur überlegen, wo wir ihn dringender brauchen.“
„Im Steinrund und im Graumeer“, entscheidet Karja entschlossen. „Wenn die Drachenkaiser euch nämlich sehen, ist es aus. Und der Ametrin wird euch dort auch von Nutzen sein, wenn ihr nicht als Menschenopfer enden wollt.“
„Du willst Arthrax und Aji in das gefährlichste Gebiet schicken?“, beschwert sich Brenna.
„Ich werde sie begleiten“, bestimmst du.
„Lasst mich doch –“, beginnt Karja, doch du schneidest ihr das Wort ab.
„Du musst mit Brenna und Elred gehen. Ihnen bleibt nur das Tigerauge, also brauchen sie zum Ausgleich dein Wissen.“
Karja macht eine kurze Pause, dann nickt sie. „Du hast Erfahrung, Magier. Aber mach dir keine Sorgen – ihr habt vier Schöpfersteine erlangt und alle vier haben euch ihre Macht verliehen. Ich will verdammt sein, wenn die restlichen Steine nicht auch für euch bestimmt sind.“
„Wirklich?“, fragst du erstaunt.
Karja nickt. „Wirklich. Das ist ein so aberwitziger Zufall, dass es schon unwahrscheinlich ist, wenn es nicht mehr unwahrscheinlich bleibt!“
Darauf schweigst du erst einmal. Ist es wirklich so ein Wunder, dass die Schöpfersteine euch dienen? Offensichtlich.
Nachdenklich starrst du auf die Karte und ein seltsames Gefühl bemächtigt sich deiner. Es scheint fast, als wäre diese Aufgabe speziell für euch bestimmt – nun, jedenfalls für einige von euch, soweit ihr wisst. Du hast nie an Schicksal oder Vorhersehung geglaubt, doch nun fühlst du dich wie gefangen in einem elaborierten, durchdachten Netz aus Wahrscheinlichkeiten, Zufällen und Lebenspfaden. Wie ein Spinnennetz bildet das Gewirr eine Spirale, die unaufhaltsam einer unbekannten Mitte zustrebt – dem Ende eurer Reise, an dem ihr hoffentlich Kalynor errettet habt.
„Dann ist es beschlossen. Wir stehlen die nächsten vier Steine, treffen uns wieder hier und suchen ihre Träger. Danach ziehen wir nach Flutheim und Oylen ja Bereenga.“
„Sind wir dann jetzt fertig?“, fragt Arthrax quengelig.
„Japp, lasst uns saufen!“, stimmt Brenna sofort zu und springt auf. Die beiden Kämpfer rennen förmlich aus dem Raum, um dir keine Chance zum Einspruch zu bieten. Karja und Elred tauschen einen Blick und flitzen hinterher.
„Aji!“, rufst du scharf, als der Junge ihnen folgen will. „Du bleibst hier und hilfst mir bei der Planung.“
„Was gibt es denn noch zu planen?“, mault Aji.
„Verpflegung, Marschrouten, Pläne für diverse Notfälle“, zählst du auf und bedeutest dem Kind, sich zu setzen.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf …
- … und Allyster plant mit Aji. Lies weiter bei Kapitel 10.
[https://belletristica.com/de/books/9708/chapter/122395]
- … und die Söldner folgen Karjas Vorschlag und feiern. Lies weiter bei Kapitel 8.
[https://belletristica.com/de/books/9708/chapter/122393]
- … und die Söldner folgen Elreds Vorschlag und schlafen. Lies weiter bei Kapitel 9, wenn du den Statuseffekt ‚Betrunken‘ nicht hast.
[https://belletristica.com/de/books/9708/chapter/122394]
- … und die Söldner folgen Elreds Vorschlag und schlafen. Lies weiter bei Kapitel 19, wenn du den Statuseffekt ‚Betrunken‘ hast.